' *--.tM •> rf LIBRARY OF THE UNIVERSITY OF CALIFORNIA. Class Philosophische Voraussetzungen der exakten Naturwissenschaften Von Dr. ERICH BECHER Privatdozent der Philosophic an der Universitat Bonn. Leipzig Verlag von Johann Ambrosius Barth 1907. Druck von Grimme & TrOmel in Leipzig. Vorwort. Den Inhalt der folgenden Darstellung bilden eine philosophi- sche Rechtfertigung und Deutung der Grundannahmen von Physik und Chemie. Diese Wissenschaften stehen auf dem Standpunkte einer realistischen Auffassung der AuBenwelt. Das gilt auch heute noch im groBen und ganzen, trotz der unleugbaren Fortschritte eines subjektivistischen Positivismus auf naturwissenschaftlichem Boden. Physik und Chemie fassen die AuBenwelt als korperlich auf, als zusammengesetzt aus elementaren Korperteilchen, aus Molekeln, Atomen, vielleicht zuletzt aus Elektronen. Die exakten Naturwissenschaften betrachten endlich alle kOrperlichen Vor- gange als Bewegungsvorgange, die sich an jenen elementaren Korperteilchen oder an ihren Komplexen abspielen. Die Annahme einer korperlichen AuBenwelt, die aus Molekeln, Atomen und Elek- tronen aufgebaut ist, und die damit auf das engste zusammen- hangende kinetische Naturauffassung sollen im folgenden erkennt- nistheoretischen Angriffen gegenuber verteidigt werden. Eine solche Verteidigung scheint mir sehr zeitgema'B. Denn die Angriffe auf die Grundanschauungen von Physik und Chemie sind weit vorgedrungen. HeiBsporne sprechen schon von Mole- kular- und Atomtheorie oder von den groBen kinetischen Hypo- thesen wie von einer abgetanen Sache. Aber wenn auch die groBe Mehrzahl der Phpsiker und Chemiker diese Theorien zu sehr zu wurdigen gelernt hat, um sie ohne weiteres beiseite zu schieben, so ist doch die Zahl der Forscher gewachsen, die alle Hypothesen zu Fiktionen degradieren mOchten. Diese Richtung ist vorsichtiger; aber damit scheint sie mir zugleich gefahrlicher zu sein. Ihr gegenuber suche ich durch eine logisch-methodo- logische Untersuchung iiber das Wesen der Hypothesen darzutun, daB sie das Ziel des wissenschaftlichen Denkens zu eng faBt. 182677 IV Vorwort. Vielleicht hat die hypothesenfeindliche Stimmung auf natur- wissenschaftlichem Boden den Kulminationspunkt bereits iiber- schritten. Die Stimmen mehren sich, die dem extremen Positivis- mus auf physikalisch-chemischen Gebieten entgegentreten. Es rnuBte auch seltsam zugehen, wenn es nicht der Fall ware in einer Zeit, die so iiberreich ist an neuen Erfahrungen, welche die ver- lockendsten Hypothesen geradezu aufdrangen; in einer Zeit, die nicht minder fruchtbar ist an uberzeugenden Bestatigungen friiherer kiihner Hypothesenbildungen. Indessen durch die Triumphe der physikalisch-chemischen Hypothesen wird der positivistische Gegner nur zuriickgedrangt, nicht entwaffnet. Sein Rustzeug ist eben in der Hauptsache der Philosophic entlehnt, vor allem der Erkenntnistheorie. Auf diesem Gebiete muB der Kampf ausgefochten werden. Auch die Argu- mente der hypothesenfeindlichen Physiker sind fast durchweg philosophisch. Es handelt sich ja nicht urn diese oder jene Hppo- these; iiber diese hat die Einzelwissenschaft zu richten. Das Prinzip der Hypothesenbildung und die letzten Grundauffassungen stehen in Frage. Daher ist eine erkenntnistheoretisch-methodo- logische Rechtfertigung der groBen Hypothesenbildungen von- noten. Eine solche kann aber nur gelingen, wenn jene Hypothesen- bildungen von jedem unniitzen Beiwerk befreit werden. Gerade dieses bietet dem Gegner die Angriffspunkte und verschafft ihm zugleich die Treffer. Ich habe mich daher bemiiht, den echten Kern aus der iiberflussigen Schale herauszuholen. So ergibt sich eine besondere Auffassung vom Wesen der grofien physikalisch- chemischen Hypothesen, eine Deutung der Grundannahmen der exakten Naturwissenschaften. Ich hoffe, daB die Deutung kein Hinzudichten, sondern nur eine Abwehr unno'tig enger Auffas- sungen ist. Dem Zweck der Schrift gema'B habe ich mich bemiiht, fur Naturwissenschaftler und fur Philosophen verstandlich zu schrei- ben. So wird dem einen dieser, dem andern jener Teil unnotig breit erscheinen. Daran konnte ich nichts andern. Auch in Bezug auf Literaturangaben wird der eine hier, der andere dort mehr oder weniger erwarten. Ein groBer Teil der Arbeit wurde fern von der Universitat geschrieben, wo mir Literatur nur schwer Vorwort. V zuganglich war. So war ich auf Notizen und Gedachtnis an- gewiesen; besonders in Bezug auf physikalische Zitate. Spater habe ich die meisten Angaben an der Originalliteratur kontrol- lieren konnen, da mir Professor Kayser die Benutzung der Bibliothek des Bonner phpsikalischen Institutes in dankenswerter Weise gestattete. Doch blieben mir einzelne wenige Stellen unzuganglich. Sie wurden mit Angaben bei anderen Autoren verglichen, so dafi auch sie zuverlassig sein durften. Viel ver- danke ich dem unten oft zitierten Buche Stallos trotz dem ent- gegengesetzten Standpunkte. Wenn die physikalischen Darle- gungen zuweilen einen individuellen Ton haben, der an meine Lehrer Kapser und Kaufmann erinnert, wird das kein Nach- teil sein. Der erkenntnistheoretische Standpunkt dieser Schrift beriihrt sich oft mit dem von Helmholtz trotz zahlreicher Ab- weichungen. Vielleicht ist die Einwirkung von Helmholtz auch teilweise eine indirekte, durch B. Erdmann vermittelte. Wie weit der EinfluB dieses meines verehrten Lehrers gent, kann ich unmo'g- lich feststellen oder gar durch Zitate dartun. W. Freytag, mein Lehrer und Kollege, wird vielleicht in den Erorterungen iiber die Aufienweltsfrage hier und da Gedanken und Formulierungen wiedererkennen, die in fruheren gemeinsamen Besprechungen er- wogen wurden. Mit Absicht habe ich manche bekannte Arbeiten in der Dar- stellung wenig beriicksichtigt, die den meinigen ahnliche Ziele verfolgen. So wird man sich vielleicht wundern, dafi ich auf L. Boltzmanns Verteidigung der Atomistik so wenig Bezug nehme. Die Verschiedenheit der Gesichtspunkte und die Furcht vor unno'tiger Breite waren hier wie in anderen Fallen fiir mich entscheidend. Mir scheint, der Leser ha'tte wenig Nutzen von den sich sonst notwendig ergebenden Diskussionen. Den von Boltzmann konstruierten Zusammenhang zwischen Atomistik und Infinitesimalrechnung z. B. kann ich aber auf keinen Fall ohne weiteres anerkennen. Bonn, im Februar 1907. Erich Becher. Inhalt. Selte I. Einleitung II. Der Wert der Hypothesen 11 III. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit und der Realitat der AuBenwelt 36 IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese 58 V. Der Charakter unserer Erkenntnisse iiber die AuBenwelt und deren allgemeinste Grundziige 101 VI. Der Korper 115 VII. Motive zur Bildung mechanischer Hppothesen: die mechanische Theorie des Schalles 135 VIII. Die Diskontinuitat der Materie 150 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung. TrSg- heit und Kraft. Fernwirkung. Ather 211 Namen-Register 244 I. Einleitung. Seit den Tagen Stevins, Fermats, Galileis und Des- cartes' befinden sich die sogenannten exakten Naturwissenschaften in stetig und schnell fortschreitender Entwicklung. Das von den genialen Naturforschern der Renaissance geschaffene Fundament dieser Disziplinen ist fest genug gewesen, das Gebaude zu tragen, welches die Jahrhunderte tiber ihm errichtet haben. Die starke Grundlage der neueren Physik besteht in der Mechanik. Die Schopfer der neueren Physik haben in der Mechanik mehr ^sehen, als eine phpsikalische Teildisziplin. Sie betrachteten sie als den Schliissel zur LOsung aller physikalischen Fragen. Die neuere Physik wurde als mechanische Physik ge- schaffen. Die Mechanik ist die Wissenschaft von der Bewegung (und der Ruhe, einem Spezialfall derselben). Als mechanische oder kinetische Naturauffassung haben wir die Ansicht zu bezeichnen, die in alien Naturvorgangen Bewegungsvorgange sieht. Die mechanische Physik betrachtet zunachst nur die im engeren Sinne physikalischen und phpsikalisch-chemischen Prozesse als wesentlich mecKanisch. Die Frage, ob auch die Erscheinungen des Lebens au? Bewegungsvorgange ho'chst zusammengesetzter Natur zuruckzufiihren seien, ist demnach vom Standpunkte der mechanischen Naturauffassung aus in bejahendem Sinne zu beantworten. Jie mechanistische Phpsik kann die Frage un- entschieden laccen. Das biologische Problem fallt nicht in ihr Gebiet. Von den oben genannten Forschern hat Descartes die Grundanschauung der mechanischen Physik mit dem grOBten Nachdruck ausgesprochen. Als Maxime lag sie jedoch dem Forschen seiner unmittelbaren Vorganger und Zeitgenossen auch da zugrunde, wo sie nicht ausdriicklich formuliert wurde. Be cher, Philosoph. V'oraussetzungen. 1 2 I. Einleitung. Alle materiellen Veranderungen sind nach Descartes von der Bewegung abhangig1). Mit dem Gedanken wird von Cartesius und den Cartesi- anern sofort voller Ernst gemacht. Spinoza bemiiht sich in seinem Gedankenaustausch mit Boyle2) in naiver Weise um eine mechanische Erklarung chemischer Vorgange. Dafi Hobbes, der Materialist, die mechanische Naturauf- fassung vertritt, braucht kaum erwahnt zu werden. Hupgens sieht in den optischen Erscheinungen periodische Bewegungs- vorgange, mechanische Schwingungen. In seinem Traktat iiber das Licht meint er, dafi alle Ursachen ,,durch mechanische Grunde" begriffen werden mtissen, wenn iiberhaupt ein physikalisches Verstandnis moglich sein soil3). Sein grofier Gegner Newton vervollkommnet eine andere mechanische Auffassung des Lichtes, die alte Emissionstheorie, so dafi Hup gens' Vorstellung in den Hintergrund gedrangt wird, bis das Sinken von Newtons Einflufi und neue Erfahrungen ihr zum Siege verhelfen. Newton und Leibniz schaffen in der Infi- nitesimalrechnung der Wissenschaft ein Werkzeug, dessen gewal- tige Leistungsfahigkeit auf physikalischem Gebiete sofort sich an mechanischen Problemen offenbart. Leibniz, der spiritualistische Metaphpsiker, ist begeisterter Anhanger der mechanischen Natur- auffassung. Sie erscheint ihm durch die Vernunft allein, nicht durch die Erfahrung geboten. Unter Anwendung der von ihm und Newton erfundenen neuen Rechnung gelangen franzb'sische Mathematiker und Phpsiker zu einer fortschreitenden Ausbildung der mechanistischen Phpsik, die glanzende Resultate aufweist. Die Einfiihrung mechanischer Vorstellungen in der Chemie be- ginnt mit der Erneuerung der Atomistik. Diese wirkt wiederum auf physikalische Disziplinen f5rdernd ein. An Gay-Lussacs Namen kniipft sich die Auffindung der Gasgesetze, die die Umbildung der Atomtheorie zur Molekulartheorie fordern. So x) ,,sed omnis materiae variatio, sive omnium eius formarum diversitas, pendet a motu." Descartes, Princ. Phil. II, 23. Oeuvres, publ. par Adam et Tannery, VIII, S. 52—53. 1905. 2) Im Briefwechsel mit Oldenburg. Brief IV u. folg. Ed. Vloten et Land, Opera II, S. 201 f. 2. Aufl. 1895. •) Hygenii Op. reliqua, Amst. 1728, vol. I. (Tract, de lumine), S. 2. I. Einleitung. 3 entsteht die physikalische Chemie auf mechanistisch-atomistischer Basis. Im weiteren Verlaufe des 19. Jahrhunderts feiert die molekulartheoretische Behandlung besonders auch der organi- schen Chemie ebenso schnelle wie glanzende Siege. Gleich- zeitig erstarkt auf phpsikalischem Gebiete die mechanische **Theorie der Warme der alien Black schen Substanztheorie ge- geniiber. Das Energieerhaltungsgesetz erscheint bei Helmholtz als Konsequenz der mechanischen Naturauffassung *). Auf das Erhaltungsprinzip als ersten ihrer Hauptsatze baut sich die Ther- modynamik auf. Die Anwendung der mechanischen Warmetheorie und der Molekulartheorie auf Case ergibt die kinetische Theorie derselben. — Schon lange hatte man die magnetischen und elektrischen Phanomene durch Bewegungen von Fliissigkeiten erklart. Faradaps Vorstellungen schienen den Mechanismus elektrischer Vorgange besser anzudeuten. Helmholtz2) nahm ') Helmholtz kommt eigentlich auf zwei getrennten Wegen zum Satz von der Erhaltung der Energie. ,,Die Herleitung der aufgestellten Satze kann von zwei Ausgangspunkten angegriffen werden, entweder von dem Satze, daB es nicht mOglich sein konne, durch die Wirkungen irgendeiner Kombination von Naturkorpern aufeinander in das Unbegrenzte Arbeitskraft zu gewinnen, oder von der Annahme, daB alle Wirkungen in der Natur zuriickzufiihren seien auf anziehende und abstoBende Krafte, deren Intensitat nur von der Entfernung der aufeinander wirkenden Punkte abhangt. DaB beide Satze identisch sind, ist im Anfang der Abhandlung selbst gezeigt worden." (Uber die Erhaltung der Kraft. Berlin 1847, S. 1.) Die beiden Ausgangspunkte werden aber so in Beziehung gesetzt, daB der Satz von der Unmoglichkeit der Gewinnung unbegrenzter Arbeitskraft als Konsequenz der zweiten Annahme erscheinen muB, welche die eigentliche Grundlage jeder physikalischen Deduktion bildet. ,,Es bestimmt sich also endlich die Auf- gabe der physikalischen Naturwissenschaften dahin, die Naturerscheinungen zuriickzufiihren auf unveranderliche, anziehende und abstoBende Krafte, deren Intensitat von der Entfernung abhangt. Die Losung dieser Aufgabe ist zu- gleich die Bedingung der vollstandigen Begreiflichkeit der Natur." (S. 6.) 2) On the modern development of Faraday's conception of electricity. The Faraday Lecture etc. Journal of the Chemical Society. Vol. XXXIX. Fur Helmholtz sind dabei die Vorgange ;bei der Elektrolyse maBgebend. Die durch die Zersetzung entstehenden lonen tragen bestimmte elektrische Quanta. Die Quanta werden an den Elektroden von den lonen, den che- mischen Atomen oder Atomkomplexen, abgegeben und mitssen dabei kurze Zeit selbstandig bestehen kOnnen. Die Valenzladungen sind demnach als elektrische Atome zu betrachten. Siehe hierzu die Ausfuhrung im vorletzten Kapitel. 1* 4 I. Einleitung. den Weberschen1) Gedanken einer atomistischen Konstitution der Elektrizitat auf, der in der sich entwickelnden Elektronen- theorie2) stetig an Bedeutung gewonnen hat. So stellt sich die gewaltige Ausbildung der exakten Natur- wissenschaft seit der Renaissance dar als eine fortschreitende Anwendung der kinetischen Auffassung auf alle Gebiete der Physik und Chemie. Dafi diese Auffassung heute die physikalischen Wissen- schaften beherrscht, beweist der Einblick in ein beliebiges Lehrbuch dieser Disziplinen. Eine Sammlung von Ausspriichen hervorragender Forscher der Gegenwart und jiingsten Ver- gangenheit, in denen die mechanische Auffassung vertreten wird, findet der Leser z. B. bei J. B. Stallo: ,,Die Begriffe und Theorien der modernen Physik"3). Auf Stallo s Ausfiihrungen in der Einleitung stiitzt sich das vorhergehende an einigen Stellen. Als Ideal, als Ziel jeder physikalischen Forschung erscheint uberall die Zuriickfiihrung aller physikalischen und chemischen Vorgange auf Bewegungsvorgange, eventuell auf Bewegungen von Molekeln und Atomen. 1st diese Zuriickfiihrung geleistet, so hat die Physik alles getan, was von ihr gefordert werden kann. Ein physikalischer Vorgang ist erklart, wenn sein Mecha- nismus, die zugrunde liegenden Bewegungen, erkannt sind. Natiirlich hat die mechanische Auffassung der Physik von vielen Seiten Widerspruch hervorgerufen. Sehen wir davon ab, dafi theologischer und metaphysischer Obereifer die mechanische Physik mit dem Materialismus zusammenwarf ! Lassen wir ferner solche Motive beiseite, wie sie Newtons mechanische Theorie des Lichtes fiir Goethe unannehmbar machten! Von selbst ver- steht es sich auch, dafi die groBen deutschen idealistischen Systeme des beginnenden 19. Jahrhunderts mit Verachtung auf die mechanischen Theorien herabblicken mufiten. Die Natur- x) Werke IV. Webers Anschauungen fanden nur wenig Zustimmung, weil sich die Elektrodynamik ohne hppothetische Vorstellungen durch Diffe- rentialgleichungen erledigen HeB. Helmholtz wies uberdies die Schwachen der Weberschen Elektrodynamik nach. 2) Die Bezeichnung Elektron fur das elektrische Elementarquantum oder Atom ruhrt von G. J. Stonep her. 8) Ubersetzt von H. Kleinpeter. Leipzig, 1901. I. Einleitung. 5 philosophen Schellingscher Richtung, d. h. die tonangebenden Naturforscher einer gewissen Zeit, konnten kein Verstandnis fur die ganz anders gearteten, von vollig verschiedenem Geiste zeugenden mechanisch-mathematischen Hypothesen der groBen Franzosen der Epoche haben. Auch Schopenhauer hatte unter dem Einflufi Goethes und des Milieus, in dem sein Denken herangereift war, einen heftigen Widerwillen gegen die franzO- sischen Physiker und ihre mechanisch - atomistischen Theorien bekommen, der sich bisweilen in kraftigen Schimpfworten Luft machte. Indessen die stolzen metaphysischen Systembauten sanken zusammen, und die mechanische Naturauffassung stieg im Ansehen urn so mehr, als jener Glanz verblafite. Zwar wuchs Schopen- hauer s Ruf, aber die naturwissenschaftlichen Kreise blieben im ganzen seinem Gefolge fern. Die kinetischen Theorien be- herrschten die Physik vollkommen. Erst in den letzten Jahrzehnten ist der mechanischen Physik ein neuer Gegner entstanden. Ein Gegner, der urn so drohender erscheinen mufi, als er mit den Waffen kampfen will, denen auch die mechanische Physik ihre Erfolge verdankt, der nicht auf dem Standpunkte metaphysischer Systeme, sondern auf dem der Erfahrung stehen will. Diesem neuen Feinde erscheint die mechanische Physik noch viel zu metaphysisch, zu hypothetisch, nicht empirisch genug. Die mechanisch - atomistische Physik, einst das Ideal der positivistisch denkenden franzo'sischen Mathe- matiker und Physiker und ihres Schulers Comte 1), wird im Namen des Positivismus, des Gegebenheitsstandpunktes, angegriffen. Man will eine hypothesenfreie Physik. Die mechanische Physik ist durch und durch hypothetisch. Sie beschreibt nicht einfach die Naturvorgange, sie sucht sie durch Bewegungsvorgange zu erklaren, die jenen Vorgangen untergeschoben werden. Die mechanische Physik ist daher durch eine positivistische, phano- menalistische 2) zu ersetzen. J) Cours de Philosophic Positive, Tome II, 21. Lecjon (Considerations philosophiques sur 1'ensemble de la physique). Der Comtesche Positivismus ist eben von dem, was heute als Positivismus bezeichnet wird, in vieler Beziehung verschieden. 2) Dabei soil durch das Wort phanomenalistisch vielfach nicht eine 6 I. Einleitung. Der geistreichste Vertreter dieser Opposition ist Ernst Mach1). Der EinfluB seiner Kritik war und ist um so grofier, als er die Resultate seiner erkenntniskritischen Uberlegungen sofort auf die konkreten Einzelprobleme der Physik anwandte. Seine Stellungnahme zur mechanischen Physik iiberhaupt legte er dar im Zusammenhang mit einer glanzenden Kritik axiomatischer Prinzipien der Physik, der Mechanik im besonderen. Das Energieerhaltungsprinzip , das als Konsequenz und mithin als Verifikation der mechanistischen Auffassung (unter besonderen Voraussetzungen) erschienen war, suchte er als unabhangig von dieser Auffassung zu erweisen2). In der Tat verliert der Satz von der Energieerhaltung durch- aus nicht seinen Sinn mit dem Verzicht auf die mechanische Deutung jeder Energieform. Der Begriff der Energie kann mit- Beziehung auf den PhSnomenen zugrunde liegende Dinge oder Vorgange ausgedruckt werden. Z. B. spricht Mach von phanomenalistischer Physik und bekSmpft gleichzeitig die Annahme eines den Phanomenen zugrunde Hegenden Ansichseins. Eigentlich liegt allerdings dabei ein MiBbrauch des Terminus vor. Das Machsche Ideal der Physik konnte man vielleicht besser als Physik der Sensationen, als sensualistische Physik bezeichnen. *) Von Machs Werken kommen am meisten in Betracht: Die Analyse der Empfindungen und das Verhaltnis des Physischen zum Psychischen. 2. Aufl. 1900. Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 5. Aufl. 1904. [Die Prinzipien der Warmelehre. 2. Aufl. 1900. Popular-wissenschaftliche Vor- lesungen. 3. Aufl. 1903. Hier moge Machs Urteil iiber die mechanische Naturauffassung der groBen Franzosen des 18. Jahrhunderts wiedergegeben werden. wWenn die franzSsischen EnzyklopSdisten des 18. Jahrhunderts dem Ziel nahe zu sein glaubten, die ganze Natur physikalisch-mechanisch zu erklaren, wenn Laplace einen Geist fingiert, welcher den Lauf der Welt in alle Zukunft anzugeben vermSchte, wenn ihm nur einmal alle Massen mit ihren Lagen und Anfangs- geschwindigkeiten gegeben wa'ren, so ist diese freudige Oberschatzung der Tragweite der gewonnenen physikalisch-mechanischen Einsichten im 18. Jahr- hundert verzeihlichj, ja ein liebenswurdiges, edles, erhebendes Schauspiel, und wir kOnnen diese intellektuelle, einzig in der Geschichte dastehende Freude lebhaft mitempfinden. Nach einem Jahrhundert aber, nachdem wir besonnener geworden sind, erscheint uns die projektierte Weltanschauung der Enzyklopadisten als eine mechanische Mythologie im Gegensatz zur animistischen der alten Religionen." Mechanik. S. 504. 2) Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. 1872. I. Einleitung. 7 bin aus der mechanischen Physik hiniibergerettet werden in eine neue Auffassung. Er bildet dann das die physikalischen und chemischen Teildisziplinen verbindende Gemeinsame und 15st so die mechanische Deutung ab. In diesem Sinne ist man be- strebt, die mechanische Physik durch eine energetische zu ersetzen. ,,Die Energetik ist eine einheitliche Gedankenentwicklung, eine eigenartige Weise umfassender Naturerkenntnis, die sich von Robert Mayer bis auf unsere Tage entf altet" x). Die Energetik, sagt man, kommt dem Ideal hypothesenfreier Naturwissenschaft naher. Ostwald meint sogar, sie gestatte den Verzicht auf jede Hypothese. In den ,,Vorlesungen iiber Naturphilosophie" heiBt es: ,,Darf ich noch einen Punkt hervorheben, so ist es der, dafi ich mien bemiiht habe, ein Buch zu schreiben, in welchem keine Hypothese aufgestellt oder benutzt worden ist"2). Die Kunst der Darstellung ist bewundernswert, mit der Ostwald in seinen Lehrbuchern iiber theoretische Chemie seine Anschauungen im einzelnen durchfiihrt. Doch kann die Gewandtheit der Gedanken- fiihrung nicht die Anschaulichkeit ersetzen, welche die mecha- nistische Molekulartheorie fiir sich hat. Wie die mechanische Physik zur mechanischen Naturauf- fassung und schlieBlich zur mechanischen Weltauffassung, zum Materialismus 8) erweitert worden ist, so hat Ostwald die energetische Physik zur energetischen Naturphilosophie und zum energetischen Weltbild uberhaupt ausgebaut4). Der prinzipiell erkenntnistheoretischen und der energetischen Ablehnung der mechanistischen Physik treten weitere Angriffe zur Seite, die Inkonsequenzen und Widerspriiche in den mecha- nischen Hypothesen selbst aufweisen wollen. J. B. Stallo hat in seinem Buche: ,,Die Begriffe und Theorien der modernen Physik" 5) die mechanische Auffassung einer scharfsinnigen, doch nach unserer Ansicht nicht immer vb'llig gerechten Kritik unter- J) G. Helm, Die Energetik nach ihrer geschichtlichen Entwicklung. Leipzig, 1898. Vorwort. 2) Vorrede, S. VIII. 1902. 8) Oder genauer zu bestimmten Erscheinungsformen desselben. *) Vorlesungen iiber Naturphilosophie. Leipzig, 1902. Zur Theorie der Wissenschaft. Vortrag. Annalen der Naturphilosophie. Bd. IV, S. 1 folg. 8) Siehe S. 4. Anmerkung. 8 I. Einleitung. zogen. Natiirlich stehen seine Bedenken ebenso in Zusammen- hang mit allgemein erkenntnistheoretischen Oberlegungen, wie dies von den energetischen Versuchen einer ,,Uberwindung" des Mechanismus gilt. Bei aller Scharfe der Kritik erkennen die drei Angriffs- richtungen den Wert an, den die mechanistische Auffassung fur die Entwicklung der Physik gehabt hat. In der Tat ist die grofie Forderung durch die mechanischen Hypothesen nicht zu bestreiten. Man denke nur an den EinfluB der Atom- und Molekulartheorie auf die Entwicklung der Chemie. Aber viele hypothetische Vorstellungen haben zu ihrer Zeit anregend und fordernd gewirkt und sind spa'ter zu hemmenden Dogmen geworden. Die Annahme eines Warmestoffes von un- veranderlicher Quantitat war von grofiem Nutzen fur die Kalori- metrie. Sie hemmte aber die Entwicklung der mechanischen Warmetheorie. Sollten nun auch die mechanischen Vorstellungen, bei aller Anerkennung ihrer friiheren Leistungen, in das Alters- stadium eingetreten sein, sich iiberlebt haben? Das ist die Ober- zeugung der Kritiker. Die wertvollen Leistungen beweisen nicht die Wahrheit einer Theorie oder Hypothese. Und nur eine Wahrheit bleibt ewig giiltig, eine blofi zweckmafiige Annahme aber hat ihre Zeiten des Bluhens und Vergehens. Sind die An- nahmen der mechanischen Physik so fo'rderlich gewesen, weil sie wahr sind, so haben sie ein Anrecht auf ewige Dauer; waren sie nur zweckma'Big, so sind die Fragen zu erledigen, wodurch und wie lange sie zweckmafiig waren oder sind. Jedenfalls kann die Zweckmafiigkeit einer Hypothese die Folge ihrer Wahrheit sein. Sie kann auch daher riihren, dafi die Hypothese, wenn nicht ganz zutreffend, so doch von mehr oder weniger grofiem Wahrheitsgehalte war. Die Zweckmafiigkeitsfrage aber wird immer dann sehr aktuell sein, wenn es sich darum handelt, ob grofie, neuentdeckte Tatsachengebiete den vorhandenen Hypothesen unterzuordnen sind. Solche neuen Erfahrungsgebiete liegen heute vor in den Strahlungsphanomenen, in den Erscheinungen der Radioaktivitat, in den Grundlagen der Elektronentheorie. Der Physiker, der in der kinetischen Auffassung mehr sieht als ein zweckmafiiges Werkzeug der Forschung, muB die neuen Tatsachen dieser I. Einleitung. 9 Auffassung unterordnen lernen. Waren aber die mechanischen Hypothesen nur ein zweckmafiiges Instrument des Denkens, ein wertvolles Veranschaulichungsmittel, so tritt die Frage auf, ob die Zweckmafiigkeit auf dem neuen Gebiete bestehen bleiben wird oder nicht. Von der Entscheidung dieser Frage allein hangt es ab, ob die kinetischen Hppothesen auf neuen Gebieten beizu- behalten sind. Eine Untersuchung der mechanistischen Auffassung dtirfte demnach zeitgemafi sein. Der Verfasser mafit sich nun keines- wegs an, dariiber zu entscheiden, ob mechanische Hypothesen wahr, zweckmafiig oder schadlich sind. Es versteht sich von selbst, dafi fur eine solche Entscheidung in erster Linie physi- kalischeUntersuchungen maBgebend sind. Daneben aberkommen ebenso zweifellos philosophische Probleme in Betracht. Die Einwiirfe gegen die mechanische Physik, welche von Physikern und Chemikern erhoben wurden, sind iibrigens mehr philo- sophischer als naturwissenschaftlicher Art. Derartige Voruntersuchungen mehr philosophischen Charakters ftir die Entscheidung iiber Wahrheit, Wahr- heitsgehalt oder ZweckmaBigkeit der kinetischen Hypo- thesen in der Phpsik bilden den wesentlichen Inhalt dieser Schrift. Es erscheint mir dabei unvermeidlich und auch ungefahrlich, daB gelegentlich neben rein philosophischen Betrachtungen physikalische herangezogen werden. Ich glaube auch, mir eine definitorische Scheidung zwischen Philosophic und Physik er- sparen zu durfen. Die vorliegenden Probleme gehOren eben einem Grenzgebiete an. Und wo die Ziele der Forschung zu- sammenf alien oder sich doch beriihren, erscheint es mir nicht geboten, die Wege zu denselben scharfer zu trennen, als es die wissenschaftliche Arbeitsteilung unbedingt erfordert. Vor dem Eintreten in die nachfolgenden Untersuchungen mo'chte ich mir noch eine Bemerkung erlauben. Wahrheit und Falschheit eines Annahmenzusammenhanges, wie er sich in der mechanistischen Physik darbietet, stehen nicht in kontradiktorischer Beziehung, wie weifie Farbe und nicht weifie Farbe, sondern in kontrarer, wie weifie Farbe und schwarze Farbe. Zwischen den Extremen liegen alle Nuancen eines mehr oder weniger hohen 10 I. Einleitung. Wahrheitsgehaltes. Die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit eines Gedankenzusammenhanges ist iiberhaupt unzulanglich; sie ist zu ersetzen durch die nach dem Wahrheitsgehalte. Weshalb ich diese Selbstverstandlichkeit hervorhebe? Mir scheint, dafi die Kritiker der mechanischen Physik nicht selten das Kind mit dem Bade ausgeschiittet haben. Ihre Angriffe ko"nnen be- rechtigt, ihre Argumente treffend sein. Trotzdem bleibt uns vielleicht ein echter Kern der Auffassung erhalten, die so wert- volle Dienste geleistet hat, und die wir daher nur mit dem schmerzlichen Bewufitsein, undankbar zu verfahren, ganz bei- seite schieben kb'nnten. In dem Kampfe, den die Hppothesen um ihr Dasein ftihren, ko'nnen die wertvollsten sich vor der Ver- nichtung durch Anpassung und Umbildung retten. Es ist zu untersuchen, ob die kinetische Auffassung durch eine philo- sophische Umdeutung gesichert und erhalten werden kann gegenuber den erkenntnistheoretischen Einwanden. Dafi sich eine weitgehende Anpassung an neue physikalische Erfahrungen in naher Zukunft wird vollziehen mussen, wird bei dem Fort- schritt der Elektronentheorie in jungster Zeit wahrscheinlich er- scheinen. Wir werden diese Umbildung im letzten Teile dieser Ausfuhrungen andeuten; dort soil die neue kinetisch-elektrische der alten kinetisch - elastischen Auffassung gegenubergestellt werden. II. Der Wert der Hypothesen. DiemechanischeAuffassungallerphysikalischenErscheinungen ist hppothetisch. Es fragt sich, ob wir darin einen Fehler sehen sollen. Es ist zu prufen, ob die Beseitigung der Hypothesen moglich und, wenn das der Fall ware, wiinschenswert ist. Wir wollen zunachst im allgemeinen Wesen und Bedeutung der Hypothesen untersuchen. Eine Hypothese besteht aus einer Annahme, oder einer Vielheit von Annahmen, die nicht bewiesen sind. Es muB aber doch irgendein AnlaB vorliegen, derartige Annahmen zu machen. Der AnlaB muB durch das wissenschaftliche Denken gegeben sein, wenn die Annahmen Anspruch auf die Bezeichnung Hypo- these machen wollen. Das wissenschaftliche Denken kann 1. Annahmen machen, von denen es voraussetzt, daB sie unzu- treffend sind in alien oder einzelnen Punkten oder 2. Annahmen, die es fiir wahrscheinlich oder gar wahr halt, wenigstens in einzelnen Teilen. Annahmen der ersten Art finden wir im Ge- brauch beim indirekten Beweise. Sie werden ferner benutzt zum Zwecke der Veranschaulichung. Solche mit dem BewuBtsein der vOlligen oder teilweisen Unrichtigkeit gemachten Annahmen bezeichnen wir als Fiktionen. Manche physikalische Hypothese friiherer Jahrzehnte und Jahrhunderte ist zur Fiktion geworden. Die Fluidumhypothese der Wa'rme lebt nicht mehr. Aber lange wird die Fluidumfiktion noch lebendig bleiben. Diese Fiktion ist fur die Darstellung der Kalorimetrie und der Lehre von der Warmeleitung sehr geeignet. Die Physik macht die Fiktionen eines materiellen Punktes, einer reibungslosen Fallbewegung, eines mathematischen Pendels, eines idealen Gases, eines absolut schwarzen KOrpers, eines isolierten magnetischen Poles usw. 12 II. Der Wert der Hypothesen. Sie kann solche Fiktionen nicht entbehren1). Diese Fiktionen sind keine Hppothesen. Wo fruhere, iiberlebte Hypothesen zu Fiktionen geworden sind, werden sie haufig ungenau noch als *) DaB diese Fiktionen unentbehrlich sind, wird der physikalisch orien- tierte Leser sofort erkennen. Ohne sie ist iiberhaupt keine Entwicklung der Physik mo'glich. Die Fiktionen sind, wie schon obige Beispiele zeigen, vielfach Vereinfachungen gegeniiber den physikalischen Vorgangen, die mit dem BewuBtsein der Unrichtigkeit gemacht sind. Es kann sich nur darum handeln, Fiktionen zweckmaBig zu gestalten. Das Bilden vereinfachter, zweck- maBiger, fiktiver Vorstellungen zu weniger einfachen Naturvorgangen be- zeichnet Mach als ein Idealisieren (Warmelehre, S. 456—457). Genau genommen sind die absichtlichen Vereinfachungen nur teilweise Fiktionen. Das absichtliche Vereinfachen bildet das Fingieren. Dabei bleiben in der Vorstellung Elemente, die nicht fiktiver Natur sind. Diese sind aber nicht nur wahrscheinliche Annahmen, sondern Beobachtungen. Alles, was Annahme an einer Vereinfachung, Idealisierung bewufiter Art ist, ist Fiktion. Daneben vereinfacht der Physiker, wie jeder Wissenschaftler und jeder denkende Mensch, seine Gegenstande auch ungewollt und unbewuBt. Das ist fur die Psychologic des wissenschaftlichen Forschens von groBer Bedeutung, weil darauf zahlreiche Fehlerquellen der empirischen Forschung zuriickfuhr- bar sind. Daneben hat die Sache ubrigens auch ihre guten Seiten. Andere Vorstellungen sind, im Gegensatz zu den Vereinfachungen, ganz und gar fiktiver Natur. Dazu gehoren die ,,Fluiden-Hypothesen". Diese Fluiden sind, obwohl ganzlich fiktiv, d. h. vollig unzutreffend, doch nicht vollig willkiirlich. Fur sie ist ZweckmaBigkeit, also etwa Einfachheit, An- schaulichkeit, groBe Leistungsfahigkeit bestimmend. Sie dienen sprachlichen, mnemotechnischen und padagogischen Zwecken. Letzteren dienen vielfach auch fingierte Experimente, die zum Teil als fiktive Vereinfachungen zu gelten haben. Man denke etwa an die Beispiele aus Mechanik und Thermodynamik. Zu den Vereinfachungen stehen die Bilder der Hertz schen Mechanik in gewisser Beziehung (Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt. Leipzig, 1894. S. 1 folg.). Dabei bleibt unentschieden, wieviel im wBild" mit dem Darzustellenden iibereinstimmt, wie- viel bewuBt fiktiv ist, wie weit die Vereinfachung gewollt oder nicht gewollt ist. Die Bilder sollen jedenfalls mit den Dingen so weit ubereinstimmen, wdaB die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstande". Das gilt genau genommen nicht von den fiktiven Vereinfachungen. Andere Physiker bezeichnen mit dem Worte Bild oder Modell Vor- stellungen fiktiver Natur, die nicht als Vereinfachungen, wohl aber als Ver- anschaulichungsmittel betrachtet werden miissen. Man denke z. B. an Modelle der Atherstruktur. Alle diese Bezeichnungen spielen zwar in physikalischen Darstellungen eine groBe Rolle, werden aber von verschiedenen Forschern in vielfaltig II. Der Wert der Hypothesen. 13 Hypothesen bezeichnet. Hier sind die Fiktionen jedenfalls von den Hypothesen zu trennen. Sind nun alle aus wissenschaftlichen Motiven stammenden Annahmen, die zwar nicht bewiesen sind, indessen fur ganz oder teilweise wahr oder wahrscheinlich gehalten werden, fur die jedenfalls der fiir Fiktionen bedeutungslose Gesichtspunkt der Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit in Frage kommt, Hypo- thesen? Die Antwort mufi, glaube ich, nein lauten. Allerdings fangt die Bestimmung an unsicher, der Sprachgebrauch ungenau zu werden. Die wissenschaftlichen Griinde, welche eine un- bewiesene Annahme veranlassen, kOnnen die Annahme urn ihrer selbst oder urn anderer Annahmen und Tatsachen willen fordern, oder es kann beides zusammenwirken. Im zweiten Falle haben wir eine Hypothese vor uns. Im dritten Falle liegt eine Kompli- kation vor, die indessen von grofiter Bedeutung ist. Das Ausgefiihrte bedarf in mehrfacher Hinsicht einer Recht- fertigung. Das, was auf wissenschaftlichem Gebiete eine An- nahme ohne Riicksicht auf andere, nur um ihrer selbst willen, fordert, ist der Beweis. Also kann keine unbewiesene Annahme um ihrer selbst willen aus wissenschaftlichen Griinden gefordert werden. Demnach wurde die erste MOglichkeit nicht existieren. Diesem Einwande ware vielleicht entgegenzuhalten, dafi An- nahmen um ihrer selbst willen zu machen sind, fur die es keinen Beweis gibt: etwaige Axiome. Indessen wollen wir hier nicht entscheiden, ob es Axiome in diesem Sinne gibt. Der Einwand fallt ohnehin fort, wenn die Worte ,,unbewiesen" und ,,Beweisu in dem Sinne genommen werden, der ihnen hier zukommt. Unter Beweis verstehen wir das, was die Einzelwissenschaften dar- unter verstehen1). Eine Annahme kann unbewiesen sein, weil abweichendem Sinne benutzt. Sie verlieren dadurch sehr an Wert. Scharfe Begriffsbestimmungen sind nicht leicht in zweckmaBiger Weise zu gewinnen, weil die verschiedenen Typen ineinander iibergehen. Fiir unsere Ziele ge- niigt es, alle fiktiven Vorstellungen von den Hypothesen zu trennen. Durch die Verwechslung und Vermischung beider ist das Problem der Hppothese ungemein getrubt worden. ') Nach dem hier angenommenen Sprachgebrauch der Einzelwissen- schaften gibt es natiirlich auch induktive, empirische Beweise. Will man sich der Verwendung des Wortes Beweis in diesem Sinne nicht anschlieBen, so muB man zugeben, daB die sichersten Satze der Naturwissenschaft, wie 14 H. Der Wert der Hppothesen. die Griinde, die fiir sie sprechen, nicht zureichend sind. An- nahmen, fiir die zwar Gninde, aber nur unzureichende, existieren, sind dann noch nicht als Hppothesen zu bezeichnen, wenn die Grunde fiir sie um ihrer selbst willen sprechen. Ein Beispiel mOge das ,,um ihrer selbst willen" erlautern. Wenn der Zoologe auf Grund einer sonstigen Analogic des Baues das Vorhandensein eines bestimmten, noch nicht entdeckten Organes bei einer Art vermutet, als wahrscheinlich betrachtet, so stellt er keine Hppo- these auf. Denn er macht die Annahme um ihrer selbst willen; die Annahme selbst ist das, was er durch seine Griinde stiitzen, wahrscheinlich machen will. Alle Annahmen, die auf Grund von unzulanglichen, nicht beweisenden Induktionen und Analogien gemacht werden, sind noch nicht Hypothesen. Diese Annahmen sind nicht etwa wert- los, sie sind von grofiem Nutzen, solange nicht vergessen wird, dafi sie nur als mehr oder weniger wahrscheinlich gelten diirfen. Allerdings werden derartige Annahmen haufig als hypothetisch bezeichnet, wahrend sie besser problematisch heifien miifiten. Hypothesen sind demnach unbewiesene Annahmen, die um anderer Annahmen oder Tatsachen willen gemacht werden. Werden nicht auch die im vorigen Abschnitt besprochenen, etwa durch Analogic veranlafiten Annahmen um anderer, namlich der analogen Tatsachen willen gemacht? Eine Darlegung dessen, was unter ,,um anderer Annahmen oder Tatsachen willen" zu die gewissesten Ergebnisse der Geschichtsforschung unbewiesen sind; dann gelangt man zu einer unerhorten Vergewaltigung des Sprachgebrauches. Freilich entstehen fur uns sofort Schwierigkeiten , wenn zu entscheiden ist, ob ein vorliegendes induktives Verfahren als Beweis anzuerkennen ist. Eine scharfe Grenze zwischen Bewiesenem und Wahrscheinlichem existiert nicht mehr, da ja das induktiv Bewiesene auch wnur" im hochsten Grade wahr- scheinlich ist. Dabei muB ubrigens beriicksichtigt werden, daB derartig hohe Wahrscheinlichkeitsgrade von den Einzelwissenschaften als wGewiBheit" be- zeichnet werden, auch wenn der auf den betreffenden Gebieten arbeitende Forscher sehr wohl weiB, daB diese GewiBheit nicht dem mathematischen Wahrscheinlichkeitswerte Bins entspricht. Der Astronom prophezeit mit volliger ,,GewiBheit" den Eintritt einer Mondfinsternis; der Logiker behauptet, jede induktive Voraussage, also auch die Prophezeiung des Astronomen, sei ,,nur" wahrscheinlich. Beide Behauptungen brauchen nicht im Widerspruche miteinander zu stehen, wenn sehr hohe Wahrscheinlichkeit als GewiBheit bezeichnet wird. II. Der Wert der Hypothesen. • 15 verstehen ist, diirfte wohl diesen Einwurf beseitigen und gleich- zeitig das Verhaltnis zwischen nicht beweisenden Induktions- und Analogieschlussen und Hppothesen in das richtige Licht setzen. Gerade auf das letztere aber mOchte ich Gewicht legen. Gewifi wird auch eine auf Analogic gestiitzte (unzulanglich bewiesene) Annahme um jener Analogic willen gemacht. Aber dabei erhalten die Grundlagen der Analogic nichts von jener Annahme; sie bleiben nach der Bildung der Annahme unver- andert bestehen. Die problematische Annahme ist das einzige Neue, was hinzukommt; um ihrer selbst willen in diesem Sinne wird sie gemacht. Die Annahme des analogen noch unentdeckten Organs in obigem Beispiel gibt fur die Beobachtungen, auf Grund deren sie gemacht wurde, absolut nichts Neues. Sie wird also nicht diesen zu Liebe, sondern um ihrer selbst willen gebildet. Anders die Hypothese. Sie wird etwas anderem zu Liebe gebildet. Eine durch Induktion per enumerationem simplicem oder durch Analogic gestiitzte Annahme ist die (wahrscheinliche) logische Folge gewisser anderer Tatsachen oder Annahmen. Eine Hypothese ist eine mehr oder weniger (wahrscheinliche) Grund- annahme, deren Folgen jene Annahmen oder Tatsachen sind, die die Bildung der Hypothese veranlafiten. Die Hypothese ist also eine unbewiesene Annahme, die gebildet wurde, damit andere Annahmen oder Tatsachen einen Ableitungsgrund er- halten, damit diese Ausgangsannahmen gefolgert, ,,erklartai) werden konnen. Es versteht sich von selbst, daB die Hypothese, die An- nahme als solche, veranlaBt ist durch die Annahmen oder Tat- sachen, um deren willen sie gebildet wurde. Daher ist jede ') An dieser Stelle soil auf den Begriff der ErklSrung nicht eingegangen werden. Die Anwendung des Wortes im Texte kann jedenfalls kaum be- mangelt werden. Gleichviel, ob jede Erklarung nichts anderes ist, als die logische Ableitung realer Tatsachen (wDas letzte Ziel alles Erkla'rens ist aber nichts anderes als empirisch gegebene Zusammenhange logisch zu durch- leuchten ..." G. Hermans: Uber Erklarungshypothesen und Erklaren uberhaupt. Ostwalds Annalen der Naturphilosophie. Bd. I, S. 483), oder ob noch andere Arten von Erklarungen anzunehmen sind: zweifellos ist, daB uns etwas erkiart erscheint, sobald wir es aus etwas anderem folgern konnen. 16 II. Der Wert der Hypothesen. Hypothese logisch auch eine mogliche Folge dieser zugrunde liegenden Annahmen oder Tatsachen. Die Trennung der un- bewiesenen induktiv-analogisch gewonnenen Annahmen von den Hypothesen ist mithin keine scharfe. Es handelt sich vielmehr um eine Typeneinteilung. Zu dem gleichen Resultate fiihrt folgende Uberlegung. Immer wird uns eine neue Annahme, die irgendwie eingefiihrt ist, hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes interessieren. Das gilt auch von den Hypothesen. Ist demnach eine Hypothese auch um anderer Annahmen oder Tatsachen willen gebildet, so wird sie doch daneben ein Interesse rein fur sich in Anspruch nehmen. Die wirklichen Hypothesen werden daher einem Zwischentypus angehoren. Sie werden sowohl um anderer Annahmen und Tat- sachen, als auch um ihrer selbst willen an sich erforderlich, an sich interessant sein. So nahern wir uns dem dritten Typus jener Annahmen, die fur ganz oder teilweise wahr oder wahrscheinlich gehalten werden, zu den Komplikationen von hypothetischen und induktiv- analogischen Annahmen. Weil eine Hypothese einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit immer haben mufi (sonst wtirde ja eine Fiktion vorliegen), mussen Griinde fur sie sprechen. Diese Grtinde konnen nicht lediglich deduktiv-denknotwendiger Natur sein. Das Hypothetische der Annahme kann nur aus induktiv- analogischen Elementen in den Griinden fur die Hypothese stammen. Mit anderen Worten, die Hypothesen lassen sich, in diesen Fallen gezwungen, in jenen natiirlich, auffassen als An- nahmen, die durch fur einen Beweis unzulangliche Induktionen oder Analogien geboten werden *). Sobald die Frage nach dem Wahrheitsgehalte oder der Wahrscheinlichkeit einer Hypothese auftaucht, beginnt die Aufgabe, Griinde fur dieselbe zu suchen. J) Beispiele fur hypothetische Annahmen, die sich ungezwungen als Ergebnisse von Analogieschliissen auffassen lassen, werden wir weiter unten kennen lernen. Hier sei an die einfachste Form der Undulations- und Atherhypothesen erinnert. Reflexion, Brechung und Interferenz zeigen sich beim Lichte ebenso wie beim Schall. Also beruht das Licht wie der Schall auf Schwingungen in einem materiellen Medium, dem Ather. Durch Analogie- schliisse gelangt man zu der Annahme der Identitat der Licht-, Warme- und elektrischen Schwingungen, also zur elektromagnetischen Lichttheorie. II. Der Wert der Hypothesen. 17 Die Griinde miissen die Hypothese als urn ihrer selbst willen wahr- scheinlich erweisen. Die Griinde miissen zuletzt ein analogisch- induktives Element enthalten, da sonst ein Beweis vorliegen und die Hypothese als solche verschwinden wiirde. Nach diesen Ausfiihrungen ergibt sich, dafi die Hypothesen, sobald nach ihrem Wahrscheinlichkeitsgehalte oder Werte gefragt wird, sofort mehr oder weniger zu jenen Annahmen vom dritten Typus werden. Diese, die Komplikationen von Hypothesen, mogen nun - - im Anschlufi an den Sprachgebrauch — in Zu- kunft auch einfach als Hypothesen schlechthin bezeichnet werden. Hypothesen sind nach dem Vorhergehenden aus wissen- schaftlichen Motiven gebildete, unbewiesene Annahmen, die fur teilweise wahr oder wahrscheinlich gehalten werden und durch andere Annahmen oder Tatsachen in der Weise veranlafit sind, daB diese anderen aus jenen hypothetischen als Folgen ableitbar werden. Mit den bisherigen Ero'rterungen iiber das Wesen von Hypothesen ist der Grund gelegt fur die Feststellung ihrer Be- deutung, ihres Wertes. Eine Hypothese hat einen doppelten Wert, namlich erstens fiir die Annahmen oder Tatsachen, die sie erklart, und zweitens hat sie als wahrscheinliche Annahme einen Wert als solche, indem sie zwar nicht unser sicheres, aber doch unser Wissen vom Wahrscheinlichen vermehrt. In- dessen sind die beiden Werte nicht unabhangig. Der Erklarungs- wert wa'chst und nimmt ab mit der Wahrscheinlichkeit der Hypothese. Je wahrscheinlicher eine Hypothese ist, urn so be- friedigender ist auch die Erklarung, die sie bietet. Dazu kommen allerdings noch andere Umstande, die eine Erklarung mehr oder weniger befriedigend erscheinen lassen. Der Wert einer Hypothese ist demnach in erster Linie be- dingt durch die Wahrscheinlichkeit, die ihr zukommt — genau, wie das bei jeder anderen Annahme der Fall ist — . Jede wahr- scheinliche Hypothese hat als solche wissenschaftlichen Wert. Daher ist eine Wissenschaft, die neben Tatsachen noch wahr- scheinliche Annahmen und Hypothesen hat, hoher zu bewerten, als eine solche, welche nur die nackten Tatsachen hatte (voraus- gesetzt, dafi das iiberhaupt moglich ware1)). Das gilt um so J) Vergl. das 4. Kapitel. Becher, Philosoph. Voraussetzungen. 18 II. Der Wert der Hypothesen. mehr, als gerade die Hypothesen Antworten — wenn auch nur mehr oder weniger wahrscheinlich richtige — geben auf Fragen, die am meisten unser Interesse in Anspruch nehmen. Eine Be- handlung der Wissensgebiete, die Hypothesen nicht verschmaht, hat dadurch einen Vorzug gegeniiber einer solchen, die auf jede Wahrscheinlichkeit verzichten will und damit die Beantwortung gerade der uns wichtigsten Fragen tiberhaupt ablehnen muB. Eine Physik, die nur die Tatsachen bieten kOnnte, mlifite (ihre Moglichkeit wieder vorausgesetzt) geringwertiger erscheinen als eine solche, die neben diesen noch wahrscheinliche Hppo- thesen hat, welche sich mit den wesentlichsten Problemen be- schaftigen *). Da der Wert der Hjppothese mit der Wahrscheinlichkeit wachst, wird zu untersuchen sein, wovon diese abhangt. Wir kOnnen die Untersuchung von verschiedenen Seiten in Angriff nehmen. Die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese ist erstens be- dingt durch ihren eigenen Inhalt, d. h. durch die Annahmen, aus denen sie besteht; zweitens durch die Eigenart der An- nahmen oder Tatsachen, urn derentwillen sie gebildet wurde. Der eigene Inhalt einer Hppothese ha'ngt zunachst von der Zahl der in ihr enthaltenen Annahmen ab, ferner von der Qualitat derselben. Besteht der Inhalt einer Hypothese aus einer Mehrheit von voneinander unabhangigen Annahmen — was strenge genommen meist der Fall ist — , so wachst die Un- wahrscheinlichkeit ceteris paribus mit der Zahl der Teilannahmen. l) Gerade fiir die Physik trifft es in hohem MaBe zu, daB die Hppo- thesen die interessantesten Fragen zu beantworten suchen. Alle jene Unter- suchungen uber das ,,Wesen" der Warme, des Lichtes, der Elektrizitat, der chemischen Wirkung, sind durch und durch hypothetisch. Und gerade diese Untersuchungen haben von jeher den Forschungstrieb vor alien anderen gereizt. Die Frage nach dem ,,Wesen" einer physikalischen Erscheinung ist eben die wesentlichste Frage, die in bezug auf dieselbe gestellt werden kann. Zu alien Zeiten ist die Konstitution der Materie der Gegenstand eifrigen Forschens gewesen. Auch dieses interessante Ratsel kann allem An- schein nach immer nur durch Hypothesen gelost werden. Es kann daher nicht bezweifelt werden: wer der Physik die Hypothesen nehmen will, muB ihr gleichzeitig den Weg zu den fesselndsten Forschungen versperren. Aus diesem Grunde schon wird man das Verbot der Hypothesenbildung nicht leicht gelten lassen. II. Der Wert der Hppothesen. 19 Denn eine jede Teilannahme hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit, deren Wert in mathematischem Sinne unter eins liegt. Die Wahrscheinlichkeiten fiir das Zusammentreffen der Richtigkeit mehrerer unabhangiger Annahmen ist aber gleich dem Produkte der Wahrscheinlichkeiten fiir die Teilannahmen. Da diese Wahr- scheinlichkeiten Werte haben, die unter eins liegen, ist ihr Produkt kleiner als jeder einzelne, und es wird um so kleiner, je grOBer die Zahl der Faktoren ist. Waren die Teilannahmen alle von gleicher Wahrscheinlichkeit, so wurde ceteris paribus die Wahr- scheinlichkeit in geometrischer Reihe kleiner werden, wenn die Zahl der Teilannahmen in arithmetischer Reihe zunehmen wiirde. Liegen die Wahrscheinlichkeitswerte nur wenig unter eins, so nahern sich die Glieder dieser geometrischen Reihe sehr langsam der Null; sind jene Werte aber relativ klein, so werden die Glieder der geometrischen Reihe sehr bald Null. Daraus ergibt sich, daft eine Vermehrung der Annahmen in einer Hypothese unbedenklich ist, falls die Teilannahmen alle von recht hoher Wahrscheinlichkeit sind. Liegen aber mehrere Teilannahmen von geringer Wahr- scheinlichkeit vor, so wird der Wert der Hypothese sehr gering zu veranschlagen sein. Durch diese Oberlegungen sind wir instand gesetzt, zu der Forderung der Einfachheit von Hppothesen Stellung zu nehmen. Man wird erkennen, dafi diese Forderung nicht un- bedingte Giiltigkeit haben kann. Eine Hppothese ist noch nicht schlecht, weil sie kompliziert ist. Die Komplikation ist un- bedenklich, wenn nur die Teilannahmen hohe Wahrscheinlichkeits- grade besitzen. Sie ist verhangnisvoll, falls das nicht der Fall ist. Die Einfachheit ist jedenfalls als abgeleitetes Postulat zu betrachten, abgeleitet aus der Forderung der Wahrscheinlichkeit. Nicht immer ist die einfachere Hppothese die bessere; die wahr- scheinlichste dagegen ist stets als die beste zu betrachten. Freilich bevorzugen wir die Einfachheit noch aus einem anderen Grunde, den man in der Forderung der Okonomie des Denkens (Denken nach dem kleinsten Kraftmafie) formuliert hat. Die Einfachheit fallt eben zusammen mit der Bequemlichkeit. Diese, oder die grOBte Leistungsfahigkeit mit einfachsten Mitteln, kommt vor alien Dingen in Betracht fiir die Bewertung von Fiktionen. Daher finden wir die Forderung der Einfachheit oder 2* 20 II. Der Wert der Hypothesen. Ckonomischen Tiichtigkeit besonders in den Vordergrund ge- stellt bei Forschern, die die Hypothesen (der mechanischen, atomistischen Naturauffassung etwa) als nichts anderes als Fiktionen betrachten. Wertet man dagegen die Hypothesen als wahrscheinliche Annahmen, so kommt die Bequemlichkeit nicht in Betracht, und die Einfachheit nur insofern, als sie mit der Wahr- scheinlichkeit zusammenfallen mag. Der Inhalt der Hppothesen selbst ist ferner bedingt durch die Qualitat der in ihr ausgesprochenen Annahmen. In bezug auf diese ist natiirlich bei einer allgemeinen Betrachtung nicht viel zu sagen. Es versteht sich von selbst, daft die Teil- annahmen sich weder untereinander, noch anderen bewiesenen Satzen widersprechen dtirfen. Eine Teilannahme wird schon dadurch unwahrscheinlicher, dafi sie irgendeiner anderen wahr- scheinlichen Annahme widerspricht. Sie wird wahrscheinlicher, wenn sie mit anderen Annahmen gut zusammenpafit 1), etwa mit ihnen in deduktivem Zusammenhange steht. Von diesem Ge- sichtspunkte aus ergibt sich eine neue Einschrankung der Forderung der Einfachheit. Stehen viele Annahmen einer Hypo- these in solchen deduktiven Zusammenhangen, etwa so, dafi aus einer einzigen oder einigen wenigen Annahmen die ubrigen folgen, so ist die Vielheit derselben an sich unbedenklich. Gehen wir zu den Bedingungen fur die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese iiber, die sich aus der Betrachtung der Tat- sachen oder Annahmen ergeben, welche Veranlassung fur die Bildung der Hypothese boten. Sofort ergibt sich der Unter- schied zwischen den angedeuteten beiden Fallen: entweder ist die Hypothese auf Grund von Tatsachen, von bewiesenen Satzen gebildet, oder sie ist anderen Annahmen, anderen Hypothesen zu Liebe geschaffen. Es versteht sich von selbst, dafi ceteris paribus solche Hppothesen wahrscheinlicher sein werden, die J) Die ersteBehandlungJdes Wahrscheinlichkeitsproblems, die Aufstellung der drei Wahrscheinlichkeitsstufen durch Karneades, macht dem Scharfblick des alten Skeptikers alle Ehre. In der Wissenschaft und im Leben vermag eine Wahrscheinlichkeit die andere zu stiitzen und sich gleichzeitig an sie zu lehnen, so daB beide gewinnen. Die stiitzende wahrscheinliche Annahme nimmt zu an Bedeutung, wenn sie wieder gestiitzt wird durch andere Wahr- scheinlichkeiten. II. Der Wert der Hppothesen. 21 bewiesenen Satzen zu Liebe gemacht wurden. Indessen sind Hypothesen urn anderer Annahmen und Hypothesen willen keines- wegs radikal zu verwerfen. Denn zuletzt sind ja doch die An- nahmen oder Hppothesen alle auf Grund von Tatsachen ge- bildet. Eine Hypothese, die im Interesse einer anderen erfunden wurde, ist daher schliefilich doch indirekt urn der Tatsachen willen gebildet. Beide zusammen konnen aufgefafit werden als eine einzige, die aus der Gesamtheit der in beiden enthaltenen Annahmen besteht. Hypothesen, um anderer Annahmen oder Hppothesen willen gebildet, haben daher eine Wahrscheinlichkeit, die durch die grOfiere Zahl der Annahmen bedingt ist, welche das Bauen von Annahmen iiber Annahmen veranlafit. Da diese grofiere Zahl nicht unter alien Umstanden bedenklich ist, darf die Konstruktion von Hypothesen, anderen Annahmen und Hypo- thesen zu Liebe, nicht immer verworfen werden. Die oft aus- gesprochene Maxime, welche derartige Hypothesenbildungen verbietet, ist demnach nicht zu genau zu nehmen. Sie ist von der Wissenschaft iibrigens nie genau befolgt worden. Dazu ist ein weiterer Umstand zu beriicksichtigen, der zu- gunsten vieler Hypothesen tiber Hypothesen und Annahmen spricht. Selbstverstandlich werden die Hypothesen oder An- nahmen, um derentwillen andere Hypothesen gebildet wurden, nicht unabhangig sein von den letzteren. Vielmehr werden die ersteren aus den letzteren mehr oder weniger vollstandig deduktiv ableitbar sein. Daher ist die Vermehrung der Annahmen in solchen Fallen bei weitem nicht so gefahrlich, als sie es sein wiirde, falls alle die Annahmen unabhangig nebeneinander standen. Direkt oder indirekt sind alle Hypothesen bewiesenen Ur- teilen zu Liebe gebildet. Wir sahen (S. 16), daB die Hypothesen, bald nur gezwungen, oft aber auch recht natiirlich aufgefafit werden konnen als Annahmen, fur welche Analogieschlusse sprechen. Die Wahrscheinlichkeit der Hypothesen ist also be- dingt durch den Wert der betreffenden Analogien. So zeigt das Licht analoge Eigenschaften, wie unserer Wahrnehmung zu- gangliche Wellenbewegungen. Die Wahrscheinlichkeit der Un- dulationstheorie des Lichtes wird demnach abhangen von dem Charakter der Analogic. Ist die Analogic (wenigstens in be- 22 H. Der Wert der Hypothesen. stimmter Richtung) sehr weitgehend, so wird eine darauf ge- griindete hypothetische Annahme (in dieser Richtung zum min- desten) eine grofie Wahrscheinlichkeit haben. Je vager die Ana- logic, desto geringer ist selbstverstandlich die Wahrscheinlichkeit, welche sie zu geben imstande ist. Es ubertragt sich alles, was tiber die durch Analogic zu gewinnende Wahrscheinlichkeit zu sagen ist, ohne weiteres auf die Wahrscheinlichkeit von durch Analogic stiitzbaren Hypothesen. Insbesondere wa'chst die Wahr- scheinlichkeit erstens mit der Zahl der Beziehungspunkte der Analogic, zweitens mit der Vollstandigkeit der Obereinstimmung oder Ahnlichkeit der einzelnen Punkte. Dabei ist die Einschran- kung zu machen, dafi die Beziehungspunkte unabhangig von- einander bestehen mussen, wenn sie als verschieden mitgezahlt werden sollen. Ist ein Beziehungspunkt, eine Obereinstimmung oder Ahnlichkeit einfach (logische oder reale) Folge einer anderen, so wird durch diesen oder diese die Analogic fur die Wahr- scheinlichkeit nicht an Wert gewinnen. Das ist von grofier Be- deutung fiir die Lehre von der Verifikation von Hypothesen. Werden solche aus anderen Ubereinstimmungen folgende Ober- einstimmungen neu entdeckt, so machen sie eine Hypothese nicht wahrscheinlicher, da sie sich ja bei beliebigen anderen hypo- thetischen Annahmen oder auch uberhaupt ohne solche, genau so, allein aus den gegebenen Ubereinstimmungen ergeben. Der- artige Neuentdeckungen erwecken zuweilen den Schein von Verifikationen, sind aber nicht als solche zu betrachten. Der Wahrscheinlichkeitswert, den die bewiesenen Wahrheiten, urn derentwillen direkt oder indirekt eine Hypothese gebildet wurde, dieser geben, lernen wir genauer abschatzen, wenn wir die Untersuchung in einer anderen Richtung einleiten. Hypo- thesen werden geschaffen, damit die bewiesenen Wahrheiten und Tatsachen einen Ableitungsgrund bekommen, damit sie gefolgert, erklart werden konnen (S. 15, Anm.). (Urn die Darstellung zu vereinfachen, mo' gen im folgenden . die urn anderer Hypothesen und Annahmen willen gebildeten Hypothesen zuweilen unerwahnt bleiben. Die Obertragung der Betrachtungen auf dieselben ver- steht sich von selbst, nachdem erwahnt wurde, dafi auch sie zu- letzt urn bewiesener Wahrheiten oder Tatsachen willen gebildet werden.) Hypothesen bestehen demnach aus unbewiesenen Ur- II. Der Wert der Hypothesen. 23 teilen, aus denen durch richtige Schlufiweisen die bewiesenen Urteile folgen, urn derentwillen die Hppothesen gebildet wurden. Nun hat schon Leibniz gesehen, daft die Richtigkeit des SchluB- satzes die der Pramissen nicht voraussetzt, ,,que le vrai peut 6tre tire du faux"1) [Leibn. Opera. Philos., hrsg. von Erdmann, I., S. 397. Nouveaux Essais, chap. 17, § 5]. Daher eben sind die hppothetischen Annahmen nur mehr oder weniger wahrschein- lich, nicht aber bewiesen. Untersuchen wir, wovon der Grad der Wahrscheinlichkeit abhangt! Die hypothetischen Annahmen mftgen in einer Reihe von Urteilen un .... un formuliert sein. Die bewiesenen Wahrheiten, welche Veranlassung zur Bildung der Hypothese gaben, mb'gen U1? U2, .... Um heifien. Dann mussen sich \Jly U2, . . . . Um aus den Urteilen u1} u2, . . . . un folgern lassen durch richtige Schliisse. Das folgt aus dem Wesen J) Man braucht nur von einem gewo'hnlichen Syllogismus der ersten Figur auszugehen, um zu einem Beispiel fiir einen richtigen SchluB aus falschen Pramissen zu gelangen. Ersetzt man in Ober- und Untersatz das Mittelglied durch einen anderen Begriff, so bleibt der SchluBsatz derselbe, obwohl die Pramissen vielleicht falsch geworden sind. Fiihren wir dies bei dem alten Schulbeispiel aus: In Ober- und Untersatz des Syllogismus: Alle Menschen sind sterblich. Cajus ist ein Mensch. Also ist Cajus sterblich; wollen wir den Begriff Mensch durch den Begriff Gott ersetzen: Alle Go'tter sind sterblich. Cajus ist ein Gott. Also ist Cajus sterblich. Beide Pramissen sind falsch; der Schlufisatz ist richtig geblieben. Hfitten wir an Stelle von Mensch Tier eingesetzt, so wa're nur der Untersatz falsch geworden, Ober- und SchluBsatz wftren richtig geblieben. Sehr leicht lassen sich in der Arithmetik aus falschen Pramissen richtige Schlusse ziehen. Der Fehler kann bei einer Substitution verschwinden. 'Der Fall entspricht dem obigen; nur handelt es sich um Syllogismen aus Urteilen ,,vollstandiger Gleichheit" (B. Erdmann, Logik, I. Aufl. Bd. I, S. 519). Beim Aufsuchen eines Beweises fiir ein bekanntes mathematisches Gesetz unter- liegt man solchen Fehlern zuweilen. Als Beispiel hierfiir diene folgende falsche Ableitung: (ar)8 =ar+» ar + a _ as + r a»+r =(a")r 24 II. Der Wert der Hypothesen. der Hypothese und der Art, wie Hypothesen zu bilden sind. Unter den Urteilen u1? u2, .... un kOnnen nach den bekannten Regeln der formalen Logik auch falsche enthalten sein, obgleich aus der Gesamtheit dieser Urteile sich die richtigen Konsequenzen Uj, Ug, .... Um ergeben. Diese etwa vorhandenen falschen Urteile mOgen u«, up, .... u>. heiBen. Ich denke mir jetzt die verschiedenen u auf alle moglichen Weisen zu Schliissen zu- sammengestellt. Dann ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen Ua, Ub, .... U0. Unter diesen Konsequenzen befinden sich jedenfalls richtige Urteile, namlich Un U2, .... Um; vielleicht finden sich noch weitere richtige Urteile unter den U vor. Sicher konnen aus den falschen Urteilen u«, up, . . . . ux aber auch falsche Konsequenzen U^, Uv, . . . . U^ gezogen werden. 1st die Zahl der U15 U2, . . . . Um, also m groB, dagegen die der ux, u2, .... un, also n klein, so ist ein verhaltnisma'Big groBer Teil der Konsequenzen Ua, .... U0, die sich aus den un u2, .... un uberhaupt bilden lassen, bekannt. Die Wahr- scheinlichkeit, daB auch falsche Annahmen ua, .... ux in den u,, .... un stecken, ist um so kleiner, je kleiner die Wahrschein- lichkeit ist, daB unter den samtlichen Konsequenzen Ua, Ub, U0 falsche Urteile U^, Uv, .... Ut vorkommen; die letztere ist aber um so kleiner, je kleiner die Differenz zwischen der Zahl der Ua, U0 und der Zahl der Ut, U2, . . . . Um ist. Der Mi- nuend dieser Differenz ist klein, wenn die Zahl n klein ist; der Subtrahend ist m, also groB, wenn m groB ist. Die Wahrschein- lichkeit einer Hypothese wachst mit der Zahl (m) der bewiesenen Satze, auf Grund deren sie gebildet ist; sie wird beeintrachtigt, wenn die Hypothese aus vielen voneinander unabhangigen An- nahmen zusammengesetzt ist. Damit ist nicht die Zahl der be- wiesenen Satze (m) oder der hppothetischen Annahmen (n) als an sich maBgebend erwiesen, sondern es kommt auf die relative GroBe an. Ist m sehr groB, so kann n groB sein. Wenn aber m klein ist, so darf n auch nur klein sein, falls nicht die Hypo- these unwahrscheinlich sein soil 1). ') Die hier aufgestellten Bedingungen fur die Wahrscheinlichkeit einer Hppothese decken sich nicht genau mit den fruher gefundenen; sie sind eben aus anderen Voraussetzungen abgeleitet. Diese verschiedenen Bedingungen sind miteinander in Verbindung zu bringen. So kommt es naturlich auf den II. Der Wert der Hypothesen. 25 Denn die umgekehrte Oberlegung zeigt sofort, dafi eine Hypothese um so unwahrscheinlicher ist, je kleiner m ist bei be- stimmtem n, und je grofier n ist bei bestimmtem m. Eine Hypothese ist demnach um so wahrscheinlicher, je mehr Wahrheiten sie veranlafit haben und je weniger Annahmen sie zu machen braucht. Wieder ergibt sich die Forderung der Einfachheit aus der der Wahrscheinlichkeit. Dabei ist immer zu beriicksichtigen, dafi die Einfachheit nicht schlechthin zu fordern ist, weil (falls nur m grofi genug ist) auch eine komplizierte Hypothese wahrscheinlich sein kann. Wird nun, nachdem die Hypothese (u1} u2, .... un) so ge- bildet ist, dafi sich U,, U2, .... Um als Konsequenzen ergeben, eine neue Konsequenz Uf aus ul5 u2, .... un als richtig erwiesen, so ergibt sich damit zunachst eine Vergrofierung von m um die Zahl eins. Damit wird die Hypothese wahrscheinlicher. Aber unsere Bestatigung hat einen weit grOfieren Wert fiir die Hj>po- these. Dafi diese die richtigen Konsequenzen Uu U2, .... Um ergibt, ist selbstverstandlich; denn so sind uu u2, .... un ge- wahlt. Dafi aber eine Konsequenz Uf zutrifft, die bei der Bil- Charakter der Annahmen u1} . . . un an, wie groB die Zahl n noch allenfalls sein darf. Ubrigens ist der Charakter, der Wahrscheinlichkeitsgrad der u, zum Teil bedingt durch die Zahl m der gegebenen U. Eine ins einzelne gehende Ausfuhrung aller hier moglichen Beziehungen und eine genaue Auf- stellung der Postulate ist zwecklos. Denn die Mannigfaltigkeit und Kompli- kation der praktisch wichtigen Falle von Hppothesenbildungen spottet jeder abstrakt schematischen Behandlung. Die Ausftihrungen des Textes sollen daher nichts weiter sein, als Ver- deutlichungen der allgemeinsten Gesichtspunkte, die fiir die Beurteilung von Hypothesen maBgebend sein mussen. Daneben konnen eine Fiille von weiteren Instanzen in Betracht kommen, die sich einer wahrscheinlichkeitsrechnungs- ma'Bigen Behandlung stets entziehen. Es bleibt Aufgabe eines gewissen Taktes, den Wert solcher Instanzen zu wSgen. Es ist also nicht unsere Meinung, daB bei der Bildung Oder Prufung einer Hppothese die Wahrschein- lichkeit derselben mathematisch berechnet werden miiBte oder auch nur konnte. Die Unmo'glichkeit einer solchen rechnerischen Prufung verbietet aber nicht, die allgemeinsten Kriterien fiir die Beurteilung von Hppothesen unter Hinzuziehung von Betrachtungen mathematischen Charakters abzuleiten. Denn diese Kriterien werden unter Voraussetzung vereinfachter Umsta'nde gewon- nen, die derartige Betrachtungen ermdglichen. 26 II. Der Wert der Hypothesen. dung von u1? u2, .... un gar nicht in Betracht kam, 1st nicht selbstverstandlich. Ur bildet eine Stichprobe, herausgenommen aus den nicht selbstverstandlichen Konsequenzen der Hypothese. 1st das Resultat einer oder gar mehrerer solcher Stichproben gunstig, so werden wir mit sehr schnell wachsender Wahrschein- lichkeit annehmen miissen, dafi alle Konsequenzen U, welche nicht unter den Uj, U2, Um sich befinden, ebenso richtig sein werden, als diese. Sind aber alle mo'glichen Konsequenzen richtig, so sind auch die un u2, . . . . un richtig, das heiBt die Hypothese ist zutreffend. Derartige Stichproben, Bestatigungen von Konsequenzen, die nicht bei der Bildung der Hppothese mit beriicksichtigt waren, heifien Verifikationen1). Es ist klar, dafi die Verifikationen den Wert von Hypothesen ganz ungemein erhohen. Um die Be- deutung von Verifikationen ins rechte Licht zu setzen, wollen wir uns den Fall einer solchen an einem Beispiel2) klar machen. Es mftgen zwei bewiesene Urteile, Uj und U2, vorliegen, die die Bildung einer Hypothese veranlassen, welche ihrerseits aus vier Ur- teilen, zwei richtigen, ux und u2, und zwei falschen, u3 und u4, be- stehen mag. Ux moge eine Konsequenz aus ux und u2 sein, U2 aus us und u4. Dann werden sich (natiirlich kommt der Inhalt der Urteile mit in Betracht) vielleicht aus un u2, u3, u4 aufier Uj und U2 noch ebensoviele richtige wie falsche Konsequenzen ziehen lassen. (Wahrscheinlich wird die Zahl der falschen Konsequenzen ') Leider ist auch hier der Sprachgebrauch nicht fest. Oft werden nicht nur diese Bestatigungen von bisher ungepriiften Konsequenzen, sondern vornehmlich Beweise von Hypothesen als Verifikationen bezeichnet. Comte (Cours de Phil. pos. Vol. II) neigt zu diesem Sprachgebrauch. Wir halten es fur zweckma'Big, Beweis und Verifikation auseinander zu halten. Werden beide Bezeichnungen nicht getrennt, so liegt immer die Gefahr vor, daB auch die Begriffe nicht reinlich geschieden werden. 2) Von dem fingierten Beispiel moge man nicht mehr erwarten, als es leisten kann. Es soil nur die groBe Bedeutung von Verifikationen zeigen. Es soil nicht einen Fall von Hypothesenbildung wiedergeben, wie er sich im wissenschaftlichen Leben wirklich abzuspielen pflegt. Wie in der Anmer- kung zu S. 24 schon betont wurde, ist die rechnungsma'Bige Ausfiihrung der Feststellung von Wahrscheinlichkeitswerten nicht mOglich bei den wirklichen Hypothesen. Unser Beispiel ist also, wie die vereinfachenden Fiktionen der Physik, als Veranschaulichungsmittel zu betrachten. II. Der Wert der Hppothesen. 27 iiberwiegen; denn von den mOglichen richtigen Konsequenzen sind schon zwei, von den falschen aber 1st noch keine fortge- nommen.) Die Wahrscheinlichkeit, bei einer mo"glichen Verifi- kation eine der vorhandenen falschen Konsequenzen zu treffen, ist also Va- Hatte ich aber doch eine richtige Konsequenz ge- troffen, so ware dadurch die Zahl der noch ubrig bleibenden rich- tigen Konsequenzen noch verringert worden. Die Wahrschein- lichkeit, bei abermaliger Verifikation eine richtige Konsequenz zu treffen, ware demnach kleiner als %• Die Wahrscheinlichkeit, bei zwei Verifikationen trotz der beiden falschen Annahmen u3 und u4 richtige Konsequenzen zu treffen, ist demnach kleiner als V*. 1st also die Hypothese, die nur zwei bewiesenen Wahrheiten zu Liebe vier Annahmen ansetzte, auch nur halb falsch, so ist es schon recht unwahrscheinlich, dafi uns diese Fehler bei nur zwei Verifikationen verborgen bleiben. Eine Hypothese aber, die auf Grund von nur zwei bewiesenen Wahrheiten zu vier Annahmen greift, ist verhaltnismafiig ungunstig gestellt. Wir haben nicht die Wahrscheinlichkeit der Hypothese selbst berechnet, sondern die Wahrscheinlichkeit daftir, dafi eine Falsch- heit derselben unentdeckt bleibt, falls sie wirklich vorliegen sollte. Dafi aber die Hypothese uberhaupt falsche Annahmen enthalt, ist wiederum nur in bestimmtem Grade wahrscheinlich. Diese Wahrscheinlichkeit dafiir, dafi unsere Hypothese zur Halfte falsch sei, mo'ge wieder etwa Y2 betragen. Die Wahrscheinlichkeit dafiir, dafi eine solche Hypothese, wie die vorliegende (n = 4, m = 2, Zahl der Verifikationen = 2), falsch ist und dafi ihre Fehlerhaftigkeit doch nicht entdeckt wird bei den beiden Veri- fikationen, ist demnach kleiner als %. Das Beispiel zeigt deutlich den grofien Wert von Verifika- tionen. Ist eine Hypothese ganz oder teilweise unrichtig, so wachst die Unwahrscheinlichkeit, dafi diese Unrichtigkeit unent- deckt bleibt, sehr schnell mit der Zahl der erprobten Konse- quenzen. Dabei mtissen diese Konsequenzen voneinander unab- ha'ngig sein, und ebenso nicht direkt aus den bewiesenen Wahr- heiten ableitbar sein, auf Grund deren die Hypothese gebildet wurde, wenn sie den angedeuteten Wert besitzen sollen. Anderen- falls erhohen sie die Wahrscheinlichkeit der Hypothese nicht. Die Bestatigungen von Konsequenzen, die auch direkt aus Tat- 28 II. Der Wert der Hppothesen. sachen sich ergeben, und vielleicht durch eine auf diese ge- griindete Hypothese nur eher die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind oft als Verifikationen hingenommen worden. Dafi Hypo- thesen trotz zahlreicher scheinbarer Verifikationen gefallen sind, liegt daher sehr oft daran, dafi Konsequenzen, die direkt aus den Tatsachen folgten, erst durch Vermittlung der Hypothese entdeckt wurden, und daher den Anschein von Verifikationen erweckten. So wurden die Fluidatheorien der Wa'rme und Elek- trizitat anscheinend sehr oft verifiziert. In Wirklichkeit handelte es sich nur um die Bestatigung von Folgerungen, die sich auch direkt aus den der Hypothese zugrunde liegenden Erscheinungen ziehen lassen. Man schrieb den Wa'rme- und elektrischen Fliissig- keiten die beobachteten Eigenschaften der Wa'rme und Elektrizi- ta't zu; daher ist es nicht erstaunlich, dafi sich richtige Folgerungen ergaben, weil diese aus den beobachteten Phanomenen abgeleitet waren, die auf jene Fluida ubertragen wurden. Es handelte sich nur um scheinbare Verifikationen. Echte Verifikationen mtissen auf Grund der eigentlich hypothetischen Annahmen einer Hypo- these ableitbar sein, und nicht direkt aus den beobachteten Er- scheinungen folgen, die vielleicht mit in die Hypothese hinein- genommen worden sind. Wenn auf historische Falle hingewiesen wird, in denen Hypothesen trotz zahlreicher Verifikationen spater als unzutreffend abgelehnt wurden, so handelt es sich meist nur um scheinbare Verifikationen in dem ausgefiihrten Sinne. Der- artige Falle diirfen nicht als Instanzen angesehen werden, die den Wert von echten Verifikationen herabsetzen1). Die Bedeutung der Verifikationen fur den Wahrscheinlich- keitsgrad von Hypothesen hat Veranlassung gegeben zu einer bemerkenswerten Maxime in bezug auf die Bildung derselben. Die Maxime verlangt, man solle nur Hypothesen bilden, die Verifikationen zulassen. Sie ist formuliert worden in Comtes j/The'orie fondamentale des hypotheses"2). Comte sieht in der Hypothese ein machtiges Hilfsmittel der Wissenschaft. Aber eine Bedingung erscheint ihm unerla'Blich. ,,Cette condition, l) Diese Bemerkung ist z. B. Stallo gegeniiber zu berucksichtigen. A. a. O. S. 111. Man vergleiche auch die Bedenken J. St. Mills gegen die Verifikationen. Logik, Buch III, Kapitel XIV, § 6. *) Cours de Phil. pos. Vol. II, S. 336—353. II. Der Wert der Hypothesen. 29 jusqu'ici vaguement analysee, consiste a ne jamais imaginer que des hypotheses susceptibles, par leur nature, d'une verification positive, plus ou moins eloignee, mais toujours clairement inevitable, et dont le degre de precision soit exactement en harmonic avec celui que comporte 1'etude des phenomenes correspondants"1). Zu diesem Postulat haben wir ahnliche Bemerkungen hin- zuzufiigen, wie sie zu dem besprochenen Postulat der Einfach- heit zu machen waren. Auch dieses neue Postulat ist nur sekundarer Natur gegeniiber dem entscheidenden der Wahrschein- lichkeit. Hat eine Hypothese Aussicht auf Verifikationen, so ist das gewifi erfreulich; ist sie aber auch ohne Verifikationen ziem- lich wahrscheinlicfy so hat sie eben dadurch schon ein Daseins- recht. Uberdies ist Comte gegeniiber zu fragen, was es heifien solle, eine Hypothese lasse ,,ihrer Natur nach" Verifikationen zu oder nicht. Es gibt Hypothesen, bei denen der Weg zur Veri- fikation sofort bei ihrer Bildung in die Augen fallt, und andere, bei denen ein solcher Weg zunachst nicht zu finden ist. Aber die Behauptung, 'eine Hypothese lasse ihrer Natur nach keine Verifikation zu, mufi in vielen Fallen bedenklich erscheinen. Es ist sehr oft unmb'glich, bei der Erfindung einer Hypothese Ge- wifiheit dariiber zu erlangen, ob Mittel zu ihrer Verifikation sich einmal ergeben werden. Comte ist auf die Aussage, eine Hypothese miisse ihrer Natur nach Verifikationen ermftglichen, wenn sie Wert haben solle, gekommen, weil er bei Verifikationen mehr an Beweise denkt. Bei unserer Betrachtung hat sich ergeben, daB die Veri- fikationen im angefiihrten Sinne zwar sehr geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese zu steigern; aber bewiesen wird diese durch sie doch nur in besonderen, leicht erkennbaren Fallen. Comte denkt bei Verifikationen in den zitierten Aus- fiihrungen eigentlich mehr an Beweise. Nach seiner Oberzeugung diirfen keine Hypothesen gebildet werden, die nicht ihrer Natur nach spater einmal zu bewiesenen Wahrheiten werden konnen. ,,En d'autres termes, les hypotheses vraiment philosophiques doivent constamment presenter le caractere de simples antici- ') S. 337. 30 H. Der Wert der Hypothesen. pations sur ce que 1'experience et le raisonnement auraient pu devoiler immediatement, si les circonstances du probleme eussent etc plus favorables"1). Gegen eine derartig enge Auffassung der Hypothesen legt die Geschichte der Wissenschaft einen entschiedenen Protest ein. Oberall, wo der menschliche Geist Gewifiheit nicht erlangen konnte, hat er in der Erreichung moglichst hoher Wahrschein- lichkeit intellektuelle Befriedigung gesucht. Und die Wahrschein- lichkeit erscheint nicht nur deshalb wertvoll, weil sie vielleicht einmal der GewiBheit Platz machen wird. Die Wahrscheinlich- keit hat im praktischen Leben und in der Wissenschaft an sich einen Wert. Wo eine hohe Wahrscheinlichkeit erreichbar ist, diirfte kein denkender Mensch auf diese verzichten, weil sie vielleicht nie einer Gewifiheit Platz machen wird. Eine Hppo- these ist durchaus nicht darum eine willkurliche Annahme, weil sie ihrer Natur nach unbeweisbar scheint, wie Comte meint [S. 338]. Sie ist deshalb nicht willkiirlich, weil sie so gebildet sein muB, dafi der hochste erreichbare Grad von Wahrscheinlich- keit erlangt wird. Gewifi sind diese Wahrscheinlichkeitsgrade bei den wirklichen Hjppothesen des wissenschaftlichen Lebens nicht mathematisch feststellbar; deshalb bleibt aber doch in zahl- reichen und wichtigen Fallen die Moglichkeit, zu entscheiden, welche von einer Reihe von mOglichen Hypothesen den Vorzug der grOBten Wahrscheinlichkeit hat. Die Tatsache, daB dies nicht in alien Fallen mit Sicherheit geschehen kann, andert daran nichts. Ebenso wenig, wie stets mit Sicherheit entschieden werden kann, ob eine etwa zu bildende Hypothese Verifikationen er- moglicht, ist in alien Fallen auszumachen, ob sie einmal beweis- bar oder widerlegbar wird. Gegen den Ausdruck ,,ihrer Natur nach" sind an dieser Stelle die Bedenken also zu erneuern. Die Molekulartheorie erscheint dem einen Forscher unbeweisbar, weil die Molekiile ,,ihrer Natur nach" nicht wahrgenommen werden konnen. Jener dagegen hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dafi die Molekel einst einzeln sichtbar gemacht werden konnen, etwa nach der Art, wie ultramikroskopisch kleine suspendierte Teilchen triiber Losungen als einzelne glanzende Piinktchen wahrnehmbar ») S. 337—338. II. Der Wert der Hypothesen. 31 zu machen sind. Wer soil entscheiden, wem die Zukunft Recht geben wird? Wie vieles ist nicht bewiesen, wahrnehmbar ge- macht worden, was fiir stets der Gewifiheit sich zu entziehen schien! Die Luft erscheint dem einfachen Menschen zunachst als das Nichts, dann wenigstens als unsichtbar, und doch kftnnen die feinen Bewegungen derselben, die einen leisen Ton ergeben, sichtbar gemacht werden. Die Aussage, etwas sei ,,seiner Natur nach" unbeweisbar, ist zu absolut, zu wenig empiristisch ge- dacht, urn in Comtes Gedankenbau zu passen. Gewifi ist es schon, wenn wir bei der Formation einer Hppothese finden, daB eine sichere Entscheidung iiber die Richtigkeit derselben ge- wonnen werden kann; aber in alien anderen Fallen der Vernunft verbieten zu wollen, wenigstens eine Wahrscheinlichkeit zu er- obern, ist ein engherziger Radikalismus, dem sich das Denken nie unterworfen hat und nie unterwerfen wird. Auf dem Standpunkte Comtes finden wir Ostwald. Er bezeichnet Annahmen (oder Komplexe von solchen), die Comtes Anspriichen an eine Hypothese geniigen, als Protothesen. Sie werden scharf von den anderen Hppothesen getrennt. Die Konstruktion von Hypothesen, die nie bewiesen werden ko'nnen (als typisches Beispiel gilt Ostwald die Atomtheorie1)), wird auf das scharfste kritisiert. Ihre Bildung ist ho'chstens ,,insofern ein berechtigtes Verfahren, als die Kriicke ein berechtigtes Be- wegungsmittel ist: fiir den, der nicht anders zu gehen versteht"2). Ostwald glaubt ohne diese Kriicke gehen zu ko'nnen, ein Buch iiber Naturphilosophie schreiben zu kOnnen, ohne eine Hypothese machen zu miissen8). — Ganz anders stehen die Protothesen bei ihm in Achtung. ,,Daneben gibt es ein vOllig legitimes wissenschaftliches Hilfsmittel, welches man als vorlSufige An- nahme, oder wenn man ein ahnlich klingendes Wort will, als Protothese bezeichnen kann. Eine Protothese stellt man auf, wenn man auf Grund vorhandener, aber noch nicht geniigend umfassender Beobachtungen eine bestimmte mathematische Be- ziehung zwischen den gemessenen Grofien, oder eine kausale 1) Ostwald, Vorlesungen iiber Naturphilosophie. S. 399. 2) Ebendaselbst. S. 215. 8) Siehe das Zitat S. 7. 32 II. Der Wert der Hypothesen. zwischen beobachteten Veranderungen annimmt, und nun weitere Versuche dahin richtet, zu priifen, ob diese Annahme auch die spateren Beobachtungen darstellt oder nicht" [Ebendaselbst S. 399]. Nach dem, was iiber Comtes Auffassung gesagt wurde, sind weitere Ausfiihrungen hier unnotig. Nur mag noch erwahnt werden, dafi alle auf Grund von Analogic oder un- zureichender Induktion gemachten Annahmen, soweit sie priifbar sind, als Protothesen nach obiger Definition zu bezeichnen waren. Dabei meint Ostwald mit dem Wort e priifbar nicht nur verifizierbar in dem von uns angenommenen Sinne, sondern be- weisbar. Verifizierbar ist auch die Atomhppothese; sie ist in der Tat im Laufe der Zeit recht oft verifiziert worden. Aber sie ist nur eine Hypothese, keine Protothese, da sie nicht priif- bar ist, dafi heifit nicht als wahr oder falsch bewiesen werden kann. - - Dafi bei der Entscheidung, ob eine Annahme hypo- thetischer oder protothetischer Natur sei, immer Meinungs- verschiedenheiten sich bilden werden, ist selbstverstandlich2); was diesem Forscher noch ,,priifbar" erscheint, wird einem anderen der Entscheidung unzuganglich diinken. Das wird manchem Leser des Ostwaldschen Buches aus eigener Er- fahrung bekannt sein. Was dort als prufbar und darum proto- thetisch gilt, erscheint ihm vielleicht giinstigstenfalls nur ,,veri- fizierbar" und daher hypothetisch — und damit wird nach unserer Auffassung den betreffenden Annahmen selbst noch kein Vorwurf gemacht. Auch John Stuart Mills Theorie der Hppothesenbildung klingt in vielen Punkten an die Comtesche an. Nur bewahrt sich auch hier, wie bei so vielen Problemen, die iiberlegende Vorsichtigkeit Mills gegeniiber dem genialischen Radikalismus des franzosischen Positivisten 3). ,,Eine Hppothese ist eine Voraussetzung, welche wir machen (entweder ohne einen wirk- lichen, oder bei einem anerkannt unzureichenden Beweise), urn Schliisse daraus abzuleiten, die mit Tatsachen in Uberein- ») Ebendaselbst. S. 399. 2) Vergl. G. Heymans: Uber Erklarungshypothesen usw. Ostwalds Annalen. Bd. I, S. 473 f. 3) J. St. Mill: System der deduktiven und induktiven Logik. 3. Buch, 14. Kap. II. Der Wert der Hypothesen. 33 stimmung sind, welche wir als real erkannt haben. Wir sind dabei von dem Gedanken geleitet, dafi, wenn die Schliisse, zu denen die Hypothese fiihrt, bekannte Wahrheiten sind, die Hypo- these selbst wahr sein mufi, oder wenigstens sehr wahrscheinlich wahr sein wird" x). ,,Da eine Hypothese eine blofie Voraussetzung ist, so gibt es fur Hppothesen keine anderen Grenzen, als die Gesetze der menschlichen Einbildungskraft . . .u [S. 11]. Diese sehr weite Auffassung wird aber bald in Comtes Sinne be- schrankt. ,,Es scheint (!) demnach eine Bedingung einer wahr- haft wissenschaftlichen Hppothese zu sein, dafi sie nicht dazu bestimmt sei, immer eine Hypothese zu bleiben, sondern dafi sie der Art sei, daft sie durch die Verifikation genannte Ver- gleichung mit bekannten Tatsachen entweder bewiesen oder widerlegt werde" [S. 16]. Es ist ,,unerlafilich, wie Herr Comte richtig bemerkt, dafi die in der Hppothese angegebene Ursache ihrer eigenen Natur nach fahig sei, durch einen andern Beweis bewiesen zu werden" [S. 17]. Handelt es sich urn ein aus dem Leben gegriffenes Beispiel, so will Mill doch den letzten Schritt mit Comte nicht tun. Bei der Besprechung der Undulations- und Athertheorie des Lichtes heifit es: ,,Nichtsdestoweniger kann ich Herrn Comte nicht zustimmen, wenn er diejenigen tadelt, welche die Anwendung dieser Hppothesen auf die Erklarung festgestellter Tatsachen ins einzelne ausarbeiten, vorausgesetzt man vergesse nicht, dafi man hochstens beweisen kann, nicht dafi die Hypothese wahr ist, sondern sein kann" [S. 27—28]. Die Atherhypothese ist ,,nur eine wahrscheinliche Vermutung, nicht aber eine bewiesene Wahrheit..." [S. 28]. Hier lafitMill eine ,,wahrscheinliche Vermutung" gelten, die Comte, als un- beweisbar, ablehnen zu miissen glaubte. Hofft Mill auf einen Beweis? Zuweilen klingt es fast so [S. 28]. Dann zeigt der Fall deutlich, wie wenig von vornherein ausgemacht werden kann, ob eine Hypothese ,,ihrer Natur nach" dem Beweise zu- ganglich ist. Comte glaubt es bei der Athertheorie nicht an- nehmen zu sollen; Mill scheint auf einen Beweis zu hoffen. Was Mill verhindert, die Wahrscheinlichkeit von Hppothesen J) Ubersetzung von J. Schiel, 4. deutsche, nach der 8. des Originals erweiterte Auflage (1877). Bd. II, S. 10. Becher, Philosoph. Voraussetzungen. 3 34 H. Der Wert der Hypothesen. als ein erstrebenswertes Ziel fiir sich vollauf zu wiirdigen, ist seine Auffassung vom Wesen der Logik. Nach ihm hat es die Logik vornehmlich mit dem Beweise zu tun *). Daher untersucht er im Kapitel iiber die Hppothesen in erster Linie die Frage, wie diese beweisbar sind2). Die Antwort lautet, daB ,,durch den Nachweis, dafi keine andere Hypothese mit den Tatsachen iibereinstimmt", die Hypothese ,,zu einer induktiven Wahrheit" wird [S. 13]. Bei der Millschen Fragestellung versteht sich von selbst, daB die Hypothese als beweisbar anzunehmen ist; denn sonst kann nicht untersucht werden, wie dies geschehen soil. So kommt Mill nicht zu einer angemessenen Schatzung des Wertes von Hypothesen auf Grund ihrer Wahrscheinlichkeit, ab- gesehen davon, ob sie beweisbar sind oder nicht. Tritt ein konkreter Fall an ihn heran, so bestimmt ihn sein wissenschaft- liches Taktgefiihl, auch den nicht strikte beweisbaren Hypothesen einigermafien gerecht zu werden. Neben den angedeuteten Anforderungen, die an Hypothesen gestellt zu werden pflegen, ist noch eine nicht geringe Zahl weiterer Postulate erhoben worden. Besonders die englische Logik ist reich an Ausfiihrungen zu unserem Gegenstande. Da indessen bei diesen Ausfiihrungen meist besondere Gesichts- punkte hinzukommen, etwa der Unterschied ,,geheimer" und ,,phanomenaler" Ursachen3), kann in dieser allgemein zu haltenden Betrachtung auf sie noch nicht eingegangen werden. Einiges wird sich bei spaterer Gelegenheit nachholen lassen. ') ,,The proper subject, however, of Logic is Proof." Logik, Book II, Chapter I, § 1. Ahnlich: Introduktion § 4 und 5, B. I, Ch. VI, § 1, B. Ill, Ch. IX, § 6. *) Man vergleiche z. B. auch B. Ill, Ch. IX, § 6: The great generali- sations which begin as Hypotheses must end by being proved, and are in reality (as will be shown hereafter) proved, by the Four Methods. Now it is with Proof, as such, that Logic is principally concerned. 8) Man wird hierbei an den nicht ganz klaren Begriff der vera causa bei Newton denken. Energisch stellt Comte die Forderung auf, daB alle hypothetischen Ursachen phanomenaler Natur sein mlissen. Auch Mill ist wieder zu nennen. Es muB ubrigens erwahnt werden, daB der Begriff des Phanomenalen bei der ErOrterung dieser Frage keineswegs immer scharf und sicher gefaBt worden ist. Es macht einen groBen Unterschied, ob man an mogliche oder nur an wirkliche Phenomena denkt. II. Der Wert der Hppothesen. 35 Die Frage nach der Zulassigkeit nicht phanomenaler Ursachen kann in der Tat von uns erst erortert werden, nachdem das Problem des Nichtphanomenalen im allgemeinen einer Untersuchung unter- zogen worden ist. Das wird unsere nachste Aufgabe sein. Zunachst mag der Kern der vorhergehenden Betrachtung noch einmal hervorgehoben werden: Das ursprunglich fur den Wert oder Unwert einer Hypothese entscheidende ist die Wahr- scheinlichkeit. Von besonderer Bedeutung fur die Feststellung und Erhohung derselben sind echte Verifikationen. Alle iibrigen Postulate tiber Hypothesenbildung sind nur sekundarer, ab- geleiteter Natur gegenuber diesem einen: eine Hypothese soil so wahrscheinlich sein als moglich. Die Frage nach der Berechtigung der Hypothesen, auch wenn sie wenig oder keine Hoffnung auf eine beweisende Ent- scheidung zulassen, fallt zusammen mit der Frage nach der Berechtigung der Wahrscheinlichkeit an sich in der Wissenschaft uberhaupt. Hat die Wahrscheinlichkeit an sich einen wissen- schaftlichen Wert, oder ist sie nur insoweit bedeutungsvoll, als sie Hoffnung zulafit, einmal der Wahrheit, der sicheren Ent- scheidung Platz zu machen? Mich diinkt, die Frage ist zu be- antworten wie eine andere: Hat eine Abschlagszahlung nur einen Wert, sofern zu hoffen ist, dafi einmal die ganze Schuld be- glichen wird, oder soil man sie auch anderenfalls nicht verachten? Wohl selten wird sich im Erwerbsleben ein so temperamentvoller Mensch finden, der ,,alles oder nichts" sagen wurde. Warum sollte die Wissenschaft weniger niichtern verfahren? Ich glaube, Selbstbesinnung und Geschichte der Forschung, vor allem auch der physikalischen, lehren, dafi die Abschlagszahlung der Wahr- scheinlichkeit auch dann nicht verachtet werden darf, wenn jede Aussicht auf den Erwerb der Wahrheit selbst abgeschnitten scheint. Ist ein Denker zu stolz, mit der Wahrscheinlichkeit vorlieb zu nehmen, wo die Wahrheit unerreichbar scheint, so bleibt das Sache seines personlichen Beliebens. Nur diirfte sich leicht zeigen lassen — und das folgende mag zum Teil als Beweis dafur aufgefafit werden — , dafi mindestens der grofite Teil dessen, was unter der anspruchsvollen Bezeichnung Wahr- heit aufzutreten pflegt, nichts ist als hohe Wahrscheinlichkeit. 3* III. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit and der Realitat der Auftenwelt. Die fiir die Beurteilung von Hypothesen gewonnenen Ge- sichtspunkte wollen wir in den folgenden Abschnitten anwenden auf die Hypothese der Einzelwissenschaften par excellence, d. h. auf die Annahme der Existenz einer von der Wahrnehmung un- abhangigen, mehr oder weniger erkennbaren Aufienwelt. Der naive Mensch wie der einzelwissenschaftliche Forscher nehmen in gleicher Weise an, dafi die Gegensta'nde der Aufienwelt, die ko'rperlichen Dinge, nicht nur dann sind, wenn ein wahrnehmendes Wesen sie sieht, tastet, hb'rt usw. Die Wahrnehmungen sind nach der Ansicht des schlichten Menschenverstandes nur etwas, was sich ereignet, wenn ein korperliches Ding in bestimmte Be- ziehungen, namlich in Wahrnehmungsbedingungen zu einem wahrnehmungsfahigen Wesen gelangt. Der Ko'rper selbst ist von dem Wahrgenommenwerden vOllig unabhangig; die Wahr- nehmung ist aber von dem Dinge der Aufienwelt abhangig. Sie kommt nur zustande, wenn ein ko'rperlicher Gegenstand sich in nicht zu grofier Entfernung von unserem Ko'rper befindet, in unserem Gesichtsfelde ist usw. Das wissenschaftliche Denken fafit das Bedingtsein der Wahr- nehmung durch die Gegenstande der Aufienwelt auf als ein Ver- ursachtsein. Fiir eine von erkenntnistheoretischen Meinungen nicht angefochtene Psychologic ergeben sich die Sinneswahr- nehmungen als Wirkungen von Vorgangen, die sich in der Aufien- welt abspielen, den Reizen. Der wahrgenommene Ko'rper ver- ursacht die Wahrnehmung als Wirkung. Solange die Oberzeugung herrscht, dafi die Wirkung der Ursache im Grunde gleich oder sicherlich doch ahnlich sein III. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. 37 mufi1), ist diese Auffassung der Wahrnehmung als einer Wirkung der Aufienwelt vereinbar mit der Ansicht, daB die Wahrnehmung der verursachenden Aufienwelt gleich oder ahnlich sei. Aller- dings liegt doch schon eine Variation der naiven Auffassung vor, soweit von einer solchen uberhaupt gesprochen werden darf. Der naiven Uberzeugung gilt das Rot der Rose, welches ich sehe, als identisch mit dem Rot, das die Rose selbst hat. Es existiert fur sie nur das eine Rot, und dies sehe ich gelegent- lich2). Die Aufienwelt und die Wahrnehmung derselben sind inhaltlich und numerisch identisch, kann man sagen. Wird aber die Wahrnehmung als Wirkung der Aufienwelt aufgefafit, so tritt an Stelle dieser auch numerischen Identitat von Aufienwelt und l) Die Annahme, daB Ursache und Wirkung gleich oder doch ahnlich sein miiBten, deckt sich natiirlich nicht immer mit der andern, nach der aus der Ursache die Wirkung und aus der Wirkung die Ursache analytisch-rational ableitbar ist. Beide Annahmen sind von groBem EinfluB gewesen und oft zusammengefallen. So muB z. B. bei Aristoteles der geformte Stoff der Form, die Wirkung der Formursache gleichen und aus ihr mehr oder weniger ab- leitbar sein. Der Satz, daB Bewegung nur Bewegung bewirken konne, nimmt auch an, daB in diesem Falle die Wirkung der Ursache gleicht. Nicht erst .auf wissenschaftlichem Boden, sondern schon in dem naivsten Volksglauben finden wir die Uberzeugung, daB die Wirkung der Ursache gleichen, ahnlich sein miisse. In der Volksmedizin spielt diese Annahme ihre Rolle. Belege hierfiir findet man z. B. bei Mach, Wa'rmelehre, S. 433. Wie die Uberzeugung der Gleichheit oder Ahnlichkeit von Ursache und Wirkung entstehen konnte, ist leicht ersichtlich. Feuer bewirkt Feuer usw. Dazu kommt die Verwandtschaft von Wirkung und Erzeugung. Die Wirkung gleicht der Ursache, wie das Kind dem Vater. Schon die Beispiele der Bewegung und des Feuers zeigen, daB in der Annahme einer gewissen Ahnlichkeit oder Ubereinstimmung von Ursache und Wirkung ein richtiger Kern steckt. Die Munze gleicht auch der Matrize. Naturlich bleibt dabei der Kausalzusammenhang durchaus synthetisch. Damit wird aber der Ursache nicht jede Ubereinstimmung mit der Wirkung zu nehmen sein. Ein dreifaches Streichen eines Bleistiftes iiber Papier ruft drei Striche hervor. Derartige Ubereinstimmungen sind, wie im folgenden zu zeigen ist, wichtig fiir die Frage nach der Erkennbarkeit der AuBenwelt. *) Es ist nicht ganz einfach, die Auffassung des gemeinen Menschen- verstandes festzustellen. Durch die notwendigen Fragestellungen wird der unbefangene Standpunkt leicht schon gestort und eine Reflexion iiber das AuBenweltsproblem herbeigefUhrt, die zu Umdeutungen fiihren kann. Soviel scheint mir aber sicher, daB der unbefangene Mann aus dem Volke die Wahrnehmungen der Farbe, der Warme, der Giatte, der Rauhig- 38 HI- Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. Wahrnehmung derselben eine nur inhaltliche Gleichheit oder Ahnlichkeit. Das Rot, welches ich sehe, ist nicht mehr das Rot der Rose selbst, sondern eine Wirkung der roten Farbe der Rose, die zwar dieser Farbe als ihrer Ursache gleich oder ahn- lich, aber nicht mit ihr numerisch identisch ist. Die Wahrnehmung ist ein Abbild des wahrgenommenen Gegenstandes, das diesem inhaltlich gleich oder doch ahnlich ist. An Stelle der Einheit der Farbe in korperlichem Gegenstand und Wahrnehmung tritt eine Zweiheit von Farbe am Kb'rper und gesehener Farbe. Diese erste wissenschaftliche Modifikation der kaum einmal zum vollen Bewufitsein gelangenden naivsten Ansicht bedeutet einen betrachtlichen Fortschritt. Die Uberzeugung, dafi das Rot der Rose und das Rot, welches ich sehe, ein und dasselbe seien, kann leicht widerlegt werden. Sehen zwei Menschen gleichzeitig dieselbe Rose, der eine direkt, der andere durch ein triibes Glas, so sind die beiden roten Farben, die gesehen werden, nicht ein- mal inhaltsgleich, also auch nicht numerisch identisch. Sind die beiden gesehenen roten Farben nicht miteinander identisch, so k5nnen sie auch nicht numerisch identisch sein mit dem Rot der Rose selbst. Die numerische und inhaltliche Identitat von Wahr- nehmung und wahrgenommenem Gegenstand der Aufienwelt ist unmoglich, weil zwei Wahrnehmungen desselben Gegenstandes, auch wenn sie gleichzeitig erfolgen, nicht inhaltlich und daher auch nicht numerisch identisch untereinander zu sein brauchen. Sind sie aber untereinander nicht identisch, so kb'nnen sie auch nicht beide mit einem dritten, dem Gegenstande der Aufienwelt, identisch sein. Diese Schwierigkeit ist durch den zweiten Stand- keit, des Geruchs, des Geschmacks, auch des Tones, selten als Wirkung einer AuBenwelt auffaBt. Er meint vielmehr in diesen Wahrnehmungen direkt die Eigenschaften der AuBenwelt selbst zu erfassen. Das Rot, das er sieht, ist das Rot der Rose selbst, nicht eine Wirkung des letzteren. Hier ist aber doch eine Einschrankung zu machen. Erhalt jemand einen kra'ftigen StoB, so wird der dadurch hervorgerufene GesamtbewuBtseins- zustand als Wirkung, als subjektiv aufgefaBt. Sobald Gefuhle mit den Wahr- nehmungen verbunden sind, kommt der Gedanke, daB Wirkungen der AuBen- welt vorliegen. Darin zeigt sich, daB die Gefuhle den subjektiven Charakter tragen gegeniiber den Empfindungen. Das Gefiihl wird sofort auf den eigenen Zustand bezogen und daher als eine Wirkung der AuBenwelt auf das Sub- jekt aufgefaBt. III. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. 39 punkt beseitigt, der in der Wahrnehmung eine Wirkung der Dinge der Aufienwelt sieht. Eine Wirkung ist ja stets bedingt durch mehrere Umstande, durch eine Vielheit von Ursachen. Wenn sich mehrere Wahrnehmungen desselben Gegenstandes der Aufienwelt gleichen oder ahnlich sind, so kann das Gleiche, Ubereinstimmende in den verschiedenen Wahrnehmungen durch den einen Gegenstand der Aufienwelt verursacht sein, das Ab- weichende in ihnen aber auf die daneben noch mitwirkenden Ursachen zuriickgefuhrt werden. Wenn eine rote Rose bei mehreren Wahrnehmungen verschieden rot gesehen wird, so mag die Verschiedenheit des gesehenen Rot durch die Verschieden- heit anderer Wahrnehmungsumstande bedingt sein. Dafi aber die Rose bei den verschiedenen Wahrnehmungen immerhin doch jedesmal rot gesehen wird, ware darauf zuriickzufuhren, dafi in diesem Punkte die Wirkung von der roten Farbe des Gegen- standes verursacht ist, und daher mit dieser Ursache iiberein- stimmen, ihr gleichen mufi. Es ware also alles dasjenige dem wahrgenommenen Gegenstande zuzuschreiben, was in wieder- holten Wahrnehmungen des Gegenstandes iibereinstimmend ist. Ein Korper, der bei wiederholten Beriihrungen kalt erscheint, ist kalt; ein Ding, das bei wiederholten optischen Wahrnehmungen blau erscheint, ist in Wirklichkeit, als Gegenstand der Aufien- welt, blau1). Indessen treten bei einer genaueren Anwendung des soeben ausgesprochenen Prinzips neue Schwierigkeiten auf. Ich komme aus einem heifien Zimmer und betaste mit alien Fingern einen KOrper. An alien Fingern haben ich Wahrnehmungen der Kalte. !) Wenn im folgenden das hier angegebene Kriterium verworfen, als unrichtig erwiesen wird, so wolle man das nicht miBverstehen. Es ist nur falsch, wenn man das in mehrfachen Wahrnehmungen Ubereinstimmende auf die Aufienwelt iibertragt. Wird die Obereinstimmung bei wiederholter Wahr- nehmung als Kriterium dafiir aufgefaBt, was einem Gegenstande des Denkens iiberhaupt zuzuschreiben ist, so soil dagegen selbstverstSndlich nichts ein- gewandt werden. Habe ich den Schnee in alien Wahrnehmungen iiberein- stimmend weiB erblickt, so darf ich selbstverstandlich den Schnee weiB nennen. Nur ist das WeiB dem Schnee natiirlich nicht zuzuschreiben, sofern dieser etwa unabhangig von der Wahrnehmung, in der AuBenwelt existiert. Uber das Kriterium vergleiche man: B. Erdmann, Logik. Bd. I, S. 272 — 273. 2. Auf I., S. 376 f. (Halle 1907). 40 HI. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. Nach unserem Grundsatz mufi ich also dem Korper Kalte zu- schreiben, d. h. etwas, was meiner Wahrnehmung Kalte gleicht oder ahnlich ist. Habe ich aber vor der Beriihrung des KOrpers die eine Hand in heiBes, die andere in sehr kaltes Wasser ge- taucht, so nehme ich mit der ersteren Kalte, mit der letzteren Warme bei der Beriihrung wahr. Ich kann die Beriihrung mit verschiedenen Fingern der einen und der anderen Hand vor- nehmen und so mehrere Kalte- und mehrere Warmewahrnehmungen erhalten. Soil ich nun Kalte oder Warme dem KOrper zuschrei- ben? Beide Wahrnehmungen sind wiederholt zu machen. So- wohl Wa'rme als auch Kalte mufiten also dem Gegenstande der Aufienwelt zukommen. Eine rote Rose gibt direkt rote Gesichts- wahrnehmungen durch weifies und rotes Glas gesehen, graue oder doch wenig farbige durch gelbes, grimes, blaues gesehen. Ist also die Rose selbst an derselben Stelle rot und grau, d. h. so rot und so grau, wie unsere Empfindungen Rot und Grau? Fur unsere Wahrnehmung ist eine Fla'che, die rot ist, nie zu- gleich grau. Wir ko'nnen uns auch nicht vorstellen, dafi etwas, eine Rose, an derselben Stelle zugleich rot und grau sei, eben- sowenig, dafi ein Ko'rper zugleich warm und kalt sei. Nicht bei allem, was wir den Gegenstanden der AuBenwelt zuschreiben, kommen wir in gleiche Verlegenheiten. Ein aus- gedehnter Korper erscheint nicht bei Gelegenheit einmal zu- gleich nicht ausgedehnt. Die Ausdehnung kann zu- und ab- nehmen, aber nicht verschwinden, ohne dafi der Korper iiberhaupt aus der Wahrnehmung verschwindet *). Auch ist die Ausdehnung durch die Bedingungen der Wahr- nehmung nicht so in ein kontrares Gegenteil umkehrbar, wie das bei Wa'rme und Kalte der Fall war. Es besteht hier, wie es scheint, ein Unterschied, der eine genauere Untersuchung erheischt. Zu dem zweiten Standpunkt waren wir gelangt, indem wir J) Ob das nur mit Einschrankungen gesagt warden darf, soil hier nicht untersucht werden. Es ware zu fragen, ob etwa im Augenblicke des Ver- schwindens aus der Gesichtswahrnehmung durch wachsende Entfernung eine Empfindung ohne Ausdehnung anzunehmen ist. Siehe D. Hume, Traktat iiber d. menschl. Nat. Bd. I, Teil II, Abschnitt 1. Ubers. von Kottgen & Lipps. S. 42 (1895). III. Kritik der Hppothese von der Erkennbarkeit usw. 41 voraussetzten, daB die Wirkung der Ursache gleichen oder ahn- lich sein mtisse. Die Voraussetzung ist durch Humes und Kants Untersuchungen als irrig erwiesen worden. Die Wirkung braucht der Ursache durchaus nicht zu gleichen oder ihr ahn- lich zu sein. Dasjenige an einem Gegenstande der AuBenwelt, was die Wahrnehmung der roten Farbe, der Warme bewirkt, braucht nicht selbst dieser Rot- oder Warmewahrnehmung zu gleichen. Es kann etwas ganz anderes sein. Es ist gar kein Grund zu der Annahme einer Gleichheit oder Ahnlichkeit zwischen der Ursache der roten Farbe in der AuBenwelt und der Wahrnehmung Rot vorhanden. Eine solche Ubereinstimmung miifite uns daher als vOllig ,,zufallig" erscheinen. Zu dem gleichen Resultat fiihrt auch eine genauere Unter- suchung der kausalen Vorgange bei der Wahrnehmung. Wenn ich einen kalten Korper betaste, so wirkt dieser Kb'rper auf meine Haut und damit auf meine Nerven. Das, was sich nun im Nerv als Wirkung abspielt, ist schon etwas ganz anderes als die Eigenschaft des Dinges, die sie hervorrief. Die Wirkung pflanzt sich fort vom peripheren Nervenende bis zur GroBhirnrinde, d. h. es spielt sich ein sehr komplizierter Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen ab. Dem Vorgang in der GroBhirn- rinde entspricht die Wahrnehmung ,,Kalte". Man weifi nicht einmal, ob dies ,,Entsprechen" von Wahrnehmung und GroBhirn- rindenvorgang als ein kausaler Zusammenhang aufzufassen ist; weiB man doch nicht einmal, ob die Wahrnehmung nach, gleich- zeitig mit oder - - so* paradox es klingen mag - - vor dem Rindenvorgang zustande kommt. Wir brauchen hier die Frage nach Parallelismus, Wechselwirkung oder irgendeiner sonstigen Hypothese nicht zu untersuchen. Soviel ist jedenfalls klar, daB die direkte Wirkung eines korperlichen Dinges die Wahrnehmung desselben nicht ist. Wem sollte nun diese Wahrnehmung der Kalte etwa gleich sein? Sicherlich nicht dem, was den Nerven- reiz bewirkt. Denn es miiBte uns als ungeheurer Zufall erscheinen, daB nach einer so langen Reihe von kausalen oder anderen Zu- sammenhangen in der Wahrnehmung, dem Endglied, wieder etwas zustande kame, was dem Anfangsglied gleich oder ahn- lich ware. Es ergibt sich iiberdies sicher, daB dieser Zufall nicht immer Of THE UNIVERSITY >, OF C^LI FORMAL, 42 "II. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. besteht. Der Wahrnehmungsvorgang hangt - - einerlei wie — mit dem GroBhirnrindenvorgang und damit sekundar mit dem Nervenvorgang zusammen. Der letztere wird erst bewirkt durch den Reiz eines ko'rperlichen Dinges. Die Wahrnehmung wird von dem nervbsen Vorgang also direkt, von dem Reiz nur in- direkt abhangig sein. Auf den GroBhirnrindenvorgang kommt es an, nicht darauf, wie dieser zustande kommt. Die Erfahrung zeigt, daB gleiche nervo'se Prozesse durch verschiedene Reize ausgelbst werden kb'nnen. Der Sehnerv kann durch Licht, durch Druck, durch Elektrizitat gereizt werden; immer entsteht ein Vorgang im Nervensystem, dem eine Lichtempfindung entspricht. Das Gesetz von den spezifischen Sinnesenergien gibt die Ver- allgemeinerung dieser Erfahrung. Es kb'nnen selbst Vorgange im Gehirn zustande kommen, denen ,,Wahrnehmungen" ent- sprechen, wenn keine oder nur ganz untergeordnete auBere Reize vorhanden waren, wie im Traume, bei Halluzinationen. Wir nehmen aus guten Griinden an, daB auch in diesen Fallen wenigstens zugehorige GroBhirnrindenvorgange bestehen; auch das ist nur induktiv-analogisch erschlossen. Soviel ist jedenfalls klar, daB von einer inhaltlichen Gleich- heit oder Ahnlichkeit zwischen einem Dinge der AuBenwelt und seiner Wahrnehmung nicht die Rede sein kann. Sehe ich eine Rose rot, so wird die Rose nicht in der AuBenwelt rot sein, d. h. nicht dem gleichen, was ich rot in der Wahrnehmung nenne; duftet sie in charakteristischer Weise, so darf ich nicht glauben, daB ihr dieser Duft auch in ahnlicher oder gar gleicher Weise zukommt, wenn keiner da ist, den Duft zu riechen. Fiihlen sich die Blatter weich und glatt an, so darf ich nicht meinen, etwas dieser Wahrnehmung ,,weich" und ,,glatt" Ahnliches komme den Slattern auch zu, wenn keine Hand sie tastet. Man drtickt den Sachverhalt so aus, daB gesagt wird, Far- ben, Geruche, Tastwahrnehmungen usw. seien subjektiv, kurz, die Qualitaten der Empfindung seien lediglich subjektiv. Die Wissenschaft hat die Subjektivitat der Sinnesqualitaten schon friih erkannt. Die neuere Physik hat seit ihrem Aufbliihen diese Erkenntnis sich zu eigen gemacht. Und diese Erkenntnis ist zum machtigen Antrieb fur die Konstruktion der mechanischen Naturauffassung geworden. Fur Galilei und Descartes steht III. Kritik der Hppothese von der Erkennbarkeit usw. 43 diese Auffassung bereits fest. Locke, der philosophische Vor- arbeit leisten will fur die grofien Naturforscher seiner Zeit1), gibt nur deren herrschende Lehre wieder in seiner bekannten For- mulierung von der Subjektivitat der sekundaren Qualitaten. Aber die Naturwissenschaft hat nur die Konsequenzen ge- zogen, zu denen sie notwendig gedrangt wurde. Sie hat nicht den ganzen Inhalt der Wahrnehmung preisgegeben. Gewifi, Farbe, Ton, Geruch usw. darf man nicht ohne weiteres von der Wahrnehmung auf die Aufienwelt ubertragen, weil ihre Abhangig- keit von subjektiven Faktoren zu offenbar ist. Aber wir sahen, dafi es mit anderen Bestandteilen der Wahrnehmung eine andere Bewandtnis hat. Freilich ist die Ausdehnung, die Figur eines KOrpers auch nicht unabhangig von dem wahrnehmendenMenschen. Aber die Sache liegt hier doch anders. Ein KOrper konnte rot und nicht rot sein, sich warm und kalt anfiihlen zu gleicher Zeit. Aber ausgedehnt und nicht ausgedehnt kOnnen wir einen Korper nicht gleichzeitig wahrnehmen. Solange wir den K5rper tiber- haupt wahrnehmen, scheint er ausgedehnt, wenigstens raumlich zu sein2). Noch mehr! Wir konnen uns gut vorstellen, dafi ein KOrper nicht warm ist, dafi er nicht kalt ist, dafi er nicht rot und nicht blau ist. Versuchen wir dagegen, einen Korper als unausge- dehnt uns vorzustellen, so gelingt das nicht. Wollen wir also iiberhaupt die kSrperliche Aufienwelt behalten, so scheint es, diirfen wir auf die Ausdehnung derselben nicht verzichten3). 1) Essay on Hum. Underst. Epist. to the Reader. New ed. London, p. XII (ohne Jahreszahl). 2) Vergl. Anm. zu S. 40. *) Gegen diesen Vergleich der Ausdehnung mit den Sinnesqualitaten, bei denen dann die groBere Bedeutsamkeit der Ausdehnung zutage zu kommen scheint, ist folgendes zu sagen. Man darf nicht der einzelnen konkreten Sinnesqualitat das Abstraktum der Ausdehnung gegenuberstellen. Man muB vielmehr mit der einzelnen Sinnesqualitat, Rot etwa, einen ein- zelnen Fall des Ausgedehntseins , etwa viereckig, vergleichen. Dann fallt der Unterschied zwischen den Sinnesqualitaten und den Arten des Ausgedehnt- seins vOllig fort. Wie wir uns vorstellen konnen, daB ein AuBenweltsding nicht rot, nicht grim, nicht heiB, nicht sauer, nicht glatt ist, k5nnen wir uns auch vorstellen, daB ein AuBenweltsding nicht rund, nicht viereckig, nicht schmal, nicht groB ist. Wie wir uns einen KoYper nicht vorstellen konnen ohne irgendeine Ausdehnung, so konnen wir uns ihn auch nicht vorstellen 44 HI. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. Und es gelingt der Naturwissenschaft, die Ausdehnung der korperlichen Welt beizubehalten, ohne in Widerspriiche zu ge- raten. Jene alten Sophistereien von der begrenzten oder unbe- grenzten Teilbarkeit eines Ausgedehnten konnen auf die em- piristische Naturforschung keinen Eindruck machen. Das mathe- matisch geschulte Denken merkt leicht, wo dabei der Fehler steckt. Die Naturwissenschaft nimmt also an, dafi raumliche Be- ziehungen den Dingen der Aufienwelt zukommen. Sehen wir ein Ding von eckiger Gestalt, so ist es auch in der Aufienwelt eckig. Sehen wir, dafi an einer Stelle des Raumes, die ein Ko'r- per einnimmt, kein anderer sein kann, so ist anzunehmen, dafi auch in der Aufienwelt die K5rper undurchdringlich sind. Doch geht die Ubertragung der raumlichen Eigenschaften der Wahrnehmung auf die Aufienwelt nicht immer so ohne wei- teres. Derselbe Korper, ein Wurfel etwa, den ich in der Hand halte, ist in meiner optischen Wahrnehmung bald grOfier, bald kleiner. In der Tastwahrnehmung bleibt dagegen seine Grb'fie konstant, wenn ich ihn mit der Hand dem Auge na'here und von ihm entferne. Eine quadratische Blechplatte will ich mit vier Fingern an den vier Ecken fassen und vor dem Auge bewegen. Fur meine Tastwahrnehmung bleibt die Platte im wesentlichen, wie sie ist, viereckig, quadratisch. Aber in der Gesichtswahr- nehmung habe ich bald ein Quadrat, bald einen Rhombus, bald ein Parallelogramm, selbst ein ganz unregelmafiiges Viereck und eine Linie, alles bald grofier, bald kleiner. Welcher Wahrnehmung soil ich Vertrauen schenken? Der wandelbaren Gesichts- oder der konstanten Tastwahrnehmung? Wird die Platte in der Aufien- welt bald quadratisch, bald rhombisch, dann einmal zur grOfieren oder kleineren Geraden? Oder bleibt die Platte in der Aufien- welt unverandert? Wir wissen, diese Annahme wird vorgezogen. ganzlich ohne Sinnesqualitaten. Man versuche es, sich einen Wurfel vor- zustellen, der nicht weiB, noch schwarz, noch farbig ist, auch nicht in den Kanten, oder, wenn man nicht zum optischen Typus gehort, der sich nicht in irgendeiner Weise anfiihlt! Wir konnen in der Vorstellung Ko'rper abstrahieren von den einzelnen Sinnesqualitaten und von den einzelnen Arten des Ausgedehntseins; aber wir konnen weder abstrahieren von jeder Sinnesqualitat, noch von jeder Art des Ausgedehntseins, wenn wir iiberhaupt eine Vorstellung ,,K6rper" haben wollen. III. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. 45 Weshalb verdient sie den Vorzug? Weil sie einfacher ist? Nein, vor allem, weil sie wahrscheinlicher ist. Denn fur die Variabili- tat der optischen Wahrnehmung finden wir eine Begriindung in dem Wechsel der Wahrnehmungsumstande, wahrend fiir die Tast- wahrnehmung diese Umstande in dem gedachten Falle ziemlich konstant bleiben. Wir nehmen also an, dafi unser Gegenstand in der Auiknwelt ziemlich seine Ausdehnungsverhaltnisse bei- behalt, weil in der Tastwahrnehmung diese Verhaltnisse konstant sind und bei ihr die Wahrnehmungsbedingungen wenig variieren1). Wir sehen also, daB die Ausdehnungsverhaltnisse, wie sie die Gesichtswahrnehmung bietet, nicht einfach auf die Gegen- sta'nde der AuBenwelt ubertragbar sind, daB vielmehr eine Deutung der optischen Wahrnehmung zu erfolgen hat, etwa unter Beruck- sichtigung der Tastwahrnehmung. So konnte vielleicht die Aus- dehnung, wie der Tastsinn sie bietet, der Ausdehnung in der Aufienwelt gleichen. Die Tastwahrnehmungen in dem weiten Sinne, in dem wir sie hier zu nehmen haben, bestehen aus Komplexen von Muskel- und Gelenkempfindurtgen usw., sowie von Hautempfindungen. Die Wahrnehmung der Ausdehnung durch das Betasten ist durch jene Komplexe von Empfindungen mitgegeben. Was in den Komplexen die Ausdehnung gibt, braucht hier nicht untersucht zu werden. Wir priifen also nicht, ob es besondere Ausdehnungs- oder Raumempfindungen gibt, oder ob der Raum und die Aus- dehnung nichts sind als gewisse Verhaltnisse, etwa die ,,Formen" der Empfindungskomplexe. Jedenfalls habe ich die Wahr- nehmung eines Nebeneinander, wenn ich zwei getrennte Punkte eines Korpers mit den Spitzen zweier Finger betaste. Das, was ') Die Tastwahrnehmung ist uberhaupt diejenige, der vom Menschen das hochste Vertrauen geschenkt wird. Gesichts- und Tastsinn sind die beiden Sinne, die fiir die Wahrnehmung der AuBenwelt die groBte Rolle spielen. Die Bedeutung der anderen Sinne beruht auf spezielleren Leistungen vor- nehmlich. Liefert der Gesichtssinn das reichste Material, so hat doch der Tastsinn den Vorzug groBerer Zuverlassigkeit. Daher bezeichnen wir die sichersten Wahrheiten auch wohl als greifbar. Wenn wir eine Tauschung durch den Gesichtssinn vermuten, so vollziehen wir die Priifung durch den Tastsinn. Thomas, der Zweif ler unter den Jungern, wird von Jesus aufgefordert, seine Hand in die Nagelmale zu legen. 46 HI- Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. in der Wahrnehmung dieses Nebeneinander gibt, miifite sich also nach unserer Annahme auch an dem Gegenstande der Aufien- welt vorfinden. Nehmen wir dies an, so miissen wir sofort zugeben, dafi die Gesichtswahrnehmung der Ausdehnung der Ausdehnung in der Aufienwelt nicht gleichen kann. Denn die Gesichtswahrnehmung (sagen wir bei ruhendem Auge) etwa einer Wurfelkante ist durch einen Komplex von optischen Empfindungen mitgegeben, und in diesem kann die psychologische Analyse nichts finden, was inhalt- lich einem Etwas gleich oder ahnlich ware in den Komplexen der Tastempfindungen bei der Beriihrung der Kante. Stimmt also die Tastwahrnehmung der Ausdehnung mit der Ausdehnung in der Aufienwelt iiberein, so kann mit letzterer die Gesichts- wahrnehmung der Ausdehnung nicht iibereinstimmen, da sie mit der ersteren nicht iibereinstimmt, d. h. ihr nicht gleich oder ahnlich ist. Und doch werden die meisten Menschen die Aus- dehnung eines Kb'rpers in der Aufienwelt sich vorstellen nach der Art, wie sie diese Ausdehnung sehen. Sie werden die Vor- stellung der Aufienwelt erzeugen durch optische Reproduktionen, nicht durch Reproduktionen von Tastwahrnehmungen. Das liegt an dem Vorwiegen der optischen Wahrnehmungen und Repro- duktionen iiberhaupt, welches man bei der Mehrzahl der Menschen findet. Die beiden Arten von Wahrnehmungen des Nebeneinander sind nach dem vorigen verschieden. Sehe ich ein Nebeneinander zweier Punkte, so unterscheidet sich das vb'llig von dem Tasten des Nebeneinander1). Denn Gesichtswahrnehmungen sind tiber- J) Man wird vielleicht einwenden, daB doch etwas Gemeinsames in den beiden Arten von Wahrnehmungen der Ausdehnung stecken miisse. Sonst konnten ja nicht beide Arten der Wahrnehmung als ausgedehnt bezeichnet werden. Taste ich zwei Punkte und sehe ich sie, so haben, wird man sagen, beide Wahrnehmungen das gemeinsam, daB in beiden die zwei Teilwahr- nehmungen der Punkte eben nebeneinander sind. Mir scheint die Selbstbeobachtung zu zeigen, daB eine inhaltliche Gleich- heit oder Ahnlichkeit der Wahrnehmungen des Nebeneinander durch Tast- und Gesichtssinn nicht besteht, sondern nur eine sehr enge Beziehung, Der gemeinsame Name riihrt nur daher, daB wir beide Arten von Wahrnehmungen des Nebeneinander auf dasselbe Nebeneinander in der AuBenwelt beziehen. Woher kommen aber die Wahrnehmungen iiberhaupt in diese enge Be- III. Kritik der Hppothese von der Erkennbarkeit usw. 47 haupt etwas ganz anderes als Tastwahrnehmungen. Zwar sind beide Wahrnehmungen des Nebeneinander, sei es auf angeborener Grundlage, sei es allein durch die stets wiederholte Erfahrung, zueinander in engste Beziehung gekommen. Aber ihre Ver- schiedenheit kann nicht in Abrede gestellt werden. Die Aus- dehnung, das Nebeneinander der AuBenwelt, kann nur der Aus- dehnung in einer der beiden Wahrnehmungsarten gleich oder ahnlich sein. Gegen die Ubereinstimmung mit der Gesichts- wahrnehmung haben wir schon Grtinde angefiihrt. Ahnliche Griinde mogen nun gegen die Ubereinstimmung mit der Tast- wahrnehmung angefiihrt werden. Es muB namlich erwahnt werden, daB auch bei der Tast- wahrnehmung die ihr oben nachgeruhmte Bestandigkeit nur innerhalb gewisser Grenzen besteht. Fasse ich die oben erwahnte quadratische Platte in die eine Hand, etwa die linke, so habe ich die Wahrnehmung einer gewissen Ausdehnung. Beriihre ich die vier Ecken nun mit der rechten Hand, nachdem ich vorher mit dieser eine gro'Bere Platte beruhrt habe, so erhalte ich die Wahrnehmung einer geringeren Ausdehnung. Habe ich vorher eine kleinere Platte mit der rechten Hand gefaBt, so wird in der rechten Hand die Platte nun grb'Ber scheinen als in der linken. Diese Tatsachen des sukzessiven Kontrastes (die den optischen Tauschungen entsprechende Tasttauschungen ergeben) zeigen, daB jener Vorzug des Tastsinns, die Konstanz der Ausdehnung in der Tastwahrnehmung, nicht besteht. Welche der drei durch den Tastsinn wahrgenommenen Ausdehnungen soil ich der Platte in der AuBenwelt zuschreiben? Unsere Lage ist die folgende. Wir haben (wenigstens) zweierlei verschiedene Wahrnehmungen der Ausdehnung. Die ziehung? Wie wird diese ermoglicht, wenn in den beiden Arten von Wahr- nehmungen nichts Gemeinsames steckt? Es besteht in der Tat trotz alter qualitativen Verschiedenheit eine weitgehende Ubereinstimmung, nfimlich eine Ubereinstimmung der VerhSltnisse. Diese setzt zunachst eine numerische Ubereinstimmung voraus. Vier getasteten entsprechen vier Punkte im Seh- felde (unter passenden Wahrnehmungsbedingungen). Durch diese numerische Ubereinstimmung wird eine eindeutige Zuordnung ermoglicht. Dadurch, daB die beiden Arten von Ausdehnungswahrnehmungen aufeinander eindeutig be- zogen werden konnen, wird es moglich, daB sie auf ein gemeinsames Drittes, eine Ausdehnung in der AuBenwelt bezogen werden konnen. 48 HI. Kritik der Hppothese von der Erkennbarkeit usw. beiden Arten von Wahrnehmungen sind so verschieden von- einander, dafi die Ausdehnung in der Aufienwelt nicht beiden gleichen kann. Keine der beiden Wahrnehmungen des Neben- einander besitzt besondere Eigentumlichkeiten, die uns veranlassen kSnnten, gerade sie und nicht die andere der Aufienwelt zuzu- schreiben. Diese Tatsachen sind recht geeignet, die Willkiir zu zeigen, die wir begehen, wenn wir den Dingen der Aufienwelt Ausdehnung zuschreiben. Was fur eine Ausdehnung, die des Gesichts- oder des Tastsinns? Dafi wir meist auf die des Gesichtssinns verfallen, ist durch die Reproduktionsgesetze usw. bedingt. Aber es liegt kein Grund vor, dieser den Vorzug zu geben. Wir miissen zugeben: wir wissen gar nicht, ob das, was die Wahrnehmung des Nebeneinander bewirkt, dem Neben- einander des Gesichts- oder des Tastsinns gleicht, oder ob es iiberhaupt keiner der beiden Arten der Wahrnehmung des Neben- einander ahnlich sieht. Dafi also die Ausdehnung durch zwei Sinne wahrgenommen wird, spricht so wenig fur ihre Objektivitat, dafi vielmehr durch diesen Umstand die Subjektivitat der Ausdehnung erst recht ein- leuchtend gemacht wird. Wir miissen eingestehen, der Umstand (in der Aufienwelt), der die beiden Arten von Wahrnehmungen des Nebeneinander bewirkt, braucht ebensowenig einer dieser Arten zu gleichen, wie die Ursache des Rot in der Aufienwelt dem Rot der Gesichtswahrnehmung zu gleichen braucht. In diesem Sinne ist die Ausdehnung ebenso als subjektiv anzu- erkennen, als die Sinnesqualitaten. Fafit man die Wahrnehmung auf als Wirkung von Gegen- standen der Aufienwelt, so ist auch die Wahrnehmung der Aus- dehnung als Wirkung von etwas aufzufassen, dafi der Aufien- welt zukommt. Hat aber die Wirkung mit der Ursache keine Ahnlichkeit im allgemeinen, so wird auch im besonderen vor- liegenden Falle die Ursache, jenes Etwas in der Aufienwelt, nicht einer der beiden Arten von Wahrnehmungen der Ausdehnung gleich oder ahnlich zu sein brauchen. Unsere Wahrnehmungen der Aufienwelt sind demnach durch- aus subjektiv. Das gilt von den raumlichen Eigenschaften der Wahrnehmung ebenso wie von der Qualitat der Empfindungen. Gestalt, Gr5fie, Lage, und damit auch die Undurchdringlichkeit, III. Kritik der Hppothese von der Erkennbarkeit usw. 49 alle diese Verhaltnisse des Nebeneinander, der Ausdehnung, kommen nur unseren Wahrnehmungsarten zu; was in der Aufien- welt diesen Wahrnehmungen als Ursache entspricht, davon wissen wir nichts. Es mag daher scheinen, als wiifiten wir iiberhaupt nichts von der Aufienwelt. Die mechanistische Physik hatte schon zugegeben, dafi die Farben, Warme- und Kalteempfindungen usw. der Aufienwelt nicht zugeschrieben werden diirfen. Sie hatte aber die Ausdehnungsverhaltnisse und damit die Bewegungen, die Anderungen der Verhaltnisse des Nebeneinander, aus der Wahrnehmung auf die Aufienwelt iibertragen. Auch das ist unzulassig! Scheint es nun nicht, als ob iiberhaupt nichts iibrig bliebe? Ist alles Erkennen der Aufienwelt unmoglich? Mufi diese Erkenntnis aufgegeben und an ihrer Stelle die Erforschung der Wahrnehmungen allein betrieben werden? Eine solche Beschrankung auf die Wahrnehmung miifite eine Revolution des einzelwissenschaftlichen Denkens, besonders aber der Physik und Chemie bedeuten. Die angeschnittene Frage ist also fur die vorliegenden Untersuchungen von grofier Wichtigkeit. Die Physik kann und darf am AuBenweltsproblem nicht einfach voriibergehen. Je nach der Stellungnahme des Physikers zu dieser Frage wird seine Beurteilung einer grofien Reihe von Auffassungen und Annahmen seiner Wissenschaft ver- schieden sich gestalten miissen. Bevor wir dies nachweisen, wollen wir noch einen Schritt weiter gehen auf der Bahn, die von der naiv realistischen Auf- fassung zu einem Agnostizismus der Aufienwelt fiihrte. Wenn die Annahme, unsere Wahrnehmungen der aufieren Sinne seien Wirkungen einer Aufienwelt, die Konsequenz nach sich zieht, dafi von der Aufienwelt selbst nichts erkennbar ist, so lafit uns diese Konsequenz vielleicht jene Annahme einer wirkenden Aufienwelt selbst unnotig erscheinen. Wenn wir von der Aufien- welt sonst absolut nichts wissen, so wissen wir vielleicht auch nicht einmal, ob die Wahrnehmungen durch sie bewirkt werden. Wenn die Aufienwelt weder rot noch blau, noch warm oder kalt, noch rund oder viereckig, noch iiberhaupt ausgedehnt zu sein braucht, braucht sie da iiberhaupt noch zu existieren? Wird die Annahme einer solchen Aufienwelt, der wir doch gar nichts, keine erkennbare Eigenschaft zuschreiben diirfen, nicht vQllig Be cher, Philosoph. Voraussetzungen. 4 50 HI. Kritik der Hppothese von der Erkennbarkeit usw. miiBig erscheinen miissen? Wenn wir nichts erkennen konnen als die Wahrnehmungen, wer sagt uns dann, daB diese Wahr- nehmungen Wirkungen von etwas anderem, einer AuBenwelt sind? Miissen wir nicht gestehen, daB wir, da wir gar nichts von der AuBenwelt wissen, auch nicht wissen, ob diese AuBen- welt uberhaupt wirkt, ob sie existiert? Ja, noch mehr! Wir wissen nicht nur nicht, ob die AuBen- welt existiert, wir kOnnen, einen neuen Gedanken in die Be- trachtung einfiihrend, zeigen, daB die Annahme einer Existenz der AuBenwelt einen Widerspruch in sich enthalt, daB diese An- nahme mithin sinnlos ist. Was heiBt es denn, eine AuBenwelt existiert? Wenn wir von etwas Unbekanntem sagen, es existiert, so meinen wir damit doch, daB es mit dem anderen, von welchem wir sagen, es existiert, etwas Obereinstimmendes oder doch Ahnliches hat. Was ist das Bekannte, das andere, von dem wir sagen es existiert? Neben der AuBenwelt nehmen wir Wahrnehmungen , Gefiihle, uberhaupt geistige Vorgange als existierend an. Wenn ich rot sehe, so kann ich die Existenz dieses Rot nicht bestreiten, wenn ich einen Schmerz empfinde, so muB ich diesem Schmerz Existenz zuschreiben. Meint man also mit Existenz nicht das, was als allgemeinstes Gemeinsames in dem Rot und dem SuB, in dem Schmerz und der Lust usw. steckt? Alles dies, von dem wir unbedingt anerkennen miissen, daB es existiert, hat eine bestimmte, eigenartige Beschaffenheit, Qualitat, oder wie wir es nennen wollen. Wenn daher von etwas gesagt wird, es existiert, so kann nur gemeint sein, es hat Qualitaten, einen Inhalt, wie das Rot, oder wie ein Ton, ein Geruch, eine Erinnerung, ein Gefiihl. Wenn der schlichte Mensch sagt, drauBen liegt Schnee, ist Schnee vorhanden, existiert Schnee, so meint er, daB drauBen der Schnee weiB ist, kalt ist, also etwas mit Wahrnehmungen gemeinsam hat. Wird aber der AuBenwelt alles dies genommen, werden ihr alle Qualitaten ge- nommen, so hat es keinen Sinn mehr, ihr Sein zuzuschreiben; denn Sein ist qualitativ bestimmtes Sein. Der Begriff der Existenz kann nur dem uns Bekannten entnommen sein, d. h. unseren Wahrnehmungen des auBeren und inneren Sinnes. Alle diese Wahrnehmungen unterscheiden sich dadurch von dem Nichts, daB ihnen eine Qualitat oder Qualitaten, Inhalte zu- III. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. 51 kommen. Das Qualitaten-, Inhalte-haben oder -sein ist also als Existieren aufzufassen. Solange ich der Aufienwelt Qualitaten, ein So-und-sosein zuschreibe, habe ich ein Recht zu sagen, sie existiert. Eine Aufienwelt ohne ein bestimmtes, ein So-und-sosein, kann auch nicht existieren. So ist schliefilich von der AuBenwelt nichts mehr iibrig geblieben. Die Sinnesqualitaten, die Ausdehnung und was damit zusammenhangt sind ihr genommen worden, und dann hat man gar ihre Existenz bestritten. Suchen wir uns nun klar zu machen, welche Konsequenzen die Leugnung der AuBenwelt fiir die.Phpsik haben miifite: es ist klar, nur dann kann von physikalischen Vorgangen die Rede sein, wenn ein wahrnehmendes Wesen vor- handen ist. Die physikalischen Vorgange sind Wahrnehmungs-, d. h. geistige Vorgange. Alle angenommenen Vorgange, die nicht wahrgenommen werden, sind nicht vorhanden. In Wirklich- keit haben nie Vorgange existiert, die nicht gesehen, getastet usw. wurden. Atome haben nie existiert, denn man hat sie nie wahrgenommen. Atherschwingungen gibt es nicht, denn der Ather ist nicht wahrnehmbar. Ja selbst der Schall wird nicht immer durch Wellen in der Luft bewirkt; denn die Wellen sind nur in jenen seltenen Fallen vorhanden, in denen sie als solche wahrgenommen werden. Diese Eisenstange, die ich hier vor mir sehe, ist weder warm noch kalt; sie wird es nur, wenn ich sie beruhre. Eine Goldmunze und eine gute Nachahmung unter- scheiden sich nicht, solange sie der Wahrnehmende nicht zu unterscheiden imstande ist. Unterwerfe ich die beiden gleichen Miinzen derselben Reaktion — stecke ich beide in die gleiche LOsung, etwa in Scheidewasser — so kommt plotzlich eine Ver- schiedenheit in den Wirkungen zutage. Hier habe ich ein wenig Bariumsalz, hier etwas Strontiumsalz. Beide Salze sind dasselbe; denn die Wahrnehmung kann beide nicht unterscheiden, und da nur die Wahrnehmung existiert, unterscheiden sich die beiden Salze so lange nicht, als sie in der Wahrnehmung nicht unter- schieden werden. Ich bringe das Bariumsalz in diese Bunsen- brennerflamme. Die Flamme brennt griin. Ich nehme das Stron- tiumsalz; die Flamme leuchtet rot. Barium- und Strontiumsalz waren dasselbe; denn die Wahrnehmungen von beiden stimmten vollig uberein nach unserer Annahme. Es lagen also die gleichen 4* 52 HI. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. Ursachen vor. Diese gleichen Ursachen brachten nicht die glei- chen Wirkungen hervor. In der alten einfachen Form ist also das Kausalgesetz falsch, wenn keine Aufienwelt existiert. Viele Phpsiker halten aber dafiir, dafi das Kausalgesetz die Grundlage aller physikalischen Forschung sei. Die notwendige Revolution der Physik - - und der Einzelwissenschaften iiberhaupt — mufi also eine sehr weitgehende, tiefgreifende sein. Nun wird es in der Wissenschaft an konservativen Ele- menten nicht fehlen, die sehr abgeneigt sind, eine so radikale Umwalzung vorzunehmen. 1st wirklich die Aufienwelt als Reali- ta't nicht zu retten, so moge sie als Fiktion beibehalten werden. In Leben und Wissenschaft hat die Aufienwelt so gute Dienste getan, dafi es nOtig ist, eine solche zu erdichten, wenn es in Wirklichkeit keine gibt. Radikal die Vorstellung von der Aufien- welt abzuschaffen, kOnnen wir uns schlecht entschliefien; denn wir miifiten gleichzeitig auf das Kausalgesetz — wenigstens in der alten handlichen Form — verzichten. Und ohne das letztere sich im Getriebe der Wahrnehmungen zurechtfinden zu miissen, das erscheint doch bedenklich. Tun wir also ruhig weiter so, als ob eine Aufienwelt da ware, als ob hinter der Wahrnehmung etwas steckte, diese bewirkend. Es bleibt dann alles beim alten. Wir brauchen nicht die Physik, die ganze Wissenschaft umzu- gestalten — ein Unternehmen, bei dem man ja doch noch nicht recht weifi, was herauskommen wird. Lassen wir nur den tftrich- ten Glauben beiseite, als ob die Aufienwelt auch draufien wirklich stande. Das haben wir erkannt; diese ganze Aufienwelt ist nur eine nutzliche Fiktion. Daneben wird eine Partei ihre Werbetrommel ruhren, die schon weniger konservativ ist. Ihre Anhanger waren mit dem alten nicht an alien Enden zufrieden. Aber eine grofie Revo- lution scheint ihnen deshalb doch nicht nOtig. Einige friedliche Reformen werden genugen. Im ganzen hat die Aufienwelt sich gut bewahrt, behalten wir also die Fiktion bei. Wird uns aber an einer Stelle die Durchfuhrung der Fiktion einmal la'stig, wo- zu sich dann mit ihr plagen? Fiktionen benutzt man, wo sie gute Dienste leisten; man kummert sich nicht urn sie, wo sie Schwierigkeiten machen. Fur das praktische Leben ist es ganz niitzlich, Lockes sekundare Qualitaten, die Farben z. B., der III. Kritik der Hppothese von der Erkennbarkeit usw. 53 Aufienwelt zuzuschreiben, anzunehmen, dafi die Rosen rot sind, wenn sie Reiner sieht und der Essig sauer, wenn ihn keiner schmeckt. Der Physiker gerat in Verlegenheiten, wenn er die Sinnesqualitaten den Ko'rpern der Aufienwelt zuschreiben will; also verzichtet er auf sie und lafit der Aufienwelt allein die Aus- dehnung usw. So kommt er zu seinen schb'nen mechanischen Auffassungen, zur Molekulartheorie. Macht ihm aber an einer Stelle etwa die Atom- und Molekulartheorie Schwierigkeiten, dann lafit er sie eben fallen. Wozu sollte er sich auch mit einer Fiktion viel Miihe geben, die er nur behalt, damit sie ihm Miihe sparen soil? Wo die Fiktion von Atomen im dreidimensionalen Raum lastig wird, ersetzt man sie durch Atome, die sich im vierdimensionalen aufhalten1). Natiirlich wird kein Mensch glau- ben, hier, bei dieser einfacheren Verbindung, steckten die Atome wirklich in einem dreidimensionalen, und dort, bei der kompli- zierteren Verbindung, in einem vierdimensionalen Raume. Nur ist in einem Falle die eine, im andern Falle die andere Fiktion zweckmafiiger. Glaubten wir an eine Aufienwelt mit wirklichen Atomen im dreidimensionalen Raume, so miifiten wir allerdings, so umstandlich es auch ware, diese Auffassung in alien Fallen durchzufiihren suchen. Da wir in dem alien aber nur Fiktionen sehen, haben wir es bequemer; wir brauchen die fiktiven Auf- fassungen nicht so ernst zu nehmen. Kommen neue Entdeckungen, so werden wir uns nicht iibermafiig abmuhen, sie mit unseren alten Auffassungen zusammenzureimen. Wenn das Schwierig- keiten macht, so erfinden wir vielleicht fur das neue Wissens- gebiet eine neue Fiktion; dabei mag die alte in dem alten Ge- biete ruhig bestehen bleiben. Eine Wahrheit miifite auf alien Gebieten, in alien Teilwissenschaften wahr sein; aber von einer Fiktion braucht man nicht zu verlangen, dafi sie uberall zweck- mafiig ist. Sie braucht noch nicht abgeschafft zu werden, wenn sie sich auf neuen Gebieten nicht bewahrt. Das ist ungemein bequem. — Man sieht, diese Richtung wird nach und nach doch schon allerhand umandern. Sie wird vor alien Dingen sich keine zu grofie Miihe geben, Hppothesen ttber die Aufienwelt mit grofier Sorgfalt auf alien Gebieten durchzufiihren. Denn fur sie ') Mach, Erhaltung der Arbeit. Prag 1872. S. 29. 54 HI. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. gibt es keine eigentlichen Hypothesen, sondern Fiktionen, die Miihe sparen sollen und zwecklos werden, wo sie viel Arbeit machen. Neben den konservativen und den gemafiigten Reformern unter den Gegnern der Realitat der Aufienwelt wird es aber auch Radikale geben. Wie, werden sie sagen, sollte diese torichte Annahme von der Existenz einer Aufienwelt, dieses iiberlebte Marchen, solche Wunder leisten? Sollte man wirklich nicht durch die Welt und die Wissenschaft durchkommen kftnnen, wenn man sich ganz einfach an der vollen Wahrheit hielte? Es ware doch sehr merkwiirdig, wenn eine Erdichtung so viel nutzen konnte. Aus einer Erdichtung, die sicher falsch ist, wird auch Falsches neben dem Wahren und Zutreffenden folgen miissen. Wer will mir sagen, ob etwas, das ich aus der Fiktion gefolgert habe, wahr oder falsch ist? Da mufi ich doch wieder an die Wahr- nehmung appellieren. Die Fiktion habe ich auf Grund der Wahr- nehmungen gebildet; was Richtiges aus ihr ableitbar ist, wird sich auch direkt aus den Wahrnehmungen ergeben. Und nur an den Wahrnehmungen ist die Konsequenz aus der Fiktion priifbar. Wozu also zwischen die Wahrnehmungen eine Aufien- welt einschieben? Die Aufienwelt — auch als Fiktion — wird von uns konstruiert mit Riicksicht auf unsere Wahrnehmungen, in Anpassung an unsere Wahrnehmungen. Sie wird abgeleitet aus unseren Wahrnehmungen; wenn zukiinftige Wahrnehmungen also aus der Fiktion der Aufienwelt ableitbar sind, so mussen sie auch ableitbar sein aus den Wahrnehmungen, in Anlehnung an welche die Fiktion gebildet wurde. Man sagt, das Kausal- gesetz werde vernichtet, wenn nur die Wahrnehmungen betrachtet wiirden. Beweist denn nicht die Tatsache, dafi eine Aufienwelt auf Grund der Wahrnehmungen, bestimmt durch die Wahr- nehmungen, so fingiert werden kann, dafi das Kausalgesetz be- steht, auch die gesetzmafiige Abhangigkeit der spateren Wahr- nehmungen von den friiheren? Wa'ren nicht die spateren Wahrnehmungen bestimmt durch die friiheren, so konnten sie auch nicht bestimmt sein durch die fingierte Aufienwelt; denn diese Fiktion ist rein zufa'llig, soweit sie nicht bestimmt wird durch Wahrnehmungen. KGnnen zukiinftige Wahrnehmungen iiberhaupt bestimmt werden, so kann das Bestimmende nur in III. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. 55 den Wahrnehmungen liegen; denn worin sollte es sonst liegen, da die Aufienwelt nur insoweit bestimmt ist, als die Wahr- nehmungen Bestimmungen fordern? Ist also Kausalitat oder Gesetzmafiigkeit in den Wahrnehmungen iiberhaupt mOglich unter Annahme einer Aufienwelt, so mufi die Gesetzmafiigkeit auch in den Wahrnehmungen stecken. Die Wahrnehmungen konnen kein Chaos bilden; wenn durch die Annahme der Aufienwelt eine Gesetzmafiigkeit in sie hereingebracht werden kann, so ist das nur mCglich, weil Gesetzmafiigkeit schon in den Wahrnehmungen steckte. Man gewohne sich nur erst daran, in den Wahr- nehmungen diese zu sehen, so wird man die Aufienwelt nicht mehr notig haben. Drucken wir den Gedanken einmal unter Zuhilfenahme des Funktionsbegriffes in der Weise Ernst Machs aus, so kOnnen wir sagen: In den friiheren und gegenwartigen Empfindungen haben wir eine Reihe von Grofien, zwischen denen etwa noch diese oder jene Gleichungen bestehen. Durch die Annahme, etwa die Fiktion, einer Aufienwelt ftige ich eine Zahl von neuen Unbekannten ein. Diese Unbekannten sind mit den durch die Wahrnehmungen gegebenen Bekannten durch Glei- chungen verbunden. Aus den Unbekannten kann ich nun die zukiinftigen Wahrnehmungen berechnen, da diese mit jenen wieder durch Gleichungen verbunden sind. Ich habe also friihere und gegenwartige Empfindungen a, p, y . . ., die Aufienwelt x, y, z . . . und die zukiinftigen Empfindungen a, b, c . . . Zwischen den a, p, y . . . und den x, y, z . . . bestehen Gleichungen, ebenso zwischen den x, y, z . . . und den a, b, c . . . Der Realismus, auch als Fiktion, bestimmt x, y, z . . . durch die a, p, y . . ., die Aufienwelt durch friihere und gegenwartige Empfindungen, dann a, b, c . . . durch x, y, z . . ., d. h. zukunftige Empfindungen durch die Aufienwelt. Ist aber x, y, z . . . durch a, p, y . . . und a, b, c . . . durch x, y, z . . . bestimmt, so ist damit auch a, b, c . . . durch a, p, y . . . bestimmt. Mit anderen Worten, wir eliminieren x, y, z . . . aus den beiden Gleichungssystemen und erhalten so ein Gleichungssystem, durch das direkt a, p, y . . . und a, b, c . . . verbunden sind. So mufi a, b, c . . . direkt durch a, p, Y . . . bestimmbar sein. Man mufi natiirlich alle die a, p, y . . . gebrauchen, welche notig waren, urn x, y, z... zu bestimmen, wenn a, b, c . . . bestimmt werden soil. Man darf nicht nur die 56 HI. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit usw. augenblicklichen Wahrnehmungen a von Barium- und Strontium- salz und £ von der Flamme nehmen, wenn man die Wahr- nehmung a, b, c . . . der gefarbten Flamme im voraus bestimmen will. Man muB noch die friiheren Wahrnehmungen, etwa der Flasche mit Aufschrift, der Gewinnung, friiherer chemischer Reak- tionen — y, 8 ... - - usw. hinzunehmen und mit in Rechnung ziehen. Dann wird sich finden, dafi in den y, 8 ... fur Barium- salz andere Sachen stecken als fur Strontiumsalz. Fur Barium- salz habe ich vielleicht y1} 8X . . ., fur Strontiumsalz y2, 82 • • • in den friiheren Empfindungen. Setze ich diese verschiedenen Werte nacheinander in mein Gleichungssystem ein, so erhalte ich fiir die zukiinftigen Empfindungen auch richtig verschiedene Resultate, a, b,, cx . . . und a, b2, c2 . . . vielleicht. Und diese Resultate bekomme ich in gleicher Weise, ob ich die Be- rechnung unter Zuhilfenahme von x, y, z . . ., der Aufienwelt aus- fiihre, oder ob ich die Gleichungen benutze, die sofort die a, b, c . . . aus den a, p, y . . . ergeben. Zur Bestimmung der x, j>, z . . ., d. h. zur Feststellung, ob in der Aufienwelt Barium- oder Strontiumsalz vorlag, war auch mehr erforderlich als das a, die gegenwartige Wahrnehmung des Salzes. Ohne die friiheren Wahrnehmungen y, 8 ... usw. geht die Bestimmung der a, b, c . . ., der zukunftigen Wahrnehmung, keinesfalls. Der Unterschied ist nur der, dafi wir uns die Berechnung von x, y, z... ersparen. Mit der Gefahrdung des Kausalgesetzen steht es also so bedenklich nicht. Was fortfallt, ist nur uberfliissiger Ballast. Die Zukunft, d. h. zukiinftige Wahrnehmungen, bleiben ebenso- wohl voraussagbar wie friiher. Es sind auch nicht mehr Daten zu der Voraussage notwendig. Nur der Umweg iiber die x, p, z . . . fallt fort. Wie zukiinftige, so bleiben auch ver- gangene Wahrnehmungen feststellbar. Auch die Mb'glichkeit historischer Wissenschaft bleibt unangefochten bestehen. Zu den angedeuteten Standpunkten ist nun Stellung zu nehmen. Eine philosophische Betrachtung physikalischer Theorien kann an diesen Problemen nicht voriibergehen. Behalten die Radikalen recht, so miissen die mechanischen Hypothesen total beseitigt werden. Denn diese Hypothesen geben die x, y, z . . ., welche zwischen die Wahrnehmungen bei physikalischen Vor- gangen eingeschoben worden sind. Und auch wenn die Reformer III. Kritik der Hppothese von der Erkennbarkeit usw. 57 die richtige Mitte getroffen batten, mufite manches anders werden. Eine Umwertung grofien Stiles mufite Platz greifen in der Phpsik. Die Hppothesen wtirden zu Fiktionen degradiert, und die Wahr- nehmungen wtirden in der Schatzung bedeutend steigen. Die Wellenlangen im Spektrum wurden weit weniger Interesse in Anspruch nehmen als die Verteilung der Empfindungsintensitat. Denn die Wellenlangen waren nur fiktive GrGBen, die Empfindungs- intensitat aber ist etwas real Existierendes. IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die Aufienweltshypothese. Nachdem wir im vorstehenden eine Reihe von Anklagen gegen die Aufienweltshypothese vernommen haben, ist es an der Zeit, der Verteidigung Gehor zu schenken. Dadei wird sich von selbst Gelegenheit bieten, einzelne Punkte der Anklage praziser zu formulieren, als das bisher zweckmafiig war. Die Verteidigung wird von Tatsachen ausgehen miissen, denen sich auch der erbittertste Anklager nicht verschliefien kann. Es ist also nach Ausgangspunkten zum Beweise, nach Vor- aussetzungen zu suchen, die sich allgemeiner Anerkennung er- freuen, denen auch der Positivist zustimmt. Eine Reihe solcher Voraussetzungen ist leicht zu finden. Zunachst ist die Gewifiheit der augenblicklich mir gegebenen Bewufitseinsinhalte anzufiihren. Dafi ich in diesem Augenblicke eine Weifiempfindung habe, kann mir niemand zweifelhaft machen; ebensowenig, dafi ich jetzt die Gehorswahrnehmung eines Gerau- sches, die Temperaturwahrnehmung der Kalte habe. Zweifelhaft mag sein, ob die Weifiwahrnehmung von weifiem Papier, die Gerauschwahrnehmung von einem Wagen, die Kaltewahrnehmung von kalter Luft oder von irgendetwas anderem verursacht ist. Ob der Wahrnehmung ein Etwas entspricht, das wahrgenommen wird, ob die Wahrnehmung einen Gegenstand hat, kommt hier nicht in Frage. Zunachst soil nur festgestellt werden, dafi Sinnes- wahrnehmungen als gegenwartige Bewufitseinsinhalte mir unmittel- bar gewifi sind. Was von den Sinneswahrnehmungen gilt, das trifft auch bei den abgeleiteten Vorstellungen zu. Auch eine Erinnerung, eine abstrakte oder eine Phantasie-Vorstellung sind mir als gegen- wartige Bewufitseinsinhalte unbedingt gewifi. Erinnere ich mien IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 59 des Traumes der letzten Nacht, so ist mir die Existenz dieser Erinnerung vollkommen sicher. Ich kann bezweifeln, dafi diese meine gegen wartige Erinnerung den Traum richtig wiedergibt; viel- leicht tausche ich mich noch arger: die Erinnerung gibt nicht den Traum der letzten Nacht, sondern einen viel alteren; oder sie gibt gar etwas, das ich niemals getraumt habe. Meine ,,Erinnerung" ist gar nicht eine Erinnerung an etwas, sondern vielleicht reine Einbildung oder wer weifi was. Aber alle diese Zweifel lassen die eine Tatsache unangetastet: als mein gegenwartiger Bewufit- seinszustand ist mir diese Vorstellung, die ich mb'glicherweise irrtiimlich als Erinnerung an etwas deute, in unmittelbarer Gewifi- heit gegeben. Ein Zweifel kann erst entstehen, wenn ich meine Vorstellung als Hinweis auf etwas, auf das Erinnerte, deute, wenn ich auf einen Gegenstand der Erinnerung schliefie. Der Sach- verhalt ist derselbe, wie bei der Wahrnehmung. Auch diese ist als mein gegenwartiger Bewufitseinszustand unmittelbar gewifi, aber ich kann bezweifeln, ob ich die Wahrnehmung als Wahr- nehmung von etwas, von einem Wahrgenommenen, einem Gegen- stande deuten darf. Ebenso wie Vorstellungen sind mir meine gegenwartigen Gefuhle und Wollungen unmittelbar gewifi. — Die Gesamtheit meiner augenblicklichen Bewufitseinsinhalte, d. h. meiner Vorstel- lungen, Gefuhle, Wollungen, bezeichne ich als das mir unmittelbar Gegebene. Dann kann ich also sagen: als unmittelbar gewisse Voraussetzung darf ich das mir Gegebene ansehen. Jedem Men- schen ist das ihm momentan Gegebene, d. h. Bewufite, unbedingt gewifi. Es gibt allerdings eine Tatsache, die dies erste Resultat unserer Uberlegung zweifelhaft machen kb'nnte. Ich meine die Existenz des Materialismus. Materie pflegt — gleichviel wie — doch so definiert zu werden, dafi sie das dem Bewufitsein Ent- gegengesetzte, Nichtbewufite ist. Existiert nur Materie, so exi- stiert nur Nichtbewufites, also kein Bewufites. Wird die Existenz jedes Bewufitseins geleugnet, so mufi auch die Existenz des mir momentan Bewufiten, des Gegebenen bestritten werden. Demnach mufi auch das Gegebene nicht unbedingt gewifi, sondern zweifel- haft sein. Versuchen wir daraufhin die Existenz des Gegebenen zu 60 IV' Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. beweisen, so zeigt jeder Versuch, dafi alle Stiitzpunkte fur einen solchen Beweis fehlen. Wir kb'nnen nichts tun, als den Materia- listen auf sein eigenes Bewufitsein verweisen, auf seine Empfin- dungen, Gefiihle, Wollungen usw., und ihm dann sagen: diese bezeichnet man als Bewufitsein, kannst du glauben, daB diese Gefiihle nicht existieren, wahrend du sie hast? Und wir meinen, dafi der Materialist uns mifiversteht, wenn er die Existenz dieses Bewufiten nicht zugibt. Wie dem auch sei, wir wollen die Tat- sache festhalten, dafi wir die Existenz des Gegebenen nicht beweisen konnten. FUr unseren nachsten Zweck ist dieser Mangel eines Be- weises nicht weiter gefahrlich; denn unsere Gegner, die Bestreiter der Aufienwelt, die Positivisten, geben die unmittelbare Gewifiheit des Gegebenen ohne Einschrankung zu. Wir halten also diesen ersten Punkt einmal fest. Sehen wir uns weiter um, so finden wir bald eine zweite Klasse des unbedingt Gewissen. Zu dieser gehoren die logischen Axiome, der Grundsatz der Identitat, des Widerspruches, des ausgeschlossenen Dritten und vielleicht noch andere. Ich kann gar nicht denken, dafi ein Urteil wahr und zugleich nicht wahr sein kSnne, ebensowenig, dafi es weder wahr noch nicht wahr sein ko'nne. Der Versuch, diese logischen Axiome als falsch zu denken, mifilingt, ich kann sie demnach nur als richtig beurteilen, wenn ich sie beurteilen will. In diesem Sinne sind die Axiome denknotwendig gewifi. Und doch hat man auch die Giiltigkeit der logischen Axiome in Zweifel gezogen. Nicht nur radikale Skeptiker haben es ge- wagt; die SchOpfer grofier metaphysischer Systeme haben den Satz vom Widerspruch angefochten. Hegel (der iiber Nikolaus von Cusas und Giordano Brunos Lehre vom Zusammenf alien der Gegensatze noch hinausging) meinte, der Widerspruch sei so weit entfernt, das Kriterium der Falschheit zu sein, dafi er vielmehr notwendig als Wurzel aller Veranderung, Bewegung, Lebendigkeit bestehe. Der Bestreitung der Gewifiheit logischer Axiome gegeniiber befinden wir uns in einer ahnlichen Situation, wie der materia- listischen Ablehnung des gegebenen Bewufitseins gegeniiber. Da die logischen Axiome bestritten werden, sollten wir sie als IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 61 zweifelhaft betrachten. Wir konnen uns nicht dazu entschliefien; vielmehr vermuten wir, dafi jener Bestreitung Trugschliisse und Mifiverstandnisse zugrunde liegen. Versuchen wir aber die logischen Axiome zu beweisen, so stehen zwei Wege of fen. Der erste Weg, das deduktive Beweisverfahren, setzt die logi- schen Axiome voraus, lauft also auf einen Zirkel hinaus und kann daher den Zweifler nicht zur Uberzeugung fiihren. Daneben hat man einen zweiten Weg eingeschlagen. J. St. Mill hat versucht, den Satz vom Widerspruch mit Hilfe des induktiven Verfahrens aus der Erfahrung abzuleiten. Uber das induktive Verfahren und die Art seiner Gewifiheit werden wir noch zu sprechen haben. Jedenfalls konnen wir schon vorwegnehmen, dafi dies induktive Verfahren mehr voraussetzt als die unmittelbare Gewifiheit der gegebenen Bewufitseinsinhalte. Also lafit sich die Richtigkeit der logischen Axiome uberhaupt nicht beweisen, wenn man nur die Gewifiheit des Gegebenen voraussetzt. Wir machen demnach liber die Gewifiheit des Gegebenen hinaus die Annahme der Richtigkeit der logischen Axiome, die wir entweder uberhaupt nicht oder nur empirisch — induktiv beweisen konnen. 1st der letztere Beweis moglich, so setzen wir doch fur diesen mehr voraus, als die Gewifiheit des Gegebenen. Wir hatten nun diese neuen Voraussetzungen zu priifen. Wir werden im folgenden sehen, dafi die Voraussetzungen der Induktion wieder unbewiesen bleiben. Wir hatten durch den induktiven Beweis demnach die logischen Axiome nur auf andere unbewiesene Voraussetzungen zuruckgefuhrt. Mag der induktive Beweis logischer Axiome zulassig sein oder nicht, zuletzt stehen Jedenfalls auch hinter den logischen Axiomen unbewiesene Voraussetzungen. Wir haben also zum zweiten Male den Fall, dafi wir etwas fur unbedingt gewifi halten, was angezweifelt, bestritten worden ist und was wir dem radi- kalen Zweifler nicht beweisen k5nnen. Wieder konnen wir uns damit trosten, dafi unsere eigentlichen Gegner, die Bekampfer der Aufienweltshypothese, nicht in den Reihen der Zweifler zu stehen pflegen. Sie bleiben mit uns einig auch in diesem zweiten Punkte. Wir halten demnach an der Gewifiheit dieser logischen Axiome fest. Zu der zweiten Klasse von Voraussetzungen mag noch 62 IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. einiges hinzugefiigt werden. Die GewiBheit deduktiver Ablei- tungen stiitzt sich auf die der logischen Axiome. So basieren die Folgerungen durch Opposition auf dem Satze vom Wider- spruch. Wenn es wahr ist, daB die Summe der Winkel in alien ebenen Dreiecken zwei Rechte betragt, so ist es falsch, daB in einigen ebenen Dreiecken die Winkelsumme nicht zwei Rechte betragt. Dabei ist zu beachten, daB nicht die GewiBheit der tatsachlichen Voraussetzung, der Pramisse, uns hier interessiert. Ober diese folgt nichts aus dem Satze vom Widerspruch, wenn die geometrischen Urteile in der Tat synthetischer Natur sind. Nur die GewiBheit der Ableitung des SchluBsatzes folgt aus diesem Satze, und nur diese kommt hier in Frage. Wenn dies und das angenommen wird, so folgt mit GewiBheit das de- duktiv Ableitbare. Das gilt fur alle deduktiven SchluB- und Be- weisverfahren ebenso, wie fiir die Folgerungen durch Opposition, die wir als Beispiel heranzogen. Ein wichtiger Spezialfall deduktiver GewiBheit verdient noch Erwahnung: die GewiBheit der sogenannten analytischen Urteile. Ohne auf die Schwierigkeiten, die in der Unterscheidung der analptischen und synthetischen Urteile stecken mogen, einzu- gehen, kOnnen wir die folgende Uberlegung anstellen. Unter einer Nominaldefinition oder einer Definition schlechthin wollen wir die Erklarung dessen verstehen, was mit einem Worte ge- meint ist, so daB dies Wort im Verlaufe der wissenschaftlichen Arbeit sicher angewandt werden kann. In der Definition sind also die charakterisierenden ,,Merkmale" des ,,Begriffes" anzu- geben, den ich durch das Wort bezeichnen will. Als chemische Elemente definierten, d. h. bezeichneten die Chemiker solche Stoffe, die durch die Mittel der chemischen Analyse nicht weiter zerlegbar waren, auch nicht durch Verbindung anderer Stoffe erzeugt werden konnten usw. Ob chemische Elemente in diesem Sinne existieren, ob es nicht weiter zerlegbare Stoffe gibt, dariiber kann natiirlich die Definition nicht entscheiden. Zeigte die Er- fahrung etwa sofort, daB es ,,Elemente" in diesem Sinne nicht gibt, so wiirde dadurch die Definition vielleicht uberflussig, zweck- los. Von einer Widerlegung der Definition aber konnte streng genommen nicht gesprochen werden; denn in der Definition wird ja nicht behauptet, daB derartige Stoffe existieren mtiBten, IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 63 sondern nur, dafi, wenn sie existieren, sie als Elemente bezeichnet werden sollen. Denken wir uns, der Chemiker hatte indessen einen Stoff gefunden, den er, wie Gold, weder weiter zerlegen noch aus anderen Stoffen aufbauen ko'nnte, so wiirde er vielleicht bei dieser Gelegenheit Anlafi haben, darauf zu verweisen, dafi ein Element nicht weiter zerlegt werden kann. In diesem Urteil: ein Element kann nicht weiter zerlegt werden, wiirde er von dem Element ein Merkmal (die Unzerlegbarkeit) aussagen, das ihm durch die Definition zugesprochen ist. Diese Aussage wiirde auch den Charakter deduktiver Gewifiheit tragen, denn sie stiitzt sich in ihrer Ableitung aus der Definition auf das Axiom (oder hier etwa auf die logische Norm) der Identitat. Derartige Ur- teile, die ein durch die Definition dem Begriffe zugesprochenes Merkmal von diesem aussagen, mo'gen als analytisch bezeichnet werden. Ich weifi, dafi sich diese Definition analytischer Urteile nicht genau mit der iiblichen deckt, weil sie etwa zu eng ist. Hier finde ich den vorgeschlagenen Sprachgebrauch aber zweck- mafiig. Bleiben wir bei demselben, so ist die Ableitung eines Urteils aus einer Definition ebenso deduktiv gewifi, wie die Ab- leitung einfachster Folgerungen. Wie aber die Definition keine Sicherheit geben kann, ob etwas unter den Begriff Fallendes in Wirklichkeit existiert, so kann auch die Gewifiheit der Ableitung des analytischen Urteils nicht die Existenz von etwas gewa'hr- leisten, fur das unser analytisches Urteil giiltig ware. Die analytischen Urteile forderten eine besondere Erwahnung, weil sie im folgenden Offers eine Rolle spielen. Nachdem wir festgestellt haben, was unter der Gewifiheit derselben zu ver- stehen ist, kftnnen wir jetzt zusammenfassend sagen, dafi es eine Gewifiheit des deduktiven Denkens neben der Gewifiheit des Gegebenen fur uns gibt. Wir werden also in Ubereinstimmung mit den Gegnern der Aufienweltshypothese alles anerkennen, was sich aus dem momentan Gegebenen mit Hilfe der logischen Axiome und der deduktiv-analptischen Ableitungsweisen ergibt. Jeder Versuch zeigt jedoch, dafi wir mit Hilfe deduktiver Schliisse iiber das momentan Gegebene nicht hinauskommen. Ich kann meine gegenwartigen Bewufitseinsinhalte durch Urteile als gewifi gegeben, als eine Vielheit, als untereinander verschie- den usw. festlegen, und aus diesen Urteilen Schliisse ziehen. 64 IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. Immer aber werden die Schlufisatze sich nur auf das mir momen- tan Bewufite beziehen. Denn im Schlufisatz eines Deduktions- schlusses konnen nur Subjekte und Pradikate vorkommen, die schon in den Pramissen vorkamen. Da nun das Material der Pramissen zuletzt das mir momentan Bewufite ist, konnen die materialen Bestandteile der Pramissen, d. h. ihre Subjekte und Pradikate, nur Gegebenes bieten. Also geben Subjekt und Pra- dikat des Schlufisatzes ebenfalls nur mir momentan Bewufites. Ich komme auf deduktiv-analytischem Wege uber das mir augen- blicklich Bewufite nicht hinaus. Indessen ist die Wissenschaft iiber das Gegebene im Sinne des dem Subjekt momentan Bewufiten immer hinausgegangen. Wollen wir sie nicht auf das enge Gebiet des Gegebenen be- schranken, so miissen wir weitere Voraussetzungen machen, die sich aus dem bisher Zugestandenen nicht beweisen lassen. Dachten wir aber einen Augenblick daran, der Wissenschaft die Flugel griindlich zu beschneiden und sie in den engen Ka'fig des momentan dem Subjekt Bewufiten zu setzen, so wiirden wir alsbald einsehen, dafi wir vielleicht ohne eine weitergehende Wissenschaft, nicht aber ohne ein das momentan Gegebene transzendierendes Wissen leben ko'nnen. Die Not des Lebens verlangt ein Wissen iiber Vergangenheit und Zukunft. Be- trachten wir zunachst die Frage nach der Erkenntnis der Ver- gangenheit. Wir beginnen die Diskussion des Problems mit der Samm- lung der zu berucksichtigenden Tatsachen. Noch einmal sei daran erinnert, dafi die deduktiv-analytische Bearbeitung des momentan Gegebenen die Kenntnis und iiberhaupt die Idee der Vergangenheit nicht liefern kann. Unter den momentan mir ge- gebenen Bewufitseinsinhalten gibt es jedoch eine besondere Klasse von Inhalten, die irgendwie uns die Vergangenheit vermitteln; es sind die Erinnerungen. Diese Erinnerungen sind gegenwartige Bewufitseinsinhalte, wie Gefiihle usw. Aber wir sehen in den Erinnerungen mehr als das; wir betrachten die Erinnerungen als Reprasente, als Hinweise fiir und auf etwas, das wir als den Gegenstand der Erinnerung bezeichnen wollen, von dem wir meinen, es habe einmal existiert, obwohl es jetzt nicht im Ge- gebenen zu finden ist. Ich erinnere mich der Gefiihle, die ich IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 65 an meinem ersten Schultage empfand. Diese meine Erinnerung jener einigermafien gemischten Gefiihle ist ein gegenwartiger Bewufitseinsinhalt, und als solcher unmittelbar gewifi. Aber wir sehen in der Erinnerung mehr. Ich bin iiberzeugt, dafi diese Erinnerung an |ene Gefiihle eine Darstellung von etwas ist, das mir nicht jetzt als bewufit gegeben ist, sondern das mir einst gegeben war. Ich behaupte nicht nur, dafi jetzt meine Erinnerung existiert, sondern auch, dafi der Gegenstand der Erinnerung, die Gefiihle, einst existiert haben. Mit dieser Behauptung iiber- schreite ich sicher das Gegebene bedeutend. Neben dem Ge- gebenen oder vor ihm setze ich etwas jetzt nicht Gegebenes voraus, setze voraus, dafi dies Nichtgegebene etwas Gegebenes zuruckgelassen hat und dafi ich dies Zuriickgelassene als solches1), als Representation des Nichtmehrgegebenen in Anspruch nehmen darf. Ich betone jetzt nur die Tatsachlichkeit dieser Deutung des Teils des momentan Gegebenen, den wir als Erinnerung bezeichnen. Ob wir diese Deutung anerkennen diirfen bei unserer Diskussion, wollen wir nachher priifen. — Ferner ist es eine Tatsache, dafi die Zulassigkeit der Deutung im konkreten Einzelfall oft bestritten wird. Ich behaupte, mich dieses Erleb- nisses zu erinnern, dies Erlebnis einst miterlebt zu haben. Man wendet mir ein, ich bilde mir das nur ein. Zuweilen komme ich selbst zu der Oberzeugung, dafi meine Deutung in diesem und jenem Falle falsch war. Und doch bleibt mir die Deutung, die Annahme eines Vergangenen, im ganzen gewifi, trotzdem ich die Voraussetzungen der Deutung absolut nicht zu beweisen vermag, trotzdem selbst die Deutung oft zweifelhaft, zuweilen sicher falsch sein kann. Dafi die Voraussetzungen der Deutung unbeweisbar sind, versteht sich von selbst. Aus dem jetzt Gegebenen ist das Vergangene nicht deduktiv ableitbar. Damit ich die Erinnerung als Representation eines Vergangenen deuten kann, mufi ich an- nehmen, dafi das Vergangene die Erinnerung zurticklafit und diese als Representation des Vergangenen erkennbar ist. Ich mufi das Vergangene voraussetzen, um die Deutung der Er- l) Vergl. Kants Begriffe der Reproduktion und der Rekognition. Kritik d. r. Vern. I. Aufl. S. 97 und S. 103. Becher, Philosoph. Voraussetzungen. 5 66 IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. innerung beweisen zu konnen. Bestreitet jemand die Zulassig- keit der Deutung, so ist an einen Beweis mit Hilfe der von uns bisher zugelassenen Voraussetzungen nicht zu denken. Oder sollte uns doch eine Moglichkeit des Beweisens ent- gangen sein? Unter Erinnerungen versteht man Vorstellungen, die vergangene BewuBtseinsinhalte reprasentieren. Also brauche ich zu den Erinnerungen nicht erst das Vergangene hinzuzu- deuten, sondern die Beziehung auf das Vergangene folgt ana- lytisch, mit Notwendigkeit aus dem Begriffe der Erinnerung1 selbst. — Nach den vorangeschickten Erorterungen iiber die Natur der GewiBheit analptischer Urteile erkennen wir in dieser Begriindung sofort eine Erschleichung. Definiert man die Er- innerung durch jene Beziehung auf Vergangenes, so fragt es sich eben, ob im Gegebenen solche Vorstellungen sich finden, die auf Vergangenes zu deuten sind und die daher als Erinne- rungen bezeichnet werden diirfen. Dann muB wieder von einem Teil der BewuBtseinsinhalte die Zulassigkeit jener Deutung voraus- gesetzt werden; sonst gibt es eben nichts, was nach jener De- finition Erinnerung heifien darf. Wir kommen also an den Voraussetzungen nicht vorbei. Wir miissen annehmen, was bezweifelt werden kann, daB ein Vergangenes existiert hat und daB unsere Erinnerungen auf dieses Vergangene so bezogen werden diirfen, daB Urteile iiber das Vergangene mo'glich sind. Trotz des mangelnden Beweises halt der naive Mensch das Existierthaben des Vergangenen fur so gewiB, wie das Existieren des jetzt Gegebenen und die Sicherheit logischer Axiome und deduktiver Ableitungen. Da- gegen halt er die Richtigkeit der Deutung im Einzelfalle fiir zweifelhaft. Der an erkenntnistheoretische Oberlegungen Ge- wOhnte ist geneigt, Gradabstufungen der GewiBheit zu machen. Am hOchsten wird ihm die GewiBheit des momentan Gegebenen und der logischen Axiome stehen. Trotz aller Bedenken wird auch die GewiBheit der Deutung der Erinnerungen auf ein Ver- gangenes iiberhaupt noch ungemein stark bleiben. Wieder etwas, wenn auch nur sehr wenig, sinkt die GewiBheit, wenn es sich darum handelt, ob der Modus, die Art und Weise der Deutung die richtige ist im allgemeinen, d. h. ob wir das Vergangene als vergangene Vorstellungen, Gefuhle, Wollungen deuten diirfen, IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 67 wenn, wie wir sagen, ,,Erinnerungen an" Vorstellungen, Gefuhle oder Wollungen vorliegen. Es ko'nnte ja sein, dafi die Erinne- rung von etwas ganz anderem stammte, als von Vorstellungen, Gefiihlen oder Wollungen, dafi die Beziehung auf ein Ver- gangenes zwar stimmte, nicht aber die angenommene Beziehung auf ein Vergangenes bestimmter Art. Oder vielleicht konnte das, was wir als Erinnerung an ein Gefuhl deuten, gerade immer von einer Vorstellung stammen. Diesen Moglichkeiten gegen- iiber meinen wir, meint auch der Erkenntnistheoretiker mit immer noch starker Gewifiheit annehmen zu miissen, dafi auch die Art und Weise der Deutung wenigstens im Prinzip richtig sei. Er halt mit Gewifiheit nicht nur die Annahme einer Erkenntnis des Vergangenen uberhaupt, sondern auch die eines qualitativen, in- haltlichen Erkennens dieses Vergangenen im Prinzip fest. Frei- lich gibt auch er zu, dafi im Einzelfalle diese Deutung falsch sein ko"nne. Der einzelnen Deutung kommt demnach der relativ geringste, je nach der Sachlage hohe oder niedrige Grad der Gewifiheit zu. Wenn wir nun zum dritten. Male einen unbewiesenen Kom- plex von Voraussetzungen, die Vergangenheitsannahmen, auf- nehmen, so bleibt uns wieder der Trost, dafi auch die Gegner der Aufienweltshypothese mit uns diese Voraussetzungen machen. Jeder Mensch, mag er auch theoretisch die Voraussetzungen als unbewiesen ablehnen, mufi sie doch im praktischen Wissen an- erkennen, denn sie sind im Verein mit gleich zu besprechenden weiteren unbewiesenen Annahmen notwendig zur Erhaltung des Lebens. Vorher aber mOge noch eine tro'stliche Bemerkung eingefiigt werden. Sind auch die dreifachen Voraussetzungen, die wir ge- macht haben, nicht durcheinander beweisbar, so sind sie doch miteinander vertraglich. Es gelingt, aus dem Material meiner vergangenen und gegenwartigen Bewufitseinsinhalte eine Ge- schichte meines individuellen Bewufitseinslebens zu konstruieren, die nirgendwo mit den logischen Axiomen in Konflikt gerat. Damit eine derartige Bewufitseinsgeschichte widerspruchsfrei mo'g- lich wird, mufi ich zwar in Einzelf alien Erinnerungsdeutungen als falsch verwerfen. Die schwachere Oberzeugung, die den einzelnen Deutungen zukommt, weicht dann vor der starkeren, 68 IV- Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. die wir von den logischen Axiomen haben. Aber die Uber- zeugung von der prinzipiellen Richtigkeit der Erinnerungsdeu- tungen ist mit der von der Gewifiheit der logischen Axiome und der jetzt gegebenen Bewufitseinsinhalte wohl vertraglich. Sind also unsere bisherigen Voraussetzungen auch nicht durch- einander beweisbar, so sind sie doch auch nicht durcheinander widerlegbar. Wollte ich mien mit diesem historischen Wissen, der Er- kenntnis meiner gegenwartigen und vergangenen Bewufitseins- inhalte zufrieden geben, so ware das mein sicheres Verderben. Notwendiger als die Einsicht in die Vergangenheit ist fur den Menschen der Ausblick in die Zukunft. Ohne Wissen um die Zukunft keine Sorge fur sie, und ohne Vorsorge, bewufite Vor- sorge fur die Zukunft ist der Mensch existenzunfahig. Wie das Tier auf seine Instinkte, so ist der Mensch angewiesen auf das Vorauswissen um die Zukunft. So sehen wir denn auch, dafi der a'rgste Skeptiker im Leben auf sein Vorauswissen baut. Wenn aber von einem alten Zweifler berichtet wird, er sei bissigen Hunden nicht aus dem Wege gegangen, so zeigt eben das Lacherliche einer solchen Konsequenz, wie selbstverstandlich wir die Notwendigkeit des Wissens um die Zukunft im Leben finden. Und doch ist ein Wissen von der Zukunft und vom Zu- kunftigen aus unseren bisherigen Voraussetzungen nicht ableit- bar. Ich mag Urteile, die sich allein auf Vergangenes und Gegenwartiges beziehen, und zwar sowohl ihrem Subjekt wie ihrem Pradikat nach, zu Deduktionsschliissen zusammenfugen, wie ich will, immer stecken wieder Subjekt und Pradikat des Schlufisatzes in Vergangenheit und Gegenwart. Denn Subjekt und Pradikat des Schlufisatzes miissen als Subjekt oder Pradi- kat in den nur von Vergangenheit und Gegenwart handelnden Pramissen schon enthalten sein. Wieder sind unbewiesene Voraussetzungen notig. Ich muB die Zukunft und das Zukunftige auch ohne deduktiven Beweis anerkennen. Ist aber vielleicht ein induktiver Beweis moglich? Auf das Vergangene folgte immer bisher ein Gegenwartiges, das dann wieder zum Vergangenen wurde. Also wird auch auf das jetzt gerade Gegenwartige, wenn es ein Vergangenes sein wird, etwas folgen, was einst gegenwartig sein wird, und das IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 69 1st das Zukunftige. Zu diesem induktiven SchluB ist nur zu sagen, dafi er eben nichts anderes ist, als die Annahme des Zukiinftigen. Anstatt zu sagen, ich setze das Zukunftige vor- aus, kann ich auch sagen, ich setze die Gultigkeit dieses Induktions- schlusses voraus. Indessen ist die induktive Formulierung der Annahme einer Zukunft nicht bedeutungslos. Auf der Induktion beruhen namlich auch alle Aussagen iiber die Details der Zukunft. Nicht nur, dafi eine Zukunft kommen wird, kann ich induktiv erschliefien, sondern auch, wie diese Zukunft sein wird. Die beiden Voraus- setzungen, einerseits die einer Zukunft uberhaupt, andererseits die iiber die Art und Weise dieser Zukunft, kann ich also zu- sammenfassen in der einen von der Gultigkeit der Induktion fiir die Zukunft. Wir mtissen uns demnach die Voraussetzung der Gultigkeit der Zukunftsinduktion etwas genauer ansehen. Wenn ich mir die Geschichte meines individuellen Bewufitseins vergegenwartige, so finde ich in ihr neben scheinbar ganz zusammenhanglosen Sukzessionen eine grofie Zahl von merkwiirdig regelmafiigen Aufeinanderfolgen. Die einfachste Form der regelmafiigen Auf- einanderfolge liegt dann vor, wenn der folgende Zustand dem Vorhergehenden gleich ist, d. h. wenn etwas konstant bleibt, in der Zeit beharrt. Solche Falle des Beharrens von Inhalten finde ich sehr ha'ufig, eigentlich uberall in der Vergangenheit. Aber dies Beharren ist kein absolutes, mein Bewufitsein besteht nicht aus einer Gesamtheit von unveranderlichen Inhalten. Alte In- halte gehen und neue treten auf. Auch in den Sukzessionen, die als Veranderungen zu bezeichnen sind, zeigt sich oft eine gewisse RegelmaBigkeit. Auf gewisse Wahrnehmungen folgen (in meiner individuellen Bewufitseinsgeschichte), wenn nicht immer, so doch auffallig oft bestimmte andere. Fast immer, wenn ich die Gesichtswahrnehmung des Losschiefiens eines Gewehrs hatte, folgte die Gehorswahrnehmung des Knalles. Fast immer, wenn ich die Gesichtswahrnehmung einer nahen Flamme hatte, folgte sehr bald die Temperaturwahrnehmung der Warme. Ziemlich regelmafiig folgte auf die Gesichtswahrnehmung des Fallens eines Menschen der Affekt eines Erschreckens. Der Vorstellung der Ferien pflegen regelmafiig Erinnerungen aus 70 IV- Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. den Schiilerjahren , dazu gewisse Gefiihle zu folgen. Dem Wollen einer Handbewegung folgen Muskel-, Gelenk- und Haut- empfindungen, oft auf Gesichtswahrnehmungen usw. Wie indessen das Beharren von Inhalten kein unbedingtes ist, so ist auch die Regelmafiigkeit der Sukzession von Ver- schiedenem keine unbedingte. Vielleicht ist in der Geschichte meines Bewufitseins zwanzigmal auf den Inhalt a der Inhalt b gefolgt. Beim einundzwanzigsten Auftreten von a ist b aus- geblieben. In weiteren fiinfundzwanzig Fallen folgte dann auf a wieder regelmafiig b. Porsche ich in meiner Geschichte etwas genauer nach, so finde ich vielleicht, dafi in den ersten zwanzig und den letzten fiinfundzwanzig Fallen dem b nicht nur a vor- ausging, sondern aufierdem noch a. Im einundzwanzigsten Falle dagegen fehlte das a. Es gelingt mir also, die Sukzession zu einer ausnahmslosen zu machen, indem ich nicht a allein, sondern a a als regelmafiiges Antezedens in Anspruch nehme. Urn Liicken in der Regelmafiigkeit ausfiillen zu konnen, gehe ich noch viel weiter. — Es ist eine Tatsache, dafi ich mich zuweilen eines Erlebnisses, dessen ich mich langere Zeit nicht erinnerte und nicht erinnern konnte, nachher wieder erinnert habe. Als ich mich des Erlebnisses noch nicht erinnert hatte, hatte ich also ein Erlebnis einmal gehabt, dafi nicht in meiner Geschichte des individuellen Bewufitseins verzeichnet stand. Aus dem Vorkommen dieser Falle schliefie ich induktiv, dafi auch jetzt noch Liicken in meiner Geschichte sein werden. Diesen Induktionsschlufi kann [ich dem nicht beweisen, der nur die alten drei Voraussetzungen in Bezug auf momentan Gegebenes, deduktive Ableitung und Erinnerungsdeutung zugestehen wollte. Wir alle geben aber nicht nur die Liicken in der Geschichte zu, wir bemuhen uns auch alle, sie mit Riicksicht auf jene Regel- mafiigkeiten zu beseitigen. Ich bin iiberzeugt, dafi auch in Wochen meines Lebens, deren ich mich gar nicht mehr erinnern kann, auf die Wahrnehmung des Abfeuerns einer Buchse un- mittelbar die Wahrnehmung des Knalles folgte, die Wahrnehmung des Tageslichtes langere Zeit beharrte, auf diese Wahrnehmung aber schliefilich die andere der Dunkelheit der Nacht folgte. Es ist sehr beachtenswert, dafi wir schon an dieser Stelle den Regelmafiigkeiten zu Liebe iiber das momentan Gegebene IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 71 und die Gegenstande der Erinnerung hinausgehen und etwas annehmen, was kein Deduktionsschlufi uns erweisen kann. Ge- lingt es nun durch diese mit dem bisherigen nicht zu beweisen- den Annahmen die Regelmafiigkeiten in der Geschichte meines Bewufitseinslebens zu absoluten zu machen? Wir miissen diese Frage verneinend beantworten in folgendem Sinne. Denke ich mir einmal, ich hatte den ganzen^Strom meines vergangenen und gegenwartigen Bewufitseins klar und liickenlos vor mir liegen, so dafi mir kein einziger Inhalt entginge. Dann wiirden immer noch Inhalte in Menge vorliegen, die in keine Regelmafiigkeit passen wiirden. Ich erwahne z. B. Wahrnehmungen, die ich iiberhaupt nur einmal mache. Aber es wiirden auch Falle folgen- der Art sicherlich nicht zu beseitigen sein. Auf die Kombination von Inhalten a^a2 . . . . an wiirde immer, vielleicht nur in einem Falle nicht, das b gefolgt sein. Untersuchte ich nun den Aus- nahmefall einerseits, die Gesamtheit der anderen Falle anderer- seits, so wurde in manchen Fallen zweifellos im vollstandigen Bewufitseinsstrome nichts zu finden sein, was allein im Aus- nahmefalle dem b nicht vorausgegangen ware, in den anderen Fallen aber immer neben den ata2 an gegeben gewesen ware. Mit anderen Worten, es wiirde uns nicht gelingen, durch Hinzu- nahme eines an + i etwa eine regelmafiige Sukzession von b auf die Kombination a^ . . . . anan + i zu gewinnen. Vor solchen Fallen meinen wir immer dann zu stehen, wenn wir Ursachen annehmen, die nicht in meinem vergangenen oder gegenwartigen Bewufitsein stecken, also fremdes Bewufitsein, unbewufites Psy- chisches, Materie oder so etwas als Ursachen zu unseren eigenen vergangenen oder gegenwartigen Bewufitseinsinhalten hinzu in An- spruch nehmen. Ob die Annahme solcher Ursachen zu Recht besteht, geht uns hier nichts an. Jedenfalls kann uns diese An- nahme als Hinweis auf Liicken in der Regelmafiigkeit in unserem Bewufitseinsstrome dienen. Nehmen wir nun einmal an, wir hatten ein absolut voll- standiges Wissen tiber den eigenen Bewufitseinsstrom in Ver- gangenheit und Gegenwart und uber alle Regelmafiigkeiten in seinem Verlaufe. Wenden wir den ganzen Apparat der deduk- tiven Schlufiverfahren auf diese Erkenntnisse an, so werden wir, wie frtiher bewiesen wurde, doch nie einen Schlufisatz gewinnen, 72 IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. in dem irgendetwas von der Zukunft enthalten ware. Auch die Regelmafiigkeiten, mogen sie nun absolut oder liickenhaft sein, bleiben immer nur Regelmafiigkeiten des Vergangenen und Gegenwartigen. Trotzdem nehmen wir alle an, dafi auch in Zukunft auf den Schufi der Knall, auf den Tag die Nacht, und dafi auf den gegenwartigen Tag eine zukunftige Nacht folgen wird. In der Voraussetzung, daB auch in der Zukunft die Regelmafiigkeiten, sei es absolut oder nur liickenhaft, fortbestehen, besteht die not- wendige Grundvoraussetzung der Zukunftsinduktion. Diese Voraussetzung mufi ich annehmen, unbewiesen hinnehmen, wenn ich tiber die Zukunft etwas ausmachen will. Ich kann diese Voraussetzung, wie die des Bestehens einer Zukunft uberhaupt, als SchluBsatz eines induktiven Beweises darstellen; gewifi, aber dieser induktive Beweis fur die Zukunft fordert nichts anderes als das Setzen dieser Voraussetzung, wie der einer Zukunft uberhaupt. Wir haben gesehen, dafi auch die bei der Erinnerungs- deutung gebliebenen Liicken im Vergangenen den feststellbaren Regelmafiigkeiten gema'fi beseitigt werden. Auch fur das Er- schliefien des Zukunftigen ist unser Wegweiser die feststellbare Regelmafiigkeit des Vergangenen. In beiden Fallen zeigt sich das gemeinsame Verfahren, auch dort die Regelmafiigkeiten weiter anzunehmen, wo eine Erkenntnis auf Grund des direkt oder durch Erinnerung Gebotenen unter Anwendung der Deduktion versagt. Wir ko"nnen vielleicht psychologisch dies Vertrauen auf das Fort- bestehen der Regelmafiigkeiten in sonst nicht erkennbarer Ver- gangenheit und Zukunft erklaren, wie das der Empirismus ver- sucht. Aber dies Erklaren setzt dann Induktionen, und damit jenes Vertrauen voraus. Solche Erklarungen sind deshalb nicht wertlos, aber sie waren nicht geeignet, jemandem das Vertrauen einzuflOfien, der es noch nicht hatte. Vielleicht gibt es aber doch einen Weg, auf dem der zu jenem Vertrauen kommen konnte, welcher es noch nicht besafie. Da ware an die Tatsache zu erinnern, dafi man, wenn man friiher induktiv im Vertrauen auf das Fortbestehen jener Regelmafiig- keiten geschlossen hat oder nur hatte, man recht oft, allerdings nicht immer, dies Vertrauen bestatigt gefunden hat oder haben IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 73 wiirde. 1st diese Einsicht nicht geeignet, das Vertrauen zu er- wecken? Nein, denn es setzt wieder eine Induktion voraus, wenn aus dieser bisherigen Regelmafiigkeit der Bestatigung des Vertrauens auf kiinftige Bestatigungen des Vertrauens geschlossen wird. Besteht das Vertrauen zu der Regelmafiigkeit uberhaupt nicht, so kftnnen die erlebten Bestatigungen auch nicht zu ihm verhelfen, denn in ihnen steckt ebensowenig eine Burgschaft fur die Zukunft, wie in irgendwelchen anderen Regelmafiigkeiten. Wohl aber sind diese Bestatigungen in hohem Mafie geeignet, das einmal vorhandene Vertrauen auf die Induktion zu verstarken, denn auf Grund der oft erlebten Bestatigungen konnen wir auf kiinftige Bestatigungen schliefien und so jede Induktion starken. Es bleibt demnach nichts ubrig, als den Grundgedanken des induktiven Schliefiens auf zukiinftige und vergangene Inhalte meines Bewufitseins einfach anzuerkennen. Wir machen damit wieder eine Voraussetzung, die wir dem nicht beweisen kQnnen, der sie nicht annimmt. Wir nehmen an, dafi die beobachteten Regelmafiigkeiten in meinen Bewufitseinsinhalten, die ich aus dem gegenwartig Gegebenen und der Erinnerungsdeutung kenne, auch gelten iiber dies Gebiet hinaus, fur das ganze Gebiet meines vergangenen und zukiinftigen Bewufitseins. Wie wir fiir die Vergangenheit des individuellen Bewufitseins Liicken in dieser Regelmafiigkeit anerkennen mufiten, so werden wir auch iiber- zeugt sein, dafi sich gelegentlich auch zukiinftige Inhalte in den gesetzlichen Zusammenhang nicht einordnen lassen werden. Es werden in meinem Bewufitsein Inhalte auftreten, die ich nicht induktiv vorhersagen konnte, und andere Vorhersagen werden sich nicht bestatigen. Und das wird auch dann eintreten konnen, wenn bisher etwa auf ata8 . . . . an immer b folgte, und ich daher aus dem Eintreten von axa2 . . . . an auf das Eintreffen von b ge- schlossen habe. Den induktiven Urteilen, die auf Grund der Daten meiner individuellen Bewufitseinsgeschichte iiber meine vergangenen und zukiinftigen Bewufitseinsinhalte aussagbar sind, kommt also nie voile Gewifiheit, immer nur Wahrscheinlichkeit zu. Nun kann es offenbar vorkommen, was im Leben sehr oft geschieht, daB zwei induktiv gewonnene Urteile einander wider- sprechen. Da wir von vornherein diesen Urteilen nur Wahr- scheinlichkeit zuschreiben durften, werden wir genau so ver- 74 IV- Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. fahren, wie bei Erinnerungsdeutungen, die mit logischen Axiomen oder deduktiven Ableitungen in Konflikt kommen. Wir opfern die induktive Uberzeugung der deduktiven GewiBheit. Wir halten an den logischen Axiomen fest, also etwa an der Richtigkeit des Satzes vom Widerspruch, und nehmen an, daB eines der beiden induktiv gewonnenen Urteile falsch war. Etwas Beunruhigendes liegt dennoch in der Tatsache, daB unsere Voraussetzung trotz nach dem bisherigen einwandfreier Anwendung zu falschen Resultaten ftihren kann. Aber auch die Erinnerungsdeutungen konnen uns irrefiihren, und auch in der Erinnerung finden wir kein absolutes Kriterium, auf Grund dessen wir eine wahre Deutung unter alien Umstanden von einer falschen unterscheiden konnten. Wie wir aber auf Grund der Erinnerungsdeutung zur Konstruktion einer Vergangenheit des individuellen BewuBtseins gelangen konnten, deren Teile unter- einander harmonierten, die in sich widerspruchsfrei war, so bleibt uns auch hier der gleiche Trost. Mache ich die Voraus- setzung des Fortbestehens der durch Erinnerungsdeutung und momentan BewuBtes gelieferten RegelmaBigkeiten, so kann ich zu einem in sich harmonischen, widerspruchsfreien ,,Wissen" iiber meinen gesamten vergangenen und zukiinftigen BewuBtseins- strom gelangen. Freilich werden in diesem ,,Wissen" einige falsche Annahmen stecken, freilich wird mir in Zukunft allerlei ins BewuBtsein kommen, was nicht in die RegelmaBigkeiten paBt; auch in der Vergangenheit werden Durchbriiche der Regel- ma'Bigkeit bleiben. Aber das alles hindert nicht, daB auf Grund der bisher gemachten Voraussetzungen widerspruchsfreie Er- kenntnisse iiber BewuBtseinsinhalte moglich werden, die weder momentan gegeben, noch durch Erinnerungen reprasentiert sind. Wir sind |zur Anerkennung der M5glichkeit von Erkennt- nissen tiber das ganze individuelle, vergangene, gegenwartige und zukunftige BewuBtsein gelangt. Mit Befriedigung wollen wir an dieser Stelle noch einmal konstatieren, dafi die Gegner der AuBenweltshypothese auch in der Anerkennung der Induktionen mit uns einig sind, soweit diese sich auf das eigene vergangene und zukunftige BewuBtsein beziehen. Nun wollen wir einen Schritt weiter gehen, den nicht alle unsere Anklager mitmachen werden. Wurde Vergangenheit und IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 75 Zukunft nur von den argsten Skeptikern und auch von diesen nur in der Theorie, nicht im Leben, in Frage gestellt, so wird das Bewufitsein anderer Menchen und Tiere von Denkern geleugnet, die sich in Bezug auf die ersten Punkte keineswegs ganz dem Zweifel hingegeben haben, von den Solipsisten oder theoretischen Egoisten. Bisher habe ich noch nichts anerkannt als mein eigenes Bewufitsein, sofern es war, ist und sein wird. Ob daneben noch etwas anderes, z. B. Bewufitsein in anderen Menschen besteht, dariiber wurde im vorhergehenden noch nichts ausgemacht. Bei der Einfiihrung der bisher angenommenen Voraus- setzungen konnten wir immer darauf verweisen, dafi ohne sie der Mensch nicht leben konne. So steht es mit der Annahme von Bewufitsein bei anderen Menschen und Tieren nicht. Ich kann sehr wohl leben und fur meine Zukunft sorgen, wenn ich glaube, dafi aufier meinem Bewufitsein nichts existiert, oder wenn ich iiberhaupt nichts dariiber ausmache, ob neben meinem Bewufit- sein noch etwas existiert. Aus den Wahrnehmungen der Hand- lungen anderer Menschen schliefie ich induktiv darauf, welche Wahrnehmungen von Handlungen anderer Menschen spater er- folgen werden, und dementsprechend richte ich mein Verhalten ein. Ob meinen Wahrnehmungen fremder Menschen etwas aufier diesen Wahrnehmungen entspricht, Bewufitseinsinhalte in den fremden Menschen, brauche ich nicht zu wissen, urn leben zu konnen. Wenn ich nur weifi, wie meine Wahrnehmungen eines Zornigen verlaufen werden, so kann ich mich danach richten, ob dabei irgendwie in einem fremden Bewufitsein etwas existiert, was meinem Affekt des Zornes ahnlich ist, ist fiir mich und mein Heil unwesentlich. Lafit sich somit als Solipsist schon leben, so mufi der Stand- punkt doch ethisch bedenklich erscheinen. Bin ich uberzeugt, dafi fremde Lust und fremdes Leid iiberhaupt nicht existiert, so brauche ich mich nicht mehr darum zu bekiimmern, wenn ich einen fremden Menschen im brennenden Haus hilflos sehe, als wenn ich ein fremdes Bett dort erblicke, falls ich keine Ver- anlassung habe zu glauben, dafi mir der fremde Mensch einmal niitzen kann. Existiert nur mein eigenes Wohl und Wehe, so brauche ich auch nur fiir das eigene zu sorgen. Der theoretische Egoismus bringt den praktischen mit sich. Assoziativ erregtes 76 IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. Mitleid mufi dem Solipsisten als eine Dummheit erscheinen, deren er sich erwehren wird, wie des kindlichen Mitleids mit einer Puppe. Aber auch wenn wir ethischen Postulaten einen Einflufi auf unsere theoretischen Oberzeugungen gerne einraumen wollen, werden wir doch versuchen, unsere Oberzeugungen, soweit mog- lich, noch anders zu rechtfertigen. Nun ist allerdings sofort klar, dafi wir auf deduktivem Wege aus alien mSglichen Urteilen iiber unser eigenes Bewufitsein nie die Existenz fremden Bewufitseins erschliefien kb'nnen. Versuchen wir es daher wieder einmal mit der Induktion, d. h. mit dem Ver- trauen auf das Fortbestehen von Regelmafiigkeiten in Gebieten, die jenseits des Gebietes liegen, fur das wir diese Regelmafiigkeiten bisher anerkannten. Wir haben gesehen, dafi wir vergangene Inhalte des eigenen Bewufitseins annehmen, die sich nicht durch Erinnerungsdeutung ergeben. Folgt auf at a, . . . . an in dem Erinnerten sonst regel- mafiig b, liegt aber ein Fall vor, in dem wir uns wohl noch der did, ....an, nicht aber mehr des b erinnern, aber auch nicht erinnern, dafi b nicht eingetreten ist, so nehmen wir an, dafi b eingetreten, aber von uns vergessen worden sei. Wenn nur dann b auftritt, falls at a, . . . . an aufgetreten waren nach der Deutung unserer Erinnerung, einmal aber b auftrat und wir uns nur des Vorhergehens von a2 . . . . an erinnern konnen, nicht aber durch Erinnerung wissen, dafi aj nicht mit a2 . . . . an zu- sammen war, wenn wir ferner wissen, dafi in den Fallen, in denen nach Burgschaft der Erinnerung ^ nicht, wohl aber a2 . . . . an gegeben waren, b nicht auftrat, so nehmen wir bei jenem einen Falle an, dafi ax auch in meinem Bewufitsein war, von mir aber vergessen worden ist. Ich nehme einfach an, dafi die Regel- mafiigkeiten weiter gelten, solange kein Widerspruch gegen Erinnerungsdeutungen und momentan Gegebenes entsteht. Und falls ein Widerspruch gegen Erinnerungsdeutungen entsteht, so werde ich oft lieber die Erinnerungsdeutung fallen lassen als die Annahme der Regelmafiigkeit, d. h. ich vermute, dafi meine Erinnerung mich tauscht. Genau so wie beim induktiven Erschliefien von vergangenen Bewufitseinsinhalten, die nicht durch Erinnerungsdeutung geliefert werden, verfahre ich auch beim Erschliefien von fremdem Bewufit- IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. 77 sein. Aus meiner individuellen Bewufitseinsgeschichte weifi ich auf Grund der Erinnerungsdeutung, dafi Ausrufen der Freude und Trauer, die ich als GehCrs- und Bewegungswahrnehmungen hatte, regelmafiig starke Affekte vorhergingen. Erinnere ich mich, dafi ich einmal die Gehftrs- und Bewegungs- wahrnehmungen eines solchen Ausrufes hatte, etwa einen Schrei ausgestofien habe, so nehme ich an, dafi ein Affekt vorherging, wenn die Erinnerung diese Deutung nicht verbietet. Hore ich nun einen Schrei, fehlen bei mir aber Affekt und Bewegungs- empfindungen, so mache ich es genau wie vorhin. Ich nehme an, dafi auch jetzt der Affekt vorhergegangen ist, auch dafi die Bewegungsempfindungen dabei waren. Diese Annahme gerat mit meinen bisherigen nirgendwo in Konflikt, ebensowenig wie die von vergangenen Inhalten meines Bewufitseins, die ich nicht erinnern kann. Ich nehme hier wie dort etwas an, das mir nicht unmittelbar gegeben ist und dessen ich mich nicht erinnern kann. Dafi neben meinem Bewufitsein noch weiteres Bewufitsein existiert, ist von vornherein weder wahrscheinlicher noch unwahrschein- licher, als dafi es nicht der Fall ist. Durch die Annahme von fremdem Bewufitsein wird die Regel- mafiigkeit schon viel weniger liickenhaft. Immer, wenn fremdes Bewufitsein in mein Bewufitseinsleben, oder meine Bewufitseins- inhalte auf fremdes Bewufitsein wirken, finde ich nun regelmafiige Antezedenzien und Konsequenzien, die mir sonst fehlten. Ho"rt der Solipsist im dunklen Zimmer plotzlich eine Stimme, so fallt diese Wahrnehmung in den Verlauf seines Bewufitseins ohne irgendwelche regelmafiig vorhergehenden Existenzen herein. Nehmen wir aber das Bewufitsein eines zweiten Menschen in dem Zimmer an, so erha'lt diese Wahrnehmung ein regelmafiiges Antezedens in den Bewufitseinsvorgangen dieses anderen Menschen. Dabei ist es von besonderem Interesse, dafi die fremden Bewufitseinsinhalte, die wir so auf Grund von Lucken in unserem sonst regelmafiigen Bewufitseinszusammenhange annehmen, unter sich wieder einen in weiten Grenzen regelmafiigen Zusammen- hang bilden. Es entsteht so ein Zusammenhang von induktiven Annahmen, den wir in folgender Weise schematisch darstellen konnen. Wenn ich auf Grund von Lucken in meinen Bewufit- seinsregelmafiigkeiten induktiv auf fremde Bewufitseinsinhalte 78 IV- Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. H! a2 a3 .... as schliefie, so bestehen zwischen diesen derartige Regelmafiigkeiten, dafi ich a0 ap aq ar as auch induktiv erschliefien konnte aus at a2 a3 a4 as , wenn ich diese nach Mafigabe der in mir sich abspielenden Regelmafiigkeiten induktiv erganzen wiirde. Ferner: betrachte ich nur den fremden Bewufitseinsstrom fur sich, so finde ich in dessen Regelmafiigkeiten eine Reihe von Lticken, die durch induktive Erganzung wieder auf fremdes Be- wufitsein fiihren. Diese dem fremden Bewufitsein fremden Bewufit- seinsinhalte kOnnen zum Teil aber nach dem Charakter der be- treffenden Regelmafiigkeiten nur meine eigenen Bewufitseinsinhalte sein. Wende ich also die Induktion, die von meinem zu fremdem Bewufitsein ftihrte, wieder auf das fremde Bewufitsein an, so ftihrt sie mich oft vom fremden auf mein eigenes Bewufitsein zuriick. Der induktive Schlufi, der von meinem zu fremdem Bewufitsein ging, bestatigt sich also direkt in seiner Anwendung auf fremdes Bewufitsein, soweit er auf das meinige zuruckfuhrt. Dieser iiberaus merkwiirdige und verflochtene Wechselzu- sammenhang geht noch viel weiter. Vom ersten fremden Bewufit- sein komme ich auf ein zweites, drittes usw., tiber das sich induktiv bestimmte Aussagen ergeben. Aber ich komme auch direkt von meinem Bewufitsein aus auf jenes zweite und dritte usw., und die sich so ergebenden Aussagen harmonieren mit jenen. Nehme ich nun die grofie Zahl aller fremden Bewufitseine, die ich direkt von mir aus induktiv erschliefie, und sehe ich, wie die Schlusse von jedem der fremden Bewufitseine aus damit zu- sammenpassen, so entsteht eine grofiartige Harmonic von induk- tiven Annahmen, vor der der Solipsist ganz ratios dastehen mufi. Ich brauche nicht auszufuhren, wie diese Harmonic noch gewaltiger, fur den Solipsisten noch ratselhafter wird, wenn ich die Bestatigungen betrachte, die die Hypothese vom fremden Bewufitsein in ihren Folgerungen auf zukunftiges erfahren hat. Waren die induktiven Schlusse uber mein eigenes Bewufitsein hinaus auf fremdes Bewufitsein falsch, so ware gar nicht zu verstehen, weshalb diese Schlusse immer in solcher Harmonic stehen mufiten. Die Tatsache der Moglichkeit der Annahme all des fremden Bewufitseins, einer so komplizierten Hvpothese, die einer so ungeheueren Vielheit von Erlebnissen gerecht wird, ist als solche doch bemerkenswert. Bestande die Annahme nicht IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 79 zu Recht, so ware es doch als ein unglaublicher Zufall zu betrach- ten, dafi wir eine so zusammengesetzte Fiktion iiberhaupt auf Grund der einfachen Voraussetzung des Fortbestehens von Regel- mafiigkeiten erhalten kOnnten, die so unendlich oft bestatigt wurde. 1st diese einfache Voraussetzung falsch, unzulassig, woher kommt es dann, dafi sie immer und immer wieder zu richtigen Resul- taten fiihrt? Schliefie ich von bestimmten Wahrnehmungen, also Bewufitseinserscheinungen in mir auf fremde Bewufitseinsvor- gange, und von diesen fremden Bewufitseinsvorgangen nach dem- selben Prinzip wieder auf zukunftige Bewufitseinsvorgange in mir, warum tritt dann der erschlossene Bewufitseinsvorgang in mir immer wieder ein, wenn es nicht deshalb ist, dafi das Prinzip dieses Schliefiens richtig ist. Wenn wir das gesamte Tatsachenmaterial betrachten, so werden wir annehmen mussen, dafi der induktiven Erschliefiung von fremdem Bewufitsein eine an Gewifiheit grenzende Wahr- scheinlichkeit zukommt. Diese im Leben von der Gewifiheit nicht mehr unterscheidbare Wahrscheinlichkeit kommt aber der Annahme schon deshalb zu, weil sie uberhaupt mb'glich, d. h. mit keiner anzuerkennenden Tatsache und nicht mit sich selbst in Konflikt gerat. Wenn in der Anerkennung von fremdem Bewufitsein auf Grund der Induktion ein prinzipieller Fehler steckte, so mtifite unter der Unzahl von Schlussen, die auf diese Hypothese sich stiitzen, dieser prinzipielle Fehler irgendwo zum Vorschein kommen. Die meisten Feinde der Aufienweltshypothese nehmen denn auch mit uns die Existenz von fremdem Bewufitsein an. Sie geben auch zu, dafi dies fremde Bewufitsein induktiv analogisch, d. h. auf Grund der Voraussetzung der Regelmafiigkeiten im Geschehen er- schlossen ist. Sie werden ferner zugeben, dafi die innere Harmonie der erschlossenen Erkenntnisse untereinander sehr fur sie spricht. Durch die Annahme von fremdem Bewufitsein ist die Regel- mafiigkeit im Geschehen liickenloser geworden. Sie ist noch nicht absolut luckenlos. Noch immer brechen die meisten Sinnes- wahrnehmungen in die Bewufitseinsstrome der Menschen und Tiere herein, ohne gesetzlich durch die vorhergehenden Bewufit- seinsinhalte bestimmt zu sein, selbst wenn ich diese in ihrer Gesamtheit, bei alien Menschen und Tieren, betrachte. Was liegt nun na'her als den alten Weg weiter zu gehen, die Regelmafiig- 80 IV« Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. keitsvoraussetzung weiter zu verfolgen! Hat sie mich bisher gut gefiihrt, so wird sie mir auch in Zukunft wohl gute Dienste leisten. Das ist nichts als ein InduktionsschluB, nach dem wir uns im Leben immer richten. Genugen die vorhandenen Ante- zedenzien im BewuBtsein aller Menschen und Tiere nicht, um als unbedingt regelma'Bige Antezedenzien der Wahrnehmungen zu dienen, zu miissen eben, soil RegelmaBigkeit in das Gewiihl der Wahrnehmungen kommen, neue Antezedenzien anerkannt werden. Genau so kamen wir zu der Annahme vergangener BewuBtseinsinhalte, die uns nicht durch Erinnerung geliefert wur- den, genau so zum BewuBtsein anderer Menschen und Tiere. Da nun die erforderlichen Antezedenzien der Wahrnehmung, mit denen wir uns jetzt beschaftigen, nicht in den BewuBtseinsstrOmen der Menschen und Tiere zu finden sind - - sonst waren sie ja nicht nOtig — , miissen wir sie aufierhalb suchen. Die Gesamt- heit dieser neuen Antezedenzien nennen wir AuBenwelt1). Wir machen die Hypothese der AuBenwelt, wie die Annahme vergangener nicht mehr erinnerbarer BewuBtseinsinhalte in mir, und die fremden BewuBtseins der RegelmaBigkeit zu Liebe, die wir iiberall voraussetzen. Prufen wir nun, wie sich die Hypo- these bewahrt. Da miissen wir sagen, sie konnte sich nicht besser bewahren. Sie bewahrt sich so gut, daB selbst der a'rgste Feind derselben im taglichen Leben sie nicht entbehren kann. Sehen wir uns die Sache einmal etwas genauer an! Auf Grund meiner optischen Wahrnehmung sehe ich mich genOtigt, den Antezedenzien derselben in Bewufitseinsstromen noch weitere hinzuzufiigen. Ich sehe eine StraBenlaterne im Menschengewiihl. Alle die iibrigen Menschen, die in jener Richtung blicken, haben die Gesichtswahrnehmung der Laterne. Auf Grund meiner Wahr- *) Die Gegner der AuSenweltsannahme haben die Regelmfifiigkeitsvor- aussetzung zuweilen durch die Annahme von BewuBtseinsmoglichkeiten durch- fiihrbar zu machen gesucht. Der Stein, den Reiner wahrnimmt, uberhaupt alle AuBenweltsdinge, sind solche Bewufitseinsmoglichkeiten. — Indessen leistet diese von J. St. Mill stammende Auffassung nur scheinbar den er- warteten Dienst. Entweder sind die BewuBtseinsmo'glichkeiten zugleich wirk- liche Existenzen, dann bilden sie eine AuBenwelt. Oder sie sind nur in unserem Vorstellen zu finden, nicht aber auBerhalb unseres BewuBtseins wirklich. Dann konnen sie aber nicht Antezedenzien sein, die die Regel- mSBigkeitsvoraussetzung zu befriedigen vermochten. IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die Aufienweltshypothese. 81 nehmung mufi ich ein Aufienweltsantezedens annehmen. Alle die anderen Menschen miissen auch dies Aufienweltsantezedens annehmen. Wird die Lampe beseitigt, so verschwindet fur mich die Annahme des Antezedens. Gleichzeitig aber nehmen die anderen Menschen nach demselben Prinzip nun nicht mehr die Existenz des Antezedens an. Allgemeiner gesprochen, auf das- selbe Aufienweltsantezedens fiihren eine Menge von Wahrneh- mungen in mir und anderen Menschen und Tieren. Wenn das Prinzip, auf Grund dessen ich dies Aufienweltsetwas erschliefie, die Regelmafiigkeitsvoraussetzung, falsch ist, wie kommt es dann, dafi diese induktiven Schlusse miteinander harmonieren? Das Vertrauen auf unseren Fiihrer, die Regelmafiigkeits- voraussetzung, war vielleicht anfangs nicht so grofi, als wir uns in das neue unermefilich weite Gebiet der Annahmen iiber die Aufienwelt wagten. Aus dem vertrauten Bezirk menschlichen und tierischen Bewufitseins ging es ja in, wie es scheint, vo'llig fremde Lander. Nun stehen wir aber, ahnlich wie bei der An- nahme fremden Bewufitseins, vor der folgenden nicht fort- zuleugnenden Tatsache. Wir gehen aus von einer Fiille von Erkenntnissen tiber Inhalte in Menschen- und Tierseelen, die wir in Urteilen formulieren mOgen. Wir schliefien induktiv iiber diese Urteile hinaus, d. h. wir machen die einzige Annahme, dafi auch dort regelmafiige Antezedenzienkomplexe existieren, wo sie im Menschen- und Tierbewufitsein nicht vollstandig oder gar nicht vorliegen; indem wir diese einzige Annahme auf die anfangs erwahnten unendlich zahlreichen Urteile anwenden, kommen wir zu einer in sich harmonischen ungeheuren Gesamtheit von Ur- teilen, der Aufienweltshypothese. Die Wahrnehmungen, zu denen wir die Antezedenzien annehmen, sind als solche fur den Gegner der Aufienweltsauffassung zum grofien Teil unabhangig. Und doch fiihren sie nicht zu widersprechenden Schliissen iiber die Antezedenzien. Schliefie ich nun aus den erschlossenen Ante- zedenzien unter Voraussetzung jener Regelmafiigkeit zuriick auf zukiinftige Inhalte menschlichen Bewufitseins, so werden diese Schlusse nachher bestatigt. Sie sind unendlich oft bestatigt worden. Wir haben eine Hppothese folgender Art vor uns. Sie geht aus von einer Unzahl von Tatsachen, den Sinneswahrnehmungen. Sie macht die einzige Voraussetzung, dafi diese Tatsachen Ante- Be cher, Philosoph. Voraussetzungen. 6 82 IV. Prtifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. zedenzien der Art haben, dafi immer, wenn die Gesamtheit der letzteren vorliegt, auch die Tatsachen eintreffen. Daraus ergibt sich eine Unsumme von Schliissen, die in sich widerspruchsfrei sind und unendlich oft bestatigt werden. Beweist nicht, nachdem, was wir tiber Hppothesenbildung gesagt haben, die blofie Existenz einer solchen Hypothese ihre hohe Wahrscheinlichkeit? Je mehr Ausgangstatsachen, um so besser fur die Hypothese; je weniger neue Annahmen — eigentlich liegt nur die Erweite- rung einer langst akzeptierten vor — , um so wahrscheinlicher die Hppothese; kommen erst zahlreiche Verifikationen hinzu, so wa'chst die Wahrscheinlichkeit der Hppothese sehr schnell. 1st der Gegner der Aufienweltshypothese nicht Solipsist, so weisen wir ihm gegeniiber mit Nachdruck darauf hin, dafi wir uns der Aufienweltsannahme gegeniiber in ganz entsprechender Situation befinden wie bei der Erschliefiung des Bewufitseins fremder Menschen und Tiere. Hier wie dort setzen wir Regel- mafiigkeiten voraus, die in dem bis dahin als existierend Aner- kannten nicht zu finden sind. Hier wie dort fiihrt diese Voraus- setzung zur Annahme von bisher nicht angenommenen Existenzen. Hier wie dort stehen die so entspringenden neuen Annahmen von Existenzen in bester Harmonic untereinander. Hier wie dort konnen wir aus den Annahmen iiber jene neue Existenzen auf Grund der Regelmafiigkeitsvoraussetzung auf das Kommen von Existenzen schliefien, die, sind sie spater da, auch ohne die neu angenommenen Existenzen anerkannt werden miifiten. Hier wie dort kommen dann jene erschlossenen Existenzen tatsachlich. Hier wie dort haben wir also Verifikationen in Hiille und Fulle. Diese Bewahrung mufi bei beiden Hppothesen als total unverstandlich erscheinen, wenn das ihnen gemeinsam zugrunde liegende Prinzip der Regelmafiigkeit des Geschehens falsch sein sollte. Hat man aber einmal das fremde Bewufitsein anerkannt, so scheint es nichts weiter als Willkiir, bestenfalls vo'llig ubertriebene Vorsicht, die Aufienweltsannahme nicht mitmachen zu wollen. Das Stehen- bleiben auf halbem Wege hatte doch nur Sinn und Grund, wenn besondere Gefahren in Sicht waren. Statt dessen scheint der Weg, wie bisher, auch im weiteren Verlauf glatt und eben. Be- hauptet der Feind der AuBenweltshppothese positiv, diese sei falsch, so kann er nicht eine Spur eines Beweises daftir erbringen. IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. 83 Und die Last des Beweises hat der ebensogut zu tragen, der behauptet, eine mogliche Annahme sei falsch, wie der, welcher fiir ihre Wahrheit eintritt. Will er sich iiber die AuBenwelts- hypothese Urteilsenthaltung auferlegen, warum verfahrt er in Bezug auf das BewuBtsein anderer Menschen und Tiere nicht ebenso? Hat er aber sich gefreut, der Annahme fremden BewuBt- seins hOchste Wahrscheinlichkeit zuschreiben zu dtirfen, so wird er auch der AuBenweltshppothese bedeutende Wahrscheinlichkeit nicht absprechen ko'nnen. Fiir die GewiBheit logischer Axiome, des deduktiven Denkens, fur die Wahrscheinlichkeit der Erinnerungsdeutung, der Regel- ma'Bigkeitsvoraussetzung und der daraus folgenden Annahmen unerinnerter, vergangener Inhalte in meinem BewuBtsein, zu- kiinfter Inhalte in ihm, fremden BewuBtseins, schlieBlich fiir alles und jedes, das wir als gewiB oder wahrscheinlich anerkennen, gewinnt uns zuletzt zweierlei. Erstens ein gewisser, nicht zu bestreitender psychischer Zwang, demzufolge wir nicht anders konnen, als die GewiBheit des uns momentan bewuBt Gegebenen, der logischen Axiome und deduktiven Ableitungen anerkennen, und der uns zur Erinnerungsdeutung, zur RegelmaBigkeitsvoraus- setzung und damit zur Annahme vergangener, zukiinftiger und fremder BewuBtseinsinhalte, schlieBlich der AuBenwelt, treibt. Widersetzen wir uns diesem Zwang, so ist kein Wissen moglich. Fiigen wir uns ihm aber, so zeigt sich zweitens, daB alles, was der Zwang uns aufdrangt, miteinander vereinbar und zur Harmonic zu bringen ist, daB es sich auf das beste bewahrt. Das ist schlieBlich alles, was zur Rechtfertigung der Gesamtheit aller Uberzeugungen angefuhrt werden kann. Wem das nicht geniigt, dem ist nicht zu helfen. Wer nicht ins Wasser geht, lernt nicht schwimmen. Wer sich jenen sich mehr oder weniger aufzwingenden Voraussetzungen nicht anvertraut, erreicht nie ein Wissen. Schon lange wird der Gegner der AuBenweltshppothese folgenden Einwurf bereit haben. Der SchluB auf fremdes BewuBt- sein wurde immer mit dem auf die AuBenwelt verglichen, und beide wurden auf gleiche Stufe gestellt. Da besteht aber doch ein erheblicher Unterschied. Das, was ich als regelma'Biges Antezedens anerkenne, wenn ich fremdes BewuBtsein erschlieBe, 6* 84 IV' Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. 1st doch immer noch Bewufitsein, etwas, das ich kenne, und von dem ich von mir her weifi, welcher Natur es ist. Ebenso schlofi ich auf vergangene Inhalte meines Bewufitseins induktiv, d. h. auf etwas, dessen Natur mir wohl vertraut ist. Anders steht es um die Aufienwelt. Von den Antezedenzien, die man da annimmt, weifi ich absolut nichts, sind sie ja doch nicht bewufiter Natur. Zudem zeigt der Streit der metaphysischen Systeme, dafi ich nichts von der Natur der Aufienwelt wissen kann. Was helfen mir nun Antezedenzien, von deren Natur ich nichts weifi? J) Sind sie aber nicht bewufiter Natur, so ist der Induktionsschlufi, der auf sie fiihrt, mit dem Induktionsschlufi auf fremdes Bewufitsein gar nicht vergleichbar. Man sieht ja, beide Induktionsschliisse fiihren zu Existenzen ganz verschiedener Natur. Also darf ich wohl einen Unterschied zwischen den beiden Annahmen machen. Ich halte demnach an der Oberzeugung vom Bewufitsein fremder Menschen und Tiere fest, bleibe aber bei der Urteilsenthaltung in Bezug auf die Aufienwelt. Was wir iiber die Aufienwelt Spezielles annehmen konnen, werden wir weiter unten untersuchen. Welcher ,,Natur" sie ist, das hat eigentlich die allgemeine Metaphysik auszumachen, und da sind die vielen Streitigkeiten allerdings eine mifiliche Sache. Hier ist aber doch folgendes gegen obigen Einwurf zu erwidern. Erstens bestehen im Bewufitsein Regelmafiigkeiten zwischen In- halten, die auch ,,ihrer Natur nach", d. h. qualitativ recht ver- schieden sind. Zweitens unterscheidet sich fremdes Bewufitsein vom meinigen, denn sonst ware es ja nicht fremdes Bewufit- sein. Ob das ein Unterschied ,,der Natur nach", etwa auch ein Qualitatsunterschied ist, bleibe dahingestellt. Drittens haben wir nichts dariiber ausgemacht, ob die Aufienwelt nicht vielleicht auch Bewufitsein sei, sondern nur, dafi sie etwas sei, was noch nicht mit den BewufitseinsstrOmen der Menschen und Tiere ge- geben sei. Wenn etwa Berkeley recht hatte, dann ware das, was wir Aufienwelt nannten, jene neuen Antezedenzien also, Gott, demnach etwas seiner Natur nach Bewufites. Wie dem auch sei, wir kOnnen viertens schliefilich zeigen, dafi die induktiv er- schlossene Aufienwelt notwendig von solcher Natur, von solchem Solch ein unbekanntes Antezedens ist keine Vera causa! IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltstvppothese. 85 Wesen gedacht werden muB und von den feindlichsten Meta- physikern gedacht worden ist, daB ihr Wesen auch an dem Be- wuBtsein auffindbar ist. Dazu bemerke ich erstens: wenn ich, wie viele Inhalte meines BewuBtseins regelmaBige Antezedenzien bewuBter Natur schon haben, auch vollstandige regelmaBige Ante- zedenzienkomplexe zu den Wahrnehmungen induktiv erschlieBe, so werde ich doch wohl annehmen, daB auch diese, wenn auch nicht in Menschen- und TierbewuBtseinen enthaltenen Existenzen ihrem Wesen nach etwas sind, was unter den Gattungsbegriff der vielen Arten von BewuBtseinsexistenzen fallt. Genau so war ich ja iiberzeugt, daB die Inhalte fremder Menschen und Tiere unter die Gattung BewuBtsein subsumiert werden konnen. Das liegt im Wesen der RegelmaBigkeitsschlusse, der Induk- tionen. Weshalb sollte es nicht so sein? Zweitens: alle Meta- phpsiker, so uneinig sie waren, haben doch das Wesen der AuBenwelt in etwas gefunden, was auch Eigenschaft von Be- wuBtem ist. Der naive Mensch — auch ein Metaphysiker — nimmt an, die AuBenwelt sei ihrem Wesen, ihrer inneren Natur nach farbig, suB, warm, ausgedehnt usw., je nachdem. Farbe ist das Wesen der bewuBten Farbempfindung, SuB ist eine be- wuBte Empfindung, Warme ist eine ebensolche Empfindung, aus- gedehnt sind Gesichtswahrnehmungen, Tastwahrnehmungen, also BewuBtseinsinhalte. Der Fetischist meint, die AuBenwelt sei voll Geister, das ist voll BewuBtsein. Ist die AuBenwelt ihrem Wesen nach Wille, wie Schopenhauer meinte, so ist ja Wille auch im Bewufitsein zu finden. Nimmt Cartes i us an, die AuBenwelt sei ausgedehnt und nichts als das, so kommt, wie gesagt, die Aus- dehnung auch BewuBtseinsinhalten zu. Auch Kant meint, die Dinge an sich seien geistiger Natur. — Nur E. von Hartmanns UnbewuBtes scheint eine Ausnahme zu machen. — Diese seltene Einigkeit in einer metaphysischen Frage ist leicht erklarlich; denn wenn ich der AuBenwelt ein Wesen, und sei es noch so durftig, wie etwa das des Ausgedehntseins, zuschreibe, so kann ich dies Wesen ja doch zuletzt von nichts anders nehmen, als von meinem BewuBtsein. Demnach ist der Begriff des UnbewuBten ein ganz- lich negativer, wenn er so aufgefaBt wird, daB in seinem Inhalt nichts anders steckt als der kontradiktorische Gegensatz zu allem, was BewuBtsein ist. Ein solches UnbewuBtes ware fur meine 86 IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. Vorstellung nicht vom Nichts verschieden. So kommen wir schon zum dritten Punkte. Ich meine, wenn man von irgend- etwas, z. B. von der Aufienwelt, aussagt, es existiere, so kann man damit nur meinen, es habe mit den Inhalten meines Bewufit- seins so viel gemein, dafi es, wenn im Strome meines Bewufit- seins vorhanden, als mir bewufit bezeichnet werden wiirde. Existieren heifie Qualitat-Sein, Inhalt-Sein, wie das Existieren meiner Bewufitseinsinhalte in ihrem Qualitat-Sein besteht. Das ist zunachst die Auffassung des naiven Menschen; wenn er einer Sache das Sein zuspricht, so will er damit sagen, sie sei quali- tativ so oder anders. Sagt er, dort im Garten sei eine bliihende Rose, so meint er, dort befanden sich Qualitaten, Farben vor allem, Geruch usw. Das ist eine Auffassung der Existenz, die Hand und Fufi hat. Was sollen demgegenuber die Definitionen unserer ersten Metaphysiker, Sein sei absolute Position, Setzung. Ich mufi gestehen, dafi ich in dieser Begriffsbestimmung nichts sehen kann, als die Erlauterung einer an sich klaren Sache durch ein recht schlecht passendes Bild. Wenn ich von einem einzigen Atom oder von der ganzen Welt, von einer Empfindung oder von Gott sage, sie existieren, so meine ich doch nicht, sie seien gesetzt oder gestellt oder gelegt worden. Die Definition tiber- tra'gt die menschliche Tatigkeit des Setzens auf etwas, von dem wir vielleicht gar nicht wissen, ob es als Resultat irgendeiner der menschlichen Tatigkeit analogen Handlung aufgefafit werden darf. Demgegenuber meine ich, dafi wir dem Begriffe des Seins, der Existenz, den Sinn wiedergeben sollen und miissen, welchen jeder von philosophischer Bildung unberiihrte Mensch mit diesen Worten verbindet. Der Begriff des Seins kann von nichts anderem gewonnen sein, als vom eigenen Bewufitsein zuletzt. Gehe ich iiber dies hinaus, und nehme ich irgendwo ein weiteres Seiendes an, so kann ich damit nur meinen, dafi da auch etwas meinen Bewufitseinsinhalten Analoges besteht. Der Begriff des Seins entsteht durch Beachten des Gemeinsamen in dem vergleichenden Durchlaufen der Bewufitseinsinhalte. Wie der Begriff der Farbe sich verhalt zu alien mOglichen einzelnen Farben, so verhalt sich der Begriff des Seins zu alien moglichen Bewufitseinsinhalten. Wie der Begriff der Farbe zu Recht besteht, ohne dafi wir alle Farben gesehen zu haben brauchen, wie dieser also auf Farben IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 87 anwendbar ist, die ich nicht erlebt, vielleicht kein Mensch oder Tier erlebt hat, so kann der Begriff des Seins zu Recht bestehen und auf Seiendes anwendbar sein, das weder ich noch irgend- ein Mensch oder Tier erlebt, d. h. im Bewufitsein gehabt haben. Der Begriff des Seins fa'llt mit dem des Bewufit-Seins zusammen, wenn man in letzteren nicht das Stecken in und Verbundensein mit einem Strome, einem Komplexe von Bewufitsein, mit einer Seele, hineinnimmt. Alles, was ist, ist Qualitat, und alles, was bewufit ist, ist Qualitat. Was aber absolut nicht Qualitat ist, das ist auch nicht. Der Gedanke, dafi Sein, Qualitat-Sein und Bewufit-Sein identische Begriffe seien, hat nur deshalb etwas scheinbar Gefahrliches, weil wir immer so sehr geneigt sind, unter Bewufit-Sein etwas anderes zu verstehen als den Gattungs- begriff zu Empfindungen, abgeleiteten Vorstellungen, Gefuhlen, Wollungen. Sprechen wir von Bewufit-Sein, so denken wir — unter dem Einflufi der vulgaren Bedeutung der Wo'rter — sehr leicht an in einem Bewufitsein sein, in einem Bewufitseinsstrome, einer Seele stecken. Machen wir uns von dieser Terminologie des naiven Menschen frei, so wird die obige Gleichsetzung der drei Wort- bedeutungen durchaus naturlich und selbstverstandlich erscheinen. Kehre ich nun zu dem Einwurf der Aufienweltsgegner zuriick, so ist demselben die Spitze genommen. Wenn ich von der Aufienwelt annehme, sie existiere, so nehme ich damit schon an, sie sei ihrem Wesen, ihrer Natur nach etwas Qualitat-Seiendes, Bewufit-Seierides. Der Unterschied zwischen den Schliissen auf fremdes Menschen- und Tierbewufitsein und auf eine existierende Aufienwelt besteht also nicht im Sinne des Einwurfs. Der Gegner wird nun sagen, Begriff sbestimmungen seien zuletzt willkiirlich, und ich mache zweierlei nicht dadurch gleich, dafi ich den Begriff des einen auch auf das andere anwende. Der Unterschied zwischen dem Qualitat-Sein der etwaigen Aufien- welt und dem Qualitat-Sein fremden Menschen- und Tierbewufit- seins sei doch nicht aus der Welt zu schaffen. Demgegenuber wollen wir uns einmal folgendes uberlegen. Zwischen dem etwaigen Sein der Aufienwelt und dem Sein frem- den Menschen- und Tierbewufitseins konnen zweierlei Unter- schiede bestehen, wenn beider Sein ein Qualitat-Sein ist. Erstens Unterschiede der Qualitat, zweitens Unterschiede der Verbin- 88 IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. dungsweisen der Qualitaten. Unterschiede der ersten Art sind zweifellos zwischen einer etwaigen AuBenwelt und Menschen- und TierbewuBtsein vorhanden. In der AuBenwelt wird es Quali- taten geben, die in keinem Menschen- und TierbewuBtsein zu finden sind und umgekehrt. Aber wird es nicht auch im Tier- bewuBtsein Qualitaten geben, die im MenschenbewuBtsein nicht auffindbar sind? Nie hat man prinzipielle Bedenken dagegen gehabt, daB Tiere Sinne und Sinnesempfindungen haben konnen, die dem Menschen fehlen. Sicher ist die Grenze der Sichtbar- keit an beiden Seiten des Spektrums fiir verschiedene Menschen und Tiere verschieden. Habe ich also keinen AnstoB daran ge- nommen, dafi in fremdem Menschen- und TierbewuBtsein mir unbekannte Qualitaten vorkommen konnen und sicherlich vor- kommen, warum sollte ich AnstoB daran nehmen, daB in der AuBenwelt andere Qualitaten stecken mogen. Der Unterschied ist nur graduell. Wir kommen zum zweiten Punkte. Wir haben guten Grund anzunehmen, daB die Verbindungsweise der Qualitaten (ihre Be- ziehungen zueinander) in der AuBenwelt stellenweise eine recht wesentlich andere ist, als in uns, in anderen Menschen und Tieren, in denen ja die Qualitaten (BewuBtseinsinhalte) in so eigenartiger Weise zu BewuBtseinsstromen, zum Seelenleben zusammengefaBt sind. Vielleicht liegen z. B. in der AuBenwelt unendlich viel einfachere Qualitatenkomplexe vor. — Aber mtissen wir nicht auch annehmen, daB in einer Ameise die Qualitaten (BewuBtseinsinhalte) in ganz anderer Weise zum GesamtbewuBt- sein verbunden sind, als in uns? Miissen nicht beim Herabsteigen in der Tierreihe die BewuBtseinsverbindungen anders und ein- facher werden, wie das Nervensystem anders und einfacher wird? Sehen wir nicht in unserem eigenen BewuBtseinszusammenhang, wie in demselben einfachere BewuBtseinsverbindungen niederer Ordnung sozusagen als Teile des Ganzen vorliegen, wie diese Teilverbindungen untereinander auch mannigfaltig verschieden sind. Miissen wir aber solche Unterschiede der Verbindungs- weisen von Qualitaten in Menschen und Tierseelen anerkennen, so mtissen wir auch gestehen, daB auch in diesem Punkte nur ein gradueller Unterschied zwischen fremdem Menschen- und Tier- bewuBtsein und AuBenwelt besteht. IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. 89 Durch alle diese Erorterungen haben wir zu zeigen versucht, daB ein prinzipieller Unterschied zwischen den Schliissen auf fremdes Menschen- und TierbewuBtsein, auch auf vergangene und nicht erinnerte sowie auf zukiinftige BewuBtseinsinhalte, und den Schliissen auf eine AuBenwelt nicht besteht. Freilich kommt alien diesen induktiven Schlussen keine absolute GewiBheit, sondern nur Wahrscheinlichkeit zu, die allerdings in vielen Fallen praktisch der GewiBheit gleichzusetzen ist. Will jemand nichts als Gewifiheit, lehnt er alle Wahrscheinlichkeit ab, so muB er die AuBenweltshppothese ablehnen. Aber er muB ebenso alle Annahmen iiber Vergangenes und Zukiinftiges, sowie die fremden Tier- und MenschenbewuBtseins ablehnen. Es bleibt dabei: die Anerkennung von vergangenem, zukiinftigem und fremdem Seelen- leben steht auf gleicher Stufe mit der der AuBenwelt. Den einen Schritt iiber das Gegebene, ja iiber alles eigene BewuBtsein hinaus zu tun, und dann den anderen unterlassen zu wollen, ist Willkiir. Ein weiterer Einwurf gegen die AuBenweltshypothese trifft wieder ebenso die Annahme eigenen nicht erinnerbaren, sowie fremden Tier- und MenschenbewuBtseins. Bei Gelegenheit unserer allgemeinen Erorterungen iiber Hppothesenbildung haben wir das oft ausgesprochene Postulat untersucht, eine Hypothese miisse ,,ihrer Natur nach" beweisbar sein. Hypothesen seien nicht dazu da, immer Hypothesen zu bleiben, sondern sie miiBten einmal zu bewiesenen Wahrheiten werden ko'nnen. Sei das ganz ausgeschlossen, so solle man die Hypothese iiberhaupt nicht bilden. Wir konnten diese Maxime nicht vertreten. Vielmehr meinten wir, daB auch dort die Wahrscheinlichkeit nicht wertlos sei, wo keine Aussicht zu finden ist, sie dereinst in Wahrheit zu verwandeln. Hat also eine Hypothese eine ge- niigende oder gar sehr hohe Wahrscheinlichkeit, so werden wir sie nicht deshalb verwerfen, weil keine Aussichten vorhanden sind, die Hypothese in eine bewiesene Wahrheit iiberzufiihren. — Die AuBenweltshypothese ist nun von dem gedachten Charakter. Sie hat einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit; denn sie stiitzt sich auf eine Unsumme von Tatsachen, macht oder er- weitert nur eine Annahme und ist unendlich oft bestatigt worden. Aber sie ist, das muB zugegeben werden, nie bewiesen worden, 90 IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die Aufienweltshppothese. und es ist gar nicht zu sehen, wie sie einmal bewiesen werden sollte. Denn wir konnen nicht aus unserem Bewufitsein heraus, um uns direkt von der Existenz der Aufienwelt zu iiberzeugen. Die Aufienweltshypothese scheint demnach dazu verurteilt, immer Hypothese zu bleiben, so hoch auch ihre Wahrscheinlichkeit steigen mag. Nach unserer Stellungnahme zu derartigen Hypothesen wird uns dieser Sachverhalt nicht veranlassen, die Aufienwelt fallen zu lassen. Ist aber unser Aufienweltsfeind geneigt, diese Kon- sequenz zu ziehen, so machen wir ihn darauf aufmerksam, dafi er dann auch konsequenterweise eigenes nicht erinnerbares und fremdes Menschen- und Tierbewufitsein nicht anerkennen darf. Freilich Annahmen tiber zukiinftige Inhalte meines Bewufitseins werden einmal zu gewissen Erkenntnissen iiber momentan mir Gegebenes, sie sind also fahig, zu gewissen Tatsachen zu werden. Aber meine vergangenen Bewufitseinsinhalte sind un- wiederbringlich dahin; im giinstigsten Falle werden sie noch einmal erinnert. Die Erinnerung kann tauschen. Vergangene Inhalte meines Bewufitseins nehme ich auch an, wenn ich sicher bin, mien ihrer nie wieder erinnern zu konnen. Man denke an das Bewufitsein im Sauglingsalter. Annahmen dariiber werden nie zu bewiesenen Tatsachen. Und nun das Bewufitsein fremder Menschen und Tiere! Wie ich nicht aus meinem Bewufitsein heraus kann in die Aufienwelt, so kann ich auch nicht in das Bewufitsein fremder Menschen und Tiere, um mich von der Existenz dieses fremden Bewufitseins direkt zu uberzeugen. Auch die Annahme fremden Menschen- und Tierbewufitseins scheint pradestiniert, auf immer hypothetisch zu bleiben. Ist unser Aufienweltsgegner also nicht Solipsist, ja glaubt er auch nur an vergangene nicht mehr erinnerbare Inhalte in seinem Bewufitsein, so ist doch, was diesen Annahmen recht ist, der Aufienweltshypothese auch billig. Die Auffassung, die jemand sich ttber Hypothesen gebildet hat, wird sich natiirlich in seiner Stellungnahme zu einer speziellen, der Aufienweltshypothese, spiegeln. Wir haben der Oberzeugung Ausdruck verliehen, dafi der mafigebende Gesichtspunkt fur die Beurteilung von Fiktionen die Zweckmafiigkeit, fur die von Hypothesen aber die Wahrscheinlichkeit sei. Wollten wir aber IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 91 auch an die Aufienweltshppothese den Mafistab der Zweckmafiigkeit legen, so wiirde sie die Prufung auf das beste bestehen. Das zeigt zunachst schon die Tatsache, dafi im praktischen Leben der erbittertste Aufienweltsfeind wie jedermann sich der Hypo- these bedient. Nun sind aber durch einen seltsamen Zusammen- hang von Gedankenstromungen gerade solche Denker zu Gegnern der Aufienweltsannahme geworden, die die Verbindung, die Verwandtschaft der Wissenschaft mit dem Leben immer wieder betont haben1) und die die Zweckmafiigkeit, die Okonomische Leistungsfahigkeit als Mafistab fur die Bewertung wissenschaft- licher Gedankenbildungen in den Vordergrund gestellt haben. Nehmen wir als typischen Reprasentanten dieser Richtung ihren hervorragendsten lebenden Vertreter, Ernst Mach. ,,Man kann fiir die Existenz einer aufiersinnlichen substantiellen (lassen wir das einmal aufier Betracht) Bedingung der Wahrnehmung geltend machen, dafi ein Korper, den ich in einer gewissen Weise wahr- nehme, auch von andern in entsprechender Weise wahrgenommen werden mufi. Diesen Umstand wird ja niemand in Abrede stellen. Derselbe besagt doch nicht mehr, als dafi ahnliche Gleichungen, wie dieselben zwischen den enger zusammen- hangenden Elementen bestehen, welche mein Ich I darstellen, auch zwischen den Elementen anderer Ich I', I", I'". . . , deren Vorstellung mein Weltverstandnis erleichtert (sic!), stattfinden, und dafi ferner solche die Elemente aller I, I', I". . . umfassende Gleichungen bestehen. Mehr wird ein Forscher, der sich seiner rein deskriptiven Aufgabe bewufit ist, und der Scheinprobleme zu vermeiden sucht, in dem erwahnten Umstand nicht sehen wollen. Es diirften auch von alteren einseitigen in hergebrachten Ansichten befangenen Auffassungen herriihrende Termini den Sachverhalt kaum besser bezeichnen. Mag man nun besagte Gleichungen im Gegensatz zu den sinnlichen Elementen als Noumena, oder wegen ihrer Wichtigkeit bei Erkenntnis der wirklichen Welt, als den Ausdruck von Realitaten (sic!) ansehen, auf derartige Streitfragen urn den Ausdruck (?) wird wenig an- kommen." 2) Machen wir uns die Sache an einem Beispiel klar. ') Man denke an Ernst Mach, Pop. wiss. Vorles. 2) E. Mach, Die Prinzipien der Warmelehre, 2. Aufl., S. 424, 1900. 92 IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. In einem Festsaal brenne ein Kronleuchter. Der Vertreter der Aufienwelt nimmt an, dem Kronleuchter entsprache etwas in der Aufienwelt. Durch die Beziehungen dieses Etwas zu alien den Menschen im Saale sind die ungemein mannigfaltigen Wahrnehmungen des Leuchters bedingt. Ich brauche nur die Existenz dieses Etwas zu kennen und zu wissen, welcher Art die Beziehungen sind, damit die Wahrnehmung in bestimmter Weise entsteht. Dann kann ich alle die wirklich vorhandenen Wahrnehmungen ableiten, voraussagen. Mach dagegen mufi jene unendlich mannigfaltigen Beziehungen zwischen alien den Wahrnehmungen der vielen Menschen kennen. Diese Beziehungen sind so kompliziert, dafi wir alle im Leben den Schlufi auf das Aufienweltsding machen. Erlautern wir diesen Sachverhalt ein- mal an der bei Mach so beliebten Analogic, an mathematischen Funktionen. Meine Wahrnehmung wx ist nach der Aufienwelts- hypothese Funktion von einem Etwas in der Aufienwelt t, einer ,,Urvariablen", wie Mach passend sagt. Ahnlich sind die Wahr- nehmungen w2 und w3 der Menschen P2 und P3 Funktion des Aufienweltsetwas t, sagen wir der dem Kronleuchter entsprechen- den Aufienweltsexistenz. Also w1=f1(t), W2 = f2(t), w3=f3(t). Diese Funktionen werden sehr verwandt sein, aber sie sind nicht gleich. Nehmen wir einmal idealisierte Beispiele fiir die Funk- tionen f (x), etwa Sinnsfunktionen. Es ware z. B.: W1=a1sinb1t; wa= a2sin b2t; w3= assinb3t. Wir sehen mit einem Blick, wie sich wt, w2, w3 mit t andern, und damit auch, wie sie sich miteinander andern, in welchen Beziehungen sie zueinander stehen. Nun wollen wir mit Mach das Aufienweltsetwas ablehnen, die Urvariable t aus den Glei- chungen herausbringen, das ,,Metaphj>sische" ,,eliminieren". Ich will die Wahrnehmungen von P2 und P3, also w2 und w3 direkt aus wx berechnen. Es ergeben sich dann die Funktionen: (bo w, 1 w2 = a2 sin i =-=• arc sin — j; |b, v w3 = a3 sin j-5- arc sin - So ergeben sich allerdings w2 und w3 direkt aus wt, und an IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 93 Stelle der drei Gleichungen haben wir nur zwei. Aber sind diese beiden einfacher, durchsichtiger, zweckmafiiger? Sind sie geeigneter, den Zusammenhang zwischen Wj, w2, w3 er- kennen zu lassen? Wohl kaum. Aus den drei Gleichungen, die dem Verfahren der Aufienweltshppothese entsprechen, er- .kennt auch der mathematisch wenig Geschulte sofort die Be- ziehungen zwischen den wt, w2, ws. Aber aus den beiden Gleichungen, die der Machschen Auffassung, dem ablehnenden Standpunkte entsprechen, wird der Anfanger erst nach langem Uberlegen herausbekommen, wie die w1? w2, w3 sich miteinander andern. Die Beseitigung der Urvariable, die Abschaffung der einen Gleichung ist viel zu teuer erkauft, da die neuen Glei- chungen so ungleich komplizierter werden. Nun nehme man den Fall, dafi nicht drei, sondern fiinfzig Personen im Festsaal sind. Dann hat man statt der einundfunfzig einfachen Gleichungen fiinfzig komplizierte. Wer wollte da sagen, dafi Rechnen mit den fiinfzig komplizierten sei zweckmafiiger, okonomischer! Nehmen wir doch bei der Behandlung der Cpkloide lieber die zwei einfachen Gleichungen mit dem Parameter, der ,,Urvariable" t, als das kompliziertere Eliminationsresultat, die eine Gleichung zwischen x und y, den Koordinaten. Ebenso ist es einfacher, zweckmafiiger, die Wahrnehmungen der Menschen durch ihre Beziehungen zu der Urvariable, der Aufienwelt darzustellen, als durch die Beziehungen auf die Wahrnehmung en eines Menschen. Man versuche doch einmal, die Bestimmung der Wahrnehmungen der anderen Menschen durch ihre Beziehungen zu den eigenen Wahrnehmungen, ohne Einschiebung der Aufienwelt, auszudriicken! Die Sache wird ungeheuer kompliziert, schwerfallig, unzweck- mafiig. Unwillkiirlich kommt das Aufienweltsding immer wieder herein. Hinzu kommt die von uns noch unerftrterte relative Konstanz der Aufienweltsdinge gegeniiber meinen Wahrnehmungen. Ich schliefie die Augen; das Aufienweltsding bleibt unverandert, aber meine Wahrnehmung des Leuchters verschwindet. Ich be- wege den Kopf etwas; das Aufienweltsding bleibt unverandert, dagegen meine Wahrnehmungen andern sich in rasendem Tempo. Meine Wahrnehmungen sind unvergleichlich unbestandiger, wechselvoller, undurchsichtiger (auch unvollstandiger) als die wahrgenommenen Aufienweltsdinge. Wird es da nicht zweck- 94 IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. ma'Biger sein, die fremden Wahrnehmungen auf die konstantere AuBenwelt zu beziehen, als auf das wechselnde Spiel der Wahr- nehmungen? Will ich wissen, was zwanzig Menschen auBer mir wahrnehmen, so werde ich doch lieber meine so undurch- sichtig wechselnden Wahrnehmungen auf die bestandigen Dinge der AuBenwelt zuriickfiihren, und dann von diesen bestandigen Dingen wieder auf das Spiel der Wahrnehmungen in den zwanzig Menschen schlieBen, als daB ich einmaliges SchlieBen erspare und von den so unbestandigen, wenig faBbaren eigenen Wahr- nehmungen direkt zu den ebenso unbestandigen Wahrnehmungen der zwanzig anderen Menschen iibergehe. Also das Ersparen der Urvariable ist ein Sparen am un- rechten Orte, wenn ZweckmaBigkeit, Einfachheit, Okonomie der MaBstab fur die Beurteilung ist. Die Annahme der AuBenwelt erleichtert mein Weltverstandnis ebensosehr, wie die Vorstellung der I', I", I"'. ... Machs, d. h. fremder BewuBtseine. In Wirk- Hchkeit verhalt sich die Sache sogar so, daB die Beziehungen zwischen den Wahrnehmungen von uns und anderen Menschen so undurchsichtig sind, daB wir sie ohne Zuhilfenahme der ,,Urvariable" iiberhaupt nicht durchschauen konnen. Nur da- durch, daB wir jene Urvariable zu Hilfe nehmen, daB wir die AuBenwelt einfuhren, gelingt es iiberhaupt, daB wir uns im Ge- triebe der Wahrnehmungen zurechtfinden. Zwei Menschen gehen in einem Zimmer auf und ab. Man versuche, die Wahr- nehmung des einen ohne Zuhilfenahme der AuBenwelt durch die des anderen zu bestimmen. Diese Beziehungen sind schon in einem so einfachen Falle unendlich kompliziert, so daB auch der AuBenweltsgegner sofort zur AuBenwelt, zum beharrenden Zimmer, seine Zuflucht nimmt, urn sie sich abzuleiten. Also auch wenn Durchsichtigkeit , ZweckmaBigkeit, okonomische Leistungsfahigkeit entscheidend fur den Wert einer Hppothese waren, so konnte man der AuBenweltshypothese die Anerkennung nicht versagen. Wir hatten AuBenweltsexistenzen angenommen, urn unbe- dingt regelma'Bige Antezedenzienkomplexe fur die Inhalte von Menschen- und TierbewuBtseinsstrOmen zu bekommen. Der AuBenwelt hatten wir per definitionem alle diejenigen Ante- zedenzien zugeschrieben, die nicht schon in jenen BewuBtseins- IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 95 stromen zu finden waren. Im Vorubergehen mb'ge darauf auf- merksam gemacht warden, daB zur AuBenwelt in diesem Sinne eventuell auch diejenigen Inhalte zu rechnen waren, fiir die die Psychologic die ganz ungluckliche Bezeichnung ,,unbewuBte" psychische Inhalte oder Vorgange nun einmal eingefuhrt hat. Durch diesen ganz verfehlten Terminus wird immer das Unheil angerichtet werden, daB jene Inhalte oder Vorgange als kontra- diktorisch den bewuBten gegeniiberstehend aufgefaBt werden, wobei man sich dann von diesem unbewuBten Psychischen natiir- lich absolut keine Vorstellung machen kann. Offenbar brauchen die in Frage stehenden Inhalte oder Vorgange durchaus nicht unbewuBt zu sein; wir ko'nnen nur feststellen, daB sie nicht so in unseren BewuBtseinsstromen stecken, wie das die sogenannten bewufiten geistigen Inhalte und Vorgange tun. Hier war nur im Vorubergehen auf dieses UnbewuBte als auf einen Bestandteil der AuBenwelt in unserem Sinne aufmerksam zu machen. Fiir die weiteren Oberlegungen brauchen wir zu den sich anknupfenden Fragen nicht Stellung zu nehmen. Alle unsere BewuBtseinsvorgange, auch die der Tiere, stellen sich auf Grund der AuBenweltshypothese nun als Konsequenzien von mehr oder weniger einfachen Komplexen dar, die unbedingt regelmaBig vorhergehen. Mit der RegelmaBigkeitsvoraussetzung sind wir durch das bisherige schon sehr weit gekommen; in- dessen sind wir offenbar noch nicht am Ende. Wir haben bis- her nur da ein Seiendes in der AuBenwelt angenommen, wo Inhalte von Menschen- oder TierbewuBtsein ein solches als Anteze- dens forderte. Unter den so geforderten AuBenweltsdingen zeigt sich nun sofort wieder eine gewisse RegelmaBigkeit. Die Wahr- nehmung des brennenden Streichholzes fordert ein ihr ent- sprechendes Etwas in der AuBenwelt, die des Aufflammens der genaherten Lampe ebenso; diese beiden AuBenweltsdinge rnussen, weil es von den Wahrnehmungen gilt, in weitgehendem regel- maBigem Zusammenhange stehen. Aber liickenlos sind die so in der AuBenwelt erschlossenen Zusammenhange nicht. Wir werden uns also wieder dazu entschlieBen miissen, neue Antezedenzien anzunehmen, damit auch jedes Etwas in der AuBenwelt sich als unbedingt regelma'Biges Konsequenz gewisser stets mit ihm vorhandener Antezedenzien erweist. Haben wir 96 IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. die Wahrnehmung einer Explosion, ohne zu sehen, wie sie zu- stande gekommen ist, so hat unsere Wahrnehmung schon unbe- dingt regelmafiige Antezedenzien erhalten durch die Annahme dessen, was ihr in der Aufienwelt entspricht; zu diesem ihr in der Aufienwelt entsprechenden aber mufi ein neuer unbedingter Antezedenzienkomplex angenommen werden, auch wenn diesem keine entsprechende Wahrnehmung gefolgt ist. Zu einem Etwas in der Aufienwelt finden wir erstens zu- weilen regelmafiige Antezedenzien in den bewufiten Willens- inhalten von Menschen und Tieren, zweitens in anderen Aufien- weltsexistenzen, die wir schon auf Grund unserer sonst nicht der Regelmafiigkeitsvoraussetzung entsprechenden Wahrneh- mungen angenommen hatten. Drittens miissen wir aber zuweilen noch neue Aufienweltsantezedenzien hinzufiigen, um dieses Etwas in der Aufienwelt als unbedingt regelmafiiges Konsequenz auffassen zu kOnnen. Nun wird die Annahme weiterer Aufienweltsexistenzen dem unbedenklich erscheinen, der iiberhaupt einmal einige der- selben anerkannt hat. Wir brauchen nur darauf hinzuweisen, dafi auch die weitere Annahme unendlich oft verifiziert worden ist. Oft haben wir ein vermeintlich nicht wahrgenommenes Aufien- weltsantezedens in der angedeuteten Weise erschlossen; dann erinnern wir uns nachher, es doch wahrgenommen zu haben; es fa'llt uns erst wieder ein, nachdem wir es erschlossen haben. Un- zahlige Male erschliefie ich ein nicht wahrgenommenes Aufien- weltsetwas auf dem besprochenen Wege, und dann stellt sich heraus, dafi andere Menschen dieses Etwas wahrgenommen haben. Ich befrage die bei der Explosion anwesenden Personen, und siehe da, das regelmafiige Antezedens, das meiner Wahr- nehmung entgangen war, hat im Bewufitsein anderer Personen Wahrnehmungen zur Folge gehabt. Immerhin mufi uns ein unangenehmes Gefiihl beschleichen, schon wieder neue Existenzen anerkennen zu sollen. Wir werden uns fragen, wohin der beschrittene Weg denn endlich fiihren wird. Da gereicht es zu grofier Befriedigung, dafi es den An- schein hat, als ob durch die Anerkennung der Aufienwelt in dem nun erreichten Umfange (einschliefilich des ,,unbewufiten" Psychi- schen) die besprochene Regelmafiigkeit absolut, liickenlos wiirde. Alles spricht dafiir, dafi der Zusammenhang des nun anerkannten IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. 97 Geschehens unbedingt gesetzmafiig sei, derart, dafi jedes Etwas solche Antezedenzien hat, auf die es als unbedingtes Konsequenz folgt. Beweisen lafit sich diese Annahme nicht, aber alle Er- fahrungen scheinen die unbedingte Weltgesetzlichkeit zu be- statigen. Das mufi natiirlich den Wert der Regelmafiigkeitsvoraus- setzung sehr erhohen. Wie sonderbar, wie unendlich zufallig miifite dem, der nur sein gegenwartiges und erinnertes Bewufites *) anerkennt, die Tatsache scheinen, dafi die Regelmafiigkeitsvoraus- setzung, die er fiir verfehlt hielte, so absolut durchfiihrbar ist. Ihm bleibt es ein Ratsel, dafi es iiberhaupt moglich ist, die Hjppothesen iiber Zukunft, fremdes Bewufitsein und Aufienwelt zu bilden, so dafi sie in sich und mit dem von ihm Anerkannten harmonieren. Wie zufallig, dafi das von ihm Anerkannte diese Deutung und Erganzung zulafit! Indem ich eine einzige Voraus- setzung immer und immer wieder anwende, entsteht auf den nur liickenhaften Fundamenten der gewaltige, in sich geschlossene Bau. In den Fundamenten war nur eine Andeutung auf diese Voraussetzung zu finden. Dafi der Bau moglich war, gibt der Voraussetzung die Weihe. Indem die Regelmafiigkeit den Charakter der Unbedingtheit, der Luckenlosigkeit, der unein- geschrankten Giiltigkeit mehr und mehr annimmt, zu besitzen scheint, nahert sich die Voraussetzung derselben den logischen Axiomen mit ihrer unbedingten Giiltigkeit. — Das bleibt natiirlich bestehen: So wenig aus der Denknotwendigkeit der Axiome sicher wird, dafi sie fiir jedes Denken jeder Welt gelten miifiten2), so wenig folgt aus dem geschilderten Charakter der Regelmafiig- keitsvoraussetzung ihre Giiltigkeit fiir jede mo'gliche Welt. Jenem psychischen Zwange, der die Notwendigkeit fiir das Leben spiegelt, verdankt die Regelmafiigkeitsvoraussetzung ihr Dasein, J) Schon in der Erinnerungsdeutung steckt etwas von der RegelmaBig- keitsvoraussetzung. 2) Ausgefuhrt und begriindet findet man das hier Angedeutete bei B. Erdmann, Logik, Bd. I, 2. Aufl., S. 524—533. Uber verwandte Ge- danken bei St. Mill, sowie uber die sich anschlieBenden Probleme (,,Chaos- problem") sieheS. Becher: Erkenntnistheoretische Untersuchungen zu Stuart Mills Theorie der Kausalitat. Halle, 1906. IV. Teil. S. 114f. Becher, Phllosoph. Voraussetzungen. 7 98 IV. Prtifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. und ihrer unbedingten Durchfiihrbarkeit, ihrer glanzenden Be- wahrung in dieser Welt verdankt sie ihre Existenzberechtigung in ihr. Nicht anders ist es mit den logischen Axiomen im Prinzip, nicht anders mit alien Voraussetzungen der Wissenschaft, des Denkens uberhaupt. Zum Schlusse dieses Abschnittes mo'chten wir uns noch fol- gende Bemerkungen erlauben. Umdenpositivistischen AuBen- weltsgegnern — an die wurde ja in erster Linie gedacht — nicht unnOtig einen Stein des Anstofies zu bereiten, habe ich im vorher- gehenden die Worte Ursache und Wirkung vermieden. Vielleicht hat nun der Nichtpositivist an dieser Behandlung der Kausalitat etwas auszusetzen. Moglicherweise wird ihn folgendes mit meinem Verfahren auss5hnen. Es scheint mir bei der Bearbeitung metaphysischer Probleme wie iiberall in der Wissenschaft sehr niitzlich, die Fragen zunachst soweit es angeht auseinander zu halten, sie erst einmal einzeln vorzunehmen. Dann bleibt selbst- verstandlich die Aufgabe, die Zusammenhange zu bearbeiten. So habe ich nun hier, soweit es anging, Aufienweltsproblem und Kausalitatsproblem auseinanderhalten wollen. Es liegt mir dabei ganz fern, die engen Zusammenhange zu verkennen. Ich habe vom Kausalitatsproblem nur herangezogen, was ich brauchte: die zunachst bedingte, nachher als augenscheinlich unbedingt durchfiihrbar sich erweisende Voraussetzung der Regelmafiigkeit. Ob in der Kausalitatsannahme mehr steckt, als die Aner- kennung unbedingt regelmafiiger Antezedenzien zu jedem Konse- quenz, oder nicht, braucht uns hier nicht zu kiimmern. Jedenfalls ist dies etwaige Mehr nicht erforderlich fiir unsere obige Darlegung. Wir haben angenommen, jedes Etwas habe zu ihm derart geho'rige Antezedenzien, dafi auf sie das Etwas mit unbedingter RegelmaBigkeit folgt. Das Vorhergehende ist entweder dem folgenden Etwas, abgesehen vom Zeitunterschiede, gleich; dann liegt ein Beharren des Antezedens vor, das Konsequenz ist das beharrende Antezedens. Oder, das Antezedens bezw. die Ante- zedenzien sind vom Konsequens verschieden. Dann stellt sich die Sukzession als ein Geschehen, ein Vorgang, eine Veranderung dar. In Zukunft wollen wir bei Veranderungen, Vorgangen nun auch den unbedingt regelma'Bigen Antezedenzienkomplex als Ursache, das auf ihn unbedingt regelmafiig folgende von ihm IV. Priifung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshppothese. 99 Verschiedene als Wirkung bezeichnen. In diesem Sinne haben ja auch die Positivisten Hume und mit Nachdruck Mill1) von Ursachen und Wirkungen gesprochen. Ich habe damit nichts neu eingefiihrt in unsere Untersuchung als zwei Bezeichnungen. Die konnen im schlimmsten Falle schlecht gewahlt sein. Ich betone nochmals, daB ich gar nichts dariiber ausmache, ob in den Be- griffen von Ursache und Wirkung nicht noch^ mehr steckt. Das ist Gegenstand anderer Untersuchungen: Jedejifalls kann nun unsere RegelmaBigkeitsvoraussetzung in ihrer weitesten Aus- dehnung in den Urteilen formuliert werden: jede Veranderung hat eine Ursache. Mit der Ursache ist die Wirkung unbedingt regelma'Big gegeben. Ohne Ursache keine Veranderung, sondern Beharren. Im besonderen ko'nnen wir in diesem Sinne nun die AuBen- welt als Ursache unserer Wahrnehmungen auffassen. Cber das, was unter Existenz zu verstehen ist, und wo wir Existierendes anzunehmen haben, konnen wir jetzt folgende Be- merkungen anschlieBen. Wir konnten nicht Existieren und Wir- ken gleichsetzen, weil wir ja zunachst unser momentan BewuBtes als existierend anerkennen muBten, obwohl nichts dariiber ausge- macht war, ob dieses uberhaupt irgendwie wirke. Die Wirksam- keit von Inhalten des BewuBtseins, die psychische Kausalitat wird ja vielfach bestritten. Ob mit Recht oder mit Unrecht brauchen wir hier nicht zu untersuchen. Jedenfalls zeigt dieser Streit, daB man etwas als existierend ansehen kann, auch wenn es nicht wirkt. Wir erklarten in Anlehnung an die Auffassung des gesunden Menschenverstandes das Existieren durch die Gleichung: Sein (oder Existieren) — Qualitat-Sein = BewuBt-Sein. Nun ergibt sich aus den letzten Betrachtungen aber, daB wir immer dort momentan oder durch Erinnerung Nicht-Gegebenes als existierend annahmen, wo ein regelma'Biger Antezedenzienkomplex ohne dies Existierende gefehlt hatte, d. h. wo die Ursache, das Wirkende gefehlt hatte. Wo also etwas ge wirkt wird, nehmen wir etwas Wirksames, Wirkliches, Existierendes an. Die Wirksamkeit ist das Merkzeichen der nicht in meinem BewuBtsein gegebenen ') St. Mill, Logik, Bd. I, Buch III. §6. Ubersetzt v. Schiel. 4. Aufl. Braunschweig 1877. S. 421 f. 100 IV. Prufung der kritischen Bedenken gegen die AuBenweltshypothese. Existenzen. Insbesondere gilt von der Aufienwelt, dafi in ihr dort Existierendes anzunehmen ist, wo Wirkungen sich zeigen. Fur denNaturwissenschaftler ist also Wirksamkeit das Merkzeichen, das Kriterium der Existenz, des Qualitat-Seins, der Realitat seiner dem Bewufitsein transzendenten Aufienweltsdinge :). J) Vergl. B. Erdmann, Logik, Bd. I., 1. Aufl. S. 84. 1892. — 2. Aufl. S. 138. 1907. V. Der Charakter unserer Erkenntnisse fiber die Aufienwelt und deren allgemeinste Grundzuge. Wir betrachten im folgenden die AuBenweltshppothese als gerechtfertigt. Wir werden iiberall da etwas Existierendes anneh- men, wo unsere RegelmaBigkeitsvoraussetzung es fordert. Als Kriterium der Existenz betrachten wir demnach auf dem Gebiete der AuBenwelt das Wirken. Haben wir aber einmal etwas Exi- stierendes gesetzt, so miissen wir dies Existierende auf Grund der Regelmafiigkeitsvoraussetzung so lange als fortexistierend, beharrend betrachten, als keine Ursache der Veranderung dieses Beharrenden vorliegt. Diese Konsequenz der Beharrlichkeit ist von groBer Trag- weite, wie eine kleine Oberlegung zeigen wird. Im allgemeinen ist das, was wir als Ursache, als unbedingt regelmaBig Vorher- gehendes also zu bezeichnen haben, kein Einfaches, sondern ein Zusammengesetztes in dem Sinne, daB seine Teile auch getrennt voneinander aufzutreten pflegen. Das gilt im besonderen auch von der Ursache der Wahrnehmung. Die Wahrnehmungen sind das Resultat eines Zusammenwirkens eines fremden AuBenwelts- dinges und meines Ko'rpers, der natiirlich auch ein AuBenwelts- ding darstellt; dazu kommen noch vielleicht unbewufite pspchische Prozesse. Die Wirkung eines Komplexes wird ausbleiben, wenn nur ein Teil dieses Komplexes fehlt. Das folgt aus dem Begriffe der Ursache. Bleibt also eine Wirkung aus, so ist die Ursache als Ganzes, der ganze Komplex, nicht vorhergegangen; aber es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daB ein Teil der Gesamtursache, des ganzen Komplexes, doch vorhanden war. Vielleicht hat nur ein kleiner Teil der Gesamtursache gefehlt. Mit Riicksicht auf das Gesetz des Beharrens miissen wir sogar oft annehmen, daB nur ein Teil des Komplexes fortgefallen ist. Wenden wir diese Einsicht auf den Fall der Wahrnehmung 102 V. Der Charakter unserer Erkenntnisse iiber die AuBenwelt usw. an. Zur Entstehung einer Sinneswahrnehmung pflegen unser Leib (wie wir einfach an Stelle dessen, was ihm in der AuBenwelt entspricht, sagen wollen) und noch etwas anderes in der AuBen- welt oft zusammenzuwirken. Verschwindet nun eine Wahrnehmung gleichzeitig mit einer Veranderung in unserem Leibe (SchlieBen der Augen), so kann das andere mitwirkende Etwas in der AuBen- welt trotz dieses Verschwindens der Wahrnehmung beharren, weil ja nur die Beseitigung eines Teiles der Ursache zur Besei- tigung der Wirkung erforderlich ist. Hat ein solches Beharren stattgefunden, so wird nach dem Rtickgangigmachen der leib- lichen Veranderung (dem Wiederoffnen der Augen) auch die Wahrnehmung wieder eintreten. Tritt die Wahrnehmung immer wieder auf, wenn ich in beliebigen Zeitabstanden jene leibliche Veranderung vollzogen und wieder riickgangig gemacht habe (SchlieBen und Offnen der Augen), so wird die MOglichkeit des Beharrens des AuBenweltsdinges zur hohen Wahrscheinlichkeit werden. So komme ich auf Grund der Daten meines BewuBt- seins und der RegelmaBigkeitsvoraussetzung zur Annahme mehr oder weniger beharrender AuBenweltsdinge, und diese sich wohl bewahrende Annahme macht die AuBenweltshypothese, wie schon ausgefiihrt wurde, so ungemein zweckmaBig. Wir brauchen nicht die wechselnden Wahrnehmungen von Menschen und Tieren auf- einander zu beziehen, wodurch ein unloslicher Wirrwarr von Beziehungen entstehen wurde, sondern wir konnen sie auf die viel beharrlicheren Existenzen der AuBenwelt beziehen. Wir haben demnach als erste allgemeine Erkenntnis iiber die AuBenwelt die hb'chst wahrscheinliche Annahme zu ver- zeichnen, daB es in ihr Existenzen gibt, die relativ beharren, jedenfalls viel beharrlicher sind, als unsere Wahrnehmungen der- selben zu sein pflegen. Ob es absolut beharrliche Existenzen gibt, wie der Physiker lange die Atome als absolut beharrlich und unveranderlich be- trachtete, oder wie sie Philosophen in ihren Substanzen zu kennen glaubten, miissen wir vor der Hand ganz dahin gestellt sein lassen. Ein Grund zu dieser Annahme liegt in unseren bisherigen Ausfiihrungen nicht. Soviel ist indessen fur uns schon zweifellos geworden: auch in der Aufienwelt gibt es Veranderung und Wechsel. Nicht fur V. Der Charakter unserer Erkenntnisse iiber die AuBenwelt usw. 103 alle Anderungen in der Wahrnehmung finde ich Anderungen in meinem Leibe, die nicht selbst noch Anderungen in der Aufien- welt aufier dem Leibe voraussetzen. Ja, indem ich Anderungen im meinem Leibe annehme, habe ich schon Anderungen in der Aufienwelt. 1st eine Anderung im Bewufitsein aller Menschen und Tiere nicht unbedingt regelmafiige Folge von Anderungen, die sich ihrerseits in den Bewufitseinen dieser Menschen und Tiere vollzogen haben, so mufi ich Anderungen in der Aufien- welt hinzu annehmen. Beharrte alles in den Bewufitseinen und alles in der Aufienwelt, so kOnnte auf dies Beharren nach der Regelmafiigkeitsvoraussetzung nie eine Veranderung in den Be- wufitseinen erfolgen. Liegen demnach fur eine tatsachliche Ver- anderung in den Bewufitseinen nicht zureichende vorhergehende Veranderungen in ihnen vor, so rnussen Veranderungen in der Aufienwelt angenommen werden. Diesen Fall haben wir bei den Veranderungen der Sinneswahrnehmungen, ihrem Kommen und Gehen vor uns. Unbeschadet der Annahme relativ beharrlicher Existenzen in der Aufienwelt miissen wir demnach anerkennen, dafi es Ver- anderungen in ihr gibt. Nach der Regelmafiigkeitsvoraussetzung stellen sich diese Veranderungen aber dar als Kausalzusammen- hange. Zwischen den Aufienweltsdingen bestehen demnach Kau- salbeziehungen. In dieser zweiten wichtigen allgemeinen Aussage ist schon eine dritte teilweise eingeschlossen. Wo es Veranderung gibt, da gibt es Verschiedenheit, und zwar Verschiedenheit des Auf- einanderfolgenden. Wir miissen daneben auch Verschiedenheiten des Koexistierenden in der Aufienwelt anerkennen. Treten zwei verschiedene Wahrnehmungen gleichzeitig auf (die beide nicht Wirkungen des vorhergehenden fiir beide gleichen Bewufitseins- bestandes allein sein ko"nnen) und konnen die beiden nicht als gleichzeitige Wirkungen derselben Ursache aufgefafit werden, weil sie oft nicht vereint auftreten, so mufi der Unterschied zwischen beiden auf Teile der Ursachen geschoben werden, die in der Aufienwelt existieren. Auch da miissen also Verschieden- heiten angenommen werden. Sehe ich einen roten und einen blauen Punkt nebeneinander, so miissen diesen koexistierende verschiedene Aufienweltsexistenzen entsprechen. — Jedenfalls 104 V. Der Charakter unserer Erkenntnisse iiber die AuBenwelt usw. kann also das aufier Menschen- und Tierbewufitseinen Existierende nicht als unterschiedslose Einheit aufgefafit werden, sondern wir mussen eine Mannigfaltigkeit von Aufienweltsexistenzen aner- kennen. Ob und in welchem Sinne diese eine sie umfassende Einheit bilden, das ist wieder ein Problem, welches iiber unseren gegenwartigen Gesichtskreis hinausliegt. Es gentigt fiir uns die Feststellung, dafi Aussagen iiber Unterschiede von Aufeinander- folgendem und Gleichzeitigem in der AuBenwelt moglich sind. Eine besonders wichtige Art des Unterschiedes von Gleich- zeitigem in der Aufienwelt ist fur unsere Untersuchung diejenige, welche in der Wahrnehmung den raumlichen Unterschied bewirkt. Dafi zwei gleichzeitig gesehene Punkte an verschiedenen Stellen des Sehfeldes, und zwar an bestimmten erscheinen, kann nach unseren bisherigen Annahmen nur daher kommen, dafi das den Punkten in der Aufienwelt Entsprechende sich in bestimmter Weise voneinander durch irgendetwas unterscheidet. Ob dies Etwas, diese Unterschiede in der Aufienwelt raumlicher Natur sind, und welcher raumlichen Natur, dariiber wissen wir nichts. Es liegt kein Grund fiir die Anerkennung raumlicher Unterschiede in dem Sinne der gesehenen, getasteten, durch den Bewegungssinn wahr- genommenen Raumlichkeit vor. Wir kennen ferner in unserem Bewufitsein Existierendes, das nicht raumlicher Natur ist, z. B. ethische Gefuhle, Affekte. Ob also die Aufienwelt raumlich ist oder nicht, dariiber wissen wir nichts, und die Annahme, sie sei raumlich, mufi uns als eine aus unendlich vielen moglichen will- kurlich herausgegriffene erscheinen, die keinen Anspruch auf Anerkennung machen kann. Wir erinnern auch an die Schwierig- keit, welcher Art denn die Raumlichkeit der Aufienwelt sein sollte, ob sie der Raumlichkeit des Gesichts-, des Tast- oder des Be- wegungssinnes gleichen sollte, denn diese Arten der Raumlich- keit weichen sehr voneinander ab und sind nur durch die enge, in gewissem Sinne eindeutige Zuordnung zueinander verbunden. Indessen bleibt bestehen, dafi den raumlichen Unterschieden unserer Wahrnehmung Unterschiede in der Aufienwelt entsprechen mussen. Der raumlich unterschiedenen Mannigfaltigkeit der Emp- findungen ist eine entsprechende Mannigfaltigkeit in der AuBen- welt zu koordinieren. Die Tatsache der engen Zuordnung der raumlichen Mannig- V. Der Charakter unserer Erkenntnisse iiber die AuBenwelt usw. 105 faltigkeiten, wie sie Gesichts-, Tast- und Bewegungssinn, zum Teil auch noch die anderen Sinne bieten, hat AnlaB gegeben zu einer Hypothese, die uns freilich unumsto"Blichem Wissen im Leben gleichwertig erscheint. Es ist die Annahme, daB eindeutig auf- einander beziehbare raumliche Wahrnehmungen der verschiedenen Sinne von derselben AuBenweltsexistenz herriihren. Passen meine Tast- und Bewegungsempfindungen Element nach Element mit meinen Gesichtsempfindungen zusammen, so nehme ich an, daB diese koordinierten Empfindungskomplexe von demselben Kom- plexe von Ursachen bewirkt sind, daB es dasselbe ist, was ich taste und was ich sehe. Diese Hypothese gehOrt wieder zur Klasse derjenigen, die wohl niemals zu bewiesenen Wahrheiten werden kOnnen. Da sie indessen fortwahrend verifiziert wird, hindert uns dieser Sachverhalt nicht, ihr voile Anerkennung zu zollen. Wir wollen hinzufiigen, daB diese Annahme die Zweck- ma'Bigkeit, die okonomische Leistungsfahigkeit der ganzen AuBen- weltshppothese wiederum sehr erho'ht. An Stelle der Wahrneh- mungen der verschiedenen Sinne, dreier, genau genommen noch zahlreicherer ,,Variablen", tritt, durch diese Hppothese eingefuhrt, eine einzige ,,Urvariable", das die dreierlei Wahrnehmungen bewirkende AuBenweltsding. Ohne in die Philosophic der Mathematik, speziell der Geo- metric weiter einzudringen, konnen wir doch sagen, daB die unseren Raumwahrnehmungen zugrunde liegende AuBenwelts- mannigfaltigkeit als eine dreidimensionale aufgefaBt werden kann. Ob sie als solche aufgefaBt werden muB, kann hier unentschieden bleiben. Jedenfalls konnen unsere verschiedenen Sinnesraume, der Gesichts-, der Tast- und der Bewegungsraum, einer drei- dimensionalen Mannigfaltigkeit so zugeordnet werden, daB jene dreidimensionale Mannigfaltigkeit als Grundlage aller dieser ein- zelnen Sinnesraume aufgefaBt werden kann. Damit ist nicht aus- geschlossen, daB diese dreidimensionale AuBenweltsmannigfaltig- keit von einem anderen Gesichtspunkte aus als mehr oder weniger dimensional aufzufassen ist. Wenn wir oben der AuBenwelt die Raumlichkeit im dar- gelegten Sinne abgesprochen haben, so wollen wir einen Einwand gegen dieses Verfahren nicht unterdrucken. Wir sprachen von einer raumlichen Mannigfaltigkeit der Gesichts-, Tast- und Be- 106 V. Der Charakter unserer Erkenntnisse iiber die AuBenwelt usw. wegungswahrnehmung. Was haben nun diese verschiedenen Mannigfaltigkeiten der getrennten Sinnesgebiete miteinander gemeinsam, so dafi sie alle als raumlich bezeichnet werden kOnnen? Was hat ein Nebeneinander des Gesichtssinnes mit einem Nebeneinander des Tastsinnes zu tun? Weshalb spreche ich in beiden Fallen von einem Nebeneinander? Da ist zu- zugeben, dafi die Zusammengehorigkeit dieser verschiedenen Mannigfaltigkeiten der Sinnesraume nur in ihrer engen Zu- ordnung zueinander besteht. Sie haben deshalb etwas mit- einander zu tun, weil sie (unter gewissen hier nicht weiter in Betracht kommenden Einschrankungen) eindeutig aufeinander bezogen werden kOnnen, Element fur Element und Beziehung (zwischen den Elementen) fur Beziehung. Wir haben aber gehort, dafi eine entsprechende Zuordnung auch die besprochene Aufienweltsmannigfaltigkeit mit den Mannigfaltigkeiten der Sinnes- raume verbindet. Warum sollen wir diese Aufienweltsmannig- faltigkeit also nicht raumlich nennen, da sie doch mit den Mannig- faltigkeiten der Sinnesraume so viel gemeinsam hat, als diese untereinander gemeinsam haben: die MOglichkeit der gegen- seitigen eindeutigen Zuordnung? Demgegeniiber ist nicht viel zu sagen. Will man diese Aufienweltsmannigfaltigkeit wegen der erwahnten nicht zu leug- nenden Eigenschaft als raumlich in diesem weiten Sinne be- zeichnen, so ist das ganz in Ordnung. Wir werden uns daher dieses Sprachgebrauches in Zukunft zuweilen bedienen. Damit bleibt aber bestehen, was oben hervorzuheben war: die Subjek- tivitat unserer Sinnesraume. Das ,,Nebeneinander" zweier Aufien- weltsexistenzen ist eine wohl ganz andere Art des Unterschieds zwischen beiden, als das Nebeneinander zweier Empfindungen des Gesichtssinnes, des Tastsinnes, des Bewegungssinnes, wie ja auch die drei letzteren Arten des Nebeneinander ganz ver- schiedene Arten des Unterschieds sind. Nun sind wir aber gewo'hnt, uns raumliche Verhaltnisse im Raum eines bestimmten Sinnes vorzustellen, wohl meist im Gesichtsraume. Ist das letztere der Fall, so pflegen wir uns jedes Nebeneinander, auch das, was in der Aufienwelt diesem Unterschied des Nebeneinander ent- spricht, in optischen Reproduktionen zu vergegenwartigen. Wir iibertragen die Raumlichkeit des Gesichtssinnes, so gut es eben V. Der Charakter unserer Erkenntnisse tiber die Aufienwelt usw. 107 gehen will, auf die Raumlichkeit der Aufienwelt. Dafi diese oder eine entsprechende Obertragung von einem andern Sinnesgebiet aus unzulassig ist, versteht sich fiir uns von selbst, und weiter nichts ist gemeint, wenn wir die Aufienwelt in einem engeren Sinne als unraumlich bezeichnen. Wir kCnnen die Sachlage an einem Beispiele aus der Mathematik verdeutlichen. Analytische Betrachtungen sind von geometrischen Vorstellungen im Prinzip unabhangig. Aber wir pflegen uns analytische Bestimmungen geometrisch zu vergegenwartigen. Anstatt zu sagen, eine Variable solle sich zwischen a und b verandern, gebrauchen wir die geo- metrische Vorstellung: die Variable bewege sich auf der Strecke, dem Wege a b. Das ist ganz einwandfrei, solange man die geometrische Deutung nur als bequemes Ausdrucksmittel behandelt. Aber es darf nicht dazu verleiten, das geometrische Bild fiir das Wesen der Sache zu halten, die vielmehr von der geometrischen Vorstellung ganz unabhangig ist. — Bezeichnen wir die Aufien- welt als unraumlich, so geschieht es also, damit nicht der Raum eines besonderen Sinnes auf die Aufienwelt iibertragen wird. Die Eigenart unserer Reproduktionsgesetze verleitet zu einer solchen Cbertragung, die denn auch der naive Mensch ohne weiteres zu vollziehen pflegt. Demgegeniiber soil durch die Betonung der Unraumlichkeit der Aufienwelt die Subjektivitat der Sinnes- raume hervorgehoben werden. Wie wir aber geometrische Vor- stellungen auf analytische iibertragen und von der Strecke, dem Wege, dem Gebiete einer Variablen reden, so kftnnen wir auch von einem Aufienweltsraume sprechen. Nur miissen wir uns stets vergegenwartigen, dafi allein die erwahnte Zuordnung zu den Sinnesraumen durch diesen Sprachgebrauch ausgedriickt werden darf. Raum und Zeit sind von der Philosophic sehr oft als in gewisser Weise koordinierte Vorstellungen betrachtet worden, und diese Betrachtungsweise hat durch Rants transzendentale Asthetik etwas von einer Sanktion erhalten. Haben wir die Subjektivitat der Raumwahrnehmung vertreten, so scheint damit auch die Subjektivitat der Zeit Anerkennung finden zu mussen. Indessen zeigt schon Kants System, dafi die Parallelitat von Raum und Zeit ihre bald erreichten Grenzen hat. Und so wird obige Konsequenz fur die Zeit doch eine genauere Priifung fordern. 108 V. Der Charakter unserer Erkenntnisse iiber die AuBenwelt usw. Um Mifiverstandnisse zu vermeiden, sei vorausgeschickt, dafi die Subjektivitat der Zeit sich in einem bestimmten Sinne von selbst versteht, namlich im Sinne der Subjektivitat der Zeit- schatzung. Dafi unsere Schatzung einer Zeitdauer nicht mit einer etwaigen objektiven Zeit harmoniert, dariiber kann kein Zweifel bestehen. Das Problem ist demnach genauer zu fassen. Wir finden, dafi alle unsere Bewufitseinsinhalte etwas an sich haben, auf Grund dessen wir sie als zeitlich, als in der Zeit sich abspielend auf- fassen. Wir fragen, ob dieses Etwas, vermoge dessen unsere Bewufitseinsinhalte zeitlich sind, auch den Aufienweltsexistenzen zukommt. Das ko'nnte trotz der Subjektivitat der Zeitschatzung der Fall sein. Wir haben zunachst auf einen Unterschied zwischen Raum- lichem und Zeitlichem aufmerksam zu machen. Wahrend nur ein Teil unserer Bewufitseinsinhalte raumlich ist, daneben aber eine Fiille unraumlicher Inhalte in uns sich findet, haben alle unsere Bewufitseinsinhalte die Eigentiimlichkeit, als in der Zeit existierend auffafibar zu sein. Daher ist uns eine Gesamtheit unraumlicher Inhalte wohl vorstellbar, nicht aber ein Komplex von Existenzen, die nicht als im zeitlichen Geschehen stehend betrachtet werden kOnnten, fiir die uberhaupt die Zeit etwas ganz Bedeutungsloses ware, wie es fiir nichtsinnliche Gefiihle der Raum ist. Hier liegt nun die Frage nahe, ob denn im Begriff der Existenz nicht schon ein Moment des Zeitlichen stecke. Ist Sein gleich Qualitativ-Sein gleich Bewufit-Sein, so, liefie sich vielleicht sagen, musse eben alles Sein als Bewufit-Sein etwas Zeitliches an sich haben, weil dieses Zeitliche notwendig im Begriffe des Bewufiten stecke. Dagegen ware wiederum zu erwagen, ob bei dieser Oberlegung nicht etwas, das vielleicht erst durch die Eigen- art der Zusammenfassung unserer Bewufitseinsinhalte zum Kom- plexe unseres Gesamtbewufitseins zustande kommt, dem Be- wufiten als solchem, abgesehen von aller Zusammenfassung, zugeschrieben wird. Die Entscheidung solcher Fragen mufi zuletzt der allgemeinen Metaphysik anheimgestellt werden. Jedenfalls aber miissen wir anerkennen, dafi die Annahme der Objektivitat der Zeit von V. Der Charakter unserer Erkenntnisse iiber die AuBenwelt usw. 109 vornherein weit mehr fur sich hat, als die der Objektivitat des Raumes. Sind alle Existenzen, die wir, irgendein Mensch oder Tier, in unseren Bewufitseinen vorfinden, in der Zeit, warum sollten wir nicht die Aufienweltsexistenzen nach Analogic der- selben denken, da diese ja wie jene ihrem Wesen nach quali- tativ sind? Schliefilich miissen wir gestehen, dafi fur uns die Frage eigentlich schon langst entschieden ist und zwar auf Grund der Regelmafiigkeitsvoraussetzung. Weshalb haben wir die Existenz einer Aufienwelt anerkannt? Doch nur der Regelmafiigkeitsvoraus- setzung zu Liebe, urn unbedingt regelmafiige Antezedenzien fur die Wahrnehmungen zu bekommen. Ein Antezedens mufi etwas sein, was vorhergeht in der Zeit, also selbst in der Zeit steht. Haben wir Aufienweltsexistenzen als Antezedenzien einmal an- erkannt, so haben wir damit schon entschieden, dafi diese Existenzen in der Zeit sind. Gibt es in der Aufienwelt Ur- sachen, Wirkungen, Beharrendes, so stehen diese Ursachen und Wirkungen trotz Kants zeitloser intelligibler Kausalitat, ebenso wie das Beharrende in der Zeit. Die Annahme einer zeitlosen Kausalitat hat nach unserer Kausalitatsauffassung einen Wider- spruch in sich, wir miissen sie also verwerfen. Auf Grund der Regelmafiigkeitsvoraussetzung mufi man also die Objektivitat der Zeit anerkennen. In Anbetracht der Schwierigkeit der Frage und der Unvoll- standigkeit der Behandlung, die wir ihr zukommen lassen konnen an dieser Stelle, wollen wir darauf verweisen, dafi das Folgende den soeben angedeuteten Standpunkt nicht notwendig voraussetzt. Vielmehr ist es auch mit einem anderen Standpunkte wohl ver- einbar, den wir jetzt kurz skizzieren wollen. Nehmen wir einmal an, unsere Wahrnehmungen seien zwar nicht durch die Aufienwelt verursacht, aber doch durch dieselbe eindeutig bestimmt. Es kOnnte wohl sein, dafi diese unsere Wahrnehmungen eindeutig bestimmende Welt unzeitlich ware, wie wir in der analytischen Geometric Punkte im Raume eindeutig bestimmen durch Koordinaten, Zahlen, die an sich nichts Ra'um- liches zu haben brauchen. Lassen wir nun einmal alles beiseite, was fur oder gegen die Annahme einer solchen zeitlosen, un- zeitlichen Welt spricht, so miissen wir doch, falls die eindeutige 110 V. Der Charakter unserer Erkenntnisse uber die AuBenwelt usw. Bestimmtheit der Wahrnehmungen festgehalten wird — und was soil ohne diese jene Welt fur uns — , darauf bestehen, dafi einem zeitlichen Unterschiede in unserer Wahrnehmung ein Unterschied in der zeitlosen Welt entspricht. Wie die eindeutige Bestimmt- heit der Wahrnehmungen fordert, dafi dem Auseinandersein der Wahrnehmungselemente in den Sinnesraumen ein Unterschied in der Aufienwelt entspricht, so mufi auch dem Auseinandersein zweier Wahrnehmungselemente in der Zeit, dem Nacheinander, dem zeitlichen Unterschied ein Unterschied in der etwaigen zeit- losen Welt korrespondieren. Der Mannigfaltigkeit der Zeitunter- schiede in der Wahrnehmung mussen wir also eine Mannigfaltig- keit von Unterschieden in jener zeitlosen Welt zuordnen, so dafi erstere durch letztere eindeutig bestimmt ist, ihr eindeutig zu- geordnet werden kann. Wir ha'tten dann von der Subjektivitat der Zeit in einem ahnlichen Sinne zu sprechen, wie wir von der Subjektivitat des Raumes geredet haben. Hier wie dort sind in der Aufienwelt Mannigfaltigkeiten anzunehmen, die dem subjektiven Raume, der subjektiven Zeit entsprechen. Schliefilich kb'nnen wir denn auch, wie wir die unraumliche Mannigfaltigkeit der einer Variablen zu erteilenden Werte in der mathematischen Analysis durch ra'um- liche Ausdrucke wie Strecke, Weg, Gebiet der Variablen wieder- zugeben pflegen, jene Mannigfaltigkeiten in einer unraumlichen und unzeitlichen Welt als raumlich und zeitlich bezeichnen. Wir mussen dann stets im Auge behalten, dafi diese Bezeichnungen nur die Tatsache der Zuordnung wiedergeben sollen. .Das ,,raum- lich" und ,,zeitlich" ist als ,,dem Raumlichen bezw. Zeitlichen in uns zugeordnet", ,,entsprechend" aufzufassen. Wenn der Leser im folgenden die Sache so deuten will, wo wir von Raum und Zeit sprechen, so wird er, hoffe ich, keine Schwierigkeiten finden. Und wenn er dann auch geneigt ist, diese eindeutige Bestimmt- heit unserer Wahrnehmungen durch die unraumliche und unzeit- liche Welt (der Dinge an sich) als Bewirkung auf Grund intelli- gibler Kausalitat zu bezeichnen, so entsteht eine terminologische Streitfrage, die wir hier beiseite lassen konnen. Fur unsere Zwecke geniigt die Anerkennung jener unseren raumlichen und zeitlichen Mannigfaltigkeiten der Wahrnehmung korrespondierenden, zu- grunde liegenden Mannigfaltigkeiten in einer Welt, die die Ge- V. Der Charakter unserer Erkenntnisse iiber die AuBenwelt usw. 1 1 1 samtheit der Wahrnehmungen eindeutig bestimmt. Ich hebe aus- driicklich hervor, daB alle Ausdriicke, die von spezielleren, bestimmteren Voraussetzungen iiber die Art dieser 6estimmtheit herstammen, in dem entsprechenden weiteren Sinne genommen, gedeutet werden konnen, der nur die zuletzt besprochene ein- deutige Bestimmtheit voraussetzt, ohne irgendwelche weiteren Annahmen iiber sie. Ich sage konnen, nicht miissen oder sollen. Denn wie aus der Gesamtheit der bisherigen Ausfiihrungen her- vorgeht, scheinen mir Griinde fiir speziellere Voraussetzungen (beziiglich der Zeit und damit der Kausalitat) nicht zu fehlen. Aber fiir den Kern der im folgenden darzulegenden realistischen Auffassungsweise physikalischer Hypothesen kommt die Ent- scheidung iiber solche weiteren Voraussetzungen eigentlich nicht in Betracht. Bleibt nur die eindeutige Bestimmtheit der Wahr- nehmung durch eine zugrunde liegende Realitat, so behalt das Auszufiihrende seinen Sinn. Es bedarf nur einer weiteren Auf- fassung der Bezeichnungen. Raum- und Zeitbeziehungen sind es, die die Existenzen individualisieren. Identisch im strengsten Sinne ist nur das, was inhaltlich gleich, aber auch zu gleicher Zeit an gleichem Orte ist, d. h. nur jede individuelle Existenz mit sich selbst. Unter- scheiden sich zwei Existenzen nur durch die Orte und Zeiten, so sprechen wir von einer Gleichheit dieser Existenzen. So konnen wir zunacht von der Gleichheit von BewuBtseinsinhalten sprechen, die in Menschen- oder Tierseelen auftreten. Es fragt sich nun, ob wir den Begriff der Gleichheit auf die Existenzen der AuBenwelt anwenden konnen, d. h. ob wir Gleichheiten in der AuBenwelt erkennen kOnnen. Da ist zuzugeben, daB gewisse Schwierigkeiten vorliegen. Gleiche Wahrnehmungen konnen von verschiedenen AuBenweltsexistenzen herriihren. Wir kOnnen also, strenge genommen, immer nur die MOglichkeit des Vor- liegens von Gleichheiten in der AuBenwelt behaupten. Nehmen wir an, die Gleichheit zweier Wahrnehmungen sei durch die Gleichheit zweier entsprechender AuBenweltsexistenzen zu er- klaren, so bilden wir eine Hppothese. Nun geht es aber hier wie bei der nahe verwandten hppothetischen Annahme von Beharrendem in der AuBenwelt: in vielen Fallen kann die Hypo- these so zahlreiche Bestatigungen erfahren, daB ihre Wahrschein- 112 V- Der Charakter unserer Erkenntnisse uber die AuBenwelt usw. lichkeit praktisch der Gewifiheit nahe oder gleichkommt. Bringen z. B. die als gleich angenommenen Aufienweltsdinge ihrerseits immer Wirkungen in der Aufienwelt hervor, die sich wiederum in gleichen Wahrnehmungen manifestieren, so steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit der Annahme. Denn es ware doch ein ganz unwahrscheinlicher Zufall, dafi wirklich verschiedene Ursachen immer wieder zu Wirkungen fiihren sollten, die gleiche Wahr- nehmungen hervorriefen. Also auch uber in der Aufienwelt vor- handene Gleichheiten kOnnen wir wahrscheinliche Aussagen machen. Das Beharren ist eine Gleichheit im zeitlichen Verlaufe, bei der nur kontinuierliche Veranderungen der Zeit, eventuell auch des Ortes vorkommen. Wir batten vom Beharren in der Aufien- welt also an dieser Stelle handeln konnen. Jedoch schien mir die Annahme von beharrenden Aufienweltsexistenzen schon an dem fruheren Orte zu erortern zu sein, damit der direkte Zu- sammenhang derselben mit der Regelmafiigkeitsvoraussetzung ans Licht trate. Die Existenz von Mehrheiten von Gleichem, von Ver- schiedenem, von Beharrendem in der Aufienwelt und unsere Wahrscheinlichkeitserkenntnis von alledem macht eine ausgedehnte Anwendung der Zahlenlehre auf die Aufienwelt mOglich. Beson- ders das Beharren von gleichen Existenzen, d. h. von solchen, die sich nur durch raumzeitliche Beziehungen unterscheiden, fordert zum Zahlen auf. Indessen findet der Zahlbegriff auch auf Verschiedenes und auf Nichtbeharrendes manche Anwendung. Wissen wir ja doch nicht, ob die Gleichheit von zwei Dingen eine absolut vollstandige ist; sondern wie wir nur relative, wenn auch sehr weitgehende Beharrlichkeit in der Aufienwelt feststellen konnten, so vermogen wir auch nur Aussagen uber relative, angenaherte, wenn auch sehr weitgehende Gleichheit zu machen. Letztere fuhrt aber zum Verschiedenen hiniiber, wie das relativ Beharrliche zum Nichtbeharrenden. Es braucht nur im Voriibergehen erwahnt zu werden, dafi den Anwendungen arithmetischen Wissens auf die Aufienwelt immer nur wahrscheinliche Giiltigkeit zukommen kann, mag das arithmetische Wissen selbst unbedingt giiltig sein oder nicht. Durch die blofie Wahrscheinlichkeit des arithmetisch behandelten V. Der Charakter unserer Erkenntnisse iiber die AuBenwelt usw. H3 Materials, bezw. der Erkenntnis desselben, konnen auch die Resul- tate nie mehr als allerdings hohe Wahrscheinlichkeit gewinnen, der vielleicht anzunehmenden unbedingten Gewifiheit der Arith- metik zum Trotz. Das Ergebnis der letzten Oberlegungen ist, dafi eine wahr- scheinliche zahlenmafiige Erkenntnis iiber Aufienweltsexistenzen wohl mo'glich ist. Fassen wir das bisher in diesem Abschnitte Ausgefiihrte zu- sammen, so ko'nnen wir sagen, dafi wir in der Aufienwelt mit Wahr- scheinlichkeit (relativ) beharrende Existenzen, Veranderungen, kau- sale Zusammenhange, Unterschiede, speziell solche, die denen des Raumes und der Zeit in den Wahrnehmungen entsprechen, Gleich- heiten (wenigstens angenaherte) und Zahlverhaltnisse erkennen konnen. Und das alles, obwohl die Erkenntnis der Aufienwelt aus der Wahrnehmung eine Erkenntnis aus der Wirkung ist. Da- bei haben wir uns streng an die Oberzeugung gehalten, dafi der Zusammenhang von Ursache und Wirkung ein synthetischer (nicht analytisch-rationaler) sei, wie Hume und Kant es wollten. Wir glauben aber gezeigt zu haben, dafi dieser Hume-Kantsche Standpunkt durchaus nicht einen Agnostizismus in Bezug auf die Aufienwelt im Gefolge hat, dafi vielmehr eine Reihe von sehr wichtigen, wenn auch nur wahrscheinlichen Aufienweltserkennt- nissen moglich bleibt. Wenn man diese Erkenntnisse ihres gemeinsamen Charakters wegen als formale bezeichnen will gegeniiber der qualitativen Erkenntnis von Menschen- und Tier- bewufitsein, so ist das Sache der Terminologie. Wir wiirden allerdings die so gewonnene Aufienweltserkennt- nis lieber als eine relative bezeichnen, weil dieser Ausdruck besser ihren Charakter wiedergibt und auch weniger vieldeutig und unklar spmbolisch ist. Beharren und Veranderung, Kausalitat, Verschiedenheit und Gleichheit sind Ausdrucke fiir Beziehungen. Den raumlichen und zeitlichen Unterschieden in der Wahrnehmung entsprechend nahmen wir Unterschiede in der zugrunde liegen- den Aufienwelt an. Der Unterschied ist eine Relation. Ob die metaphysische Untersuchung auch eine qualitative Erkenntnis der Aufienwelt vermitteln kann, oder ob wir bei einer ganzlich relativen stehen bleiben miissen, braucht hier nicht entr schieden zu werden. Da die naturwissenschaftliche Erkenntnis Becher, Phllosoph. Voraussetzungen. g 114 V. Der Charakter unserer Erkenntnisse iiber die AuBenwelt usw. zuletzt Erkenntnis aus den Wahrnehmungen, also der Ursachen aus den Wirkungen ist, bleibt sie notwendig relativ. Wo natur- wissenschaftliches Wissen den Charakter der Relativitat in obigem Sinne abzustreifen sucht, wird demnach unsere Kritik einzusetzen haben. Zwei Einwande gegen die Behauptung der Relativitat aller naturwissenschaftlichen Aufienweltserkenntnis kOnnten sich auf bisher Ausgefiihrtes stiitzen. Man kOnnte sagen, wenn alles Sein Qualitat-Sein, Bewufit-Sein in dem dargelegten Sinne ist, so steht doch auch fur die naturwissenschaftliche Aufienweltserkennt- nis fest, dafi die Aufienweltsexistenzen qualitativ sind, bewufit sind. Gewifi, das haben wir anzuerkennen und schon anerkannt. Wenn man das eine nichtrelative oder gar eine qualitative Er- kenntnis der Aufienwelt nennt, so ist das Sache der Bezeich- nung und eine ErOrterung an dieser Stelle uberflussig. Der zweite Einwand ist bedeutsamer und wird uns zu einer bedingten Konzession ftihren. Wir haben eine Reihe von Griinden fur die Objektivitat der Zeit angefuhrt und insbesondere gezeigt, wie diese Annahme mit der Regelmafiigkeitsvoraussetzung, ins- besondere mit dem Kausalprinzip zusammenhangt. Hat der Leser diesen Griinden beigepflichtet und die objektive Gultigkeit der Zeiterkenntnis anerkannt, so wird er vielleicht Bedenken tragen, diese als relativ zu bezeichnen. Er wird vielmehr geneigt sein, in diesem Punkte dem Naturwissenschaftler eine absolute Erkenntnis- zuzugestehen. Wenn die Objektivitat der Zeit angenommen wird, miissen wir also die obige Behauptung der Relativitat natur- wissenschaftlicher Erkenntnis dahin einschranken, dafi Zeiterkennt- nisse iiber die Aufienwelt in einem gewissen Sinne absolut (wenn auch nur wahrscheinlich) sind. Sie sind in ahnlichem Sinne ab- solut, als wir die Zeiterkenntnis in Bezug auf unseren eigenen Bewufitseinsverlauf absolut nennen konnen. Immerhin bleibt zu bemerken, dafi die Naturwissenschaft diese etwa als nichtrelativ zu bezeichnende Erkenntnis von Be- trachtungen hernimmt, die metaphysisch zu nennen sind. Schliefi- lich konnten wir ja auch dem Leser in Bezug auf die Frage nach Objektivitat oder Subjektivitat der Zeit eine gewisse Frei- heit lassen. Die endgiiltige Behandlung des Zeitproblems ge- ho'rt jedenfalls nicht hierher, sondern in die allgemeine Metaphpsik. VI. Der Korper. Die Naturwissenschaft ist die Wissenschaft von der Welt der KOrper. Der Begriff des KOrpers ist also der eigentliche Grund- begriff der Naturwissenschaft. Wir haben im folgenden die Aufgabe, diesen Begriff einer genaueren Untersuchung zu unter- ziehen. Wie fur den unbestimmteren Begriff der AuBenwelt ist auch fur den spezielleren des Ko'rpers die Sinneswahrnehmung der Ausgangspunkt. Unsere Sinneswahrnehmungen forderten auf Grund der RegelmaBigkeitsvoraussetzung nicht in Menschen- und TierbewuBtseinen auffindbareAntezedenzien; dieGesamtheitdieser Antezedenzien nannten wir AuBenwelt, indem wir einer Bezeich- nung aus dem Denken des naiven Menschen einen sehr weiten Sinn gaben. Damit ist nun noch nichts daruber ausgemacht, welcherart diese ,,Aufienwelt" sei. Unter den so gefafiten AuBen- weltsbegriff fallen der Gott Berkeleys und die unbewufite pro- duktive Einbildungskraft Fichtes. Denn beides sind metaphpsische Existenzen, die die Sinneswahrnehmungen in uns hervorrufen. Die Naturwissenschaft denkt sich metaphysische Existenzen ganz anderer Art, die als Ursachen unserer Sinneswahrnehmungen aufzufassen waren. Ihr ist die Empfindungen in uns hervorrufende AuBenwelt wesentlich KOrperwelt. Wir haben zu priifen, inwie- weit diese naturwissenschaftliche Auffassung zu Recht besteht oder wie sie gegebenenfalls umzubilden ist. Wir haben erfahren, wie unsere Sinneswahrnehmungen zu der Annahme einer Vi el he it von AuBenweltsexistenzen fiihren. In der Sinneswahrnehmung liegt eine Mannigfaltigkeit von Unter- scheidbarem vor, dessen Verschiedenheit von dreierlei Art sein kann: qualitativer, raumlicher und zeitlicher Natur. Ob diese Arten des Unterschieds ganz oder teilweise urspriinglich sind, ob z. B. gewisse raumliche Verschiedenheiten, etwa der Tiefen- 8* 116 VI. Der Korper. oder Entfernungswahrnehmung durch den Gesichtssinn auf quali- tative Verschiedenheiten zuruckfiihrbar sind, geht uns hier nichts an. Jeder der drei Arten von Unterschieden miissen Arten von Unterschieden in der Aufienwelt entsprechen. Rot und griin unterscheiden sich qualitativ, die Ursachen der Rot- und der Griinwahrnehmung miissen verschieden sein. Ein roter Punkt unterscheidet sich von einem anderen raumlich; ein entsprechender Unterschied mufi in der Aufienwelt zugrunde liegen, den wir auch im weiteren Sinne als raumlich bezeichnen; wir wissen aber, dafi dieser raumliche Unterschied in der Aufienwelt etwas ganz anderes ist, als Ortsunterschiede in einem der Sinnesraume. Dem Zeitunterschied zweier aufeinanderfolgender Rotempfindungen mufi ebenfalls ein Zeitunterschied in der zugrunde liegenden Aufienwelt zugeordnet werden. In einem bestimmten Momente haben wir demnach in der Aufienwelt eine Vielheit von Existenzen, d. h. Qualitaten, die raumlich getrennt sind in dem ausgefiihrten, iibertragenen Sinne. In der Zeit a'ndert sich diese Vielheit und zwar nach den Anfor- derungen der Regelmafiigkeitsvoraussetzung gesetzmafiig, wobei indessen das Beharren zahlreicher Existenzen nicht ausgeschlos- sen ist. Hat die so geschilderte Aufienwelt schon kOrperlichen Charakter? Sicherlich kommt den Teilen jener Vielheit manches zu, was der Physiker als zu dem Begriff des KOrpers gehorig betrachtet. Die Teile der Vielheit sind im weiteren Sinne raum- lich, sie beharren zum Teil. Gerade das letztere ist bedeutsam; denn dadurch treten jene Teile der Aufienwelt in einen gewissen, wenn auch durchaus nicht absoluten Gegensatz zu unseren Empfindungen, die viel weniger beharrlich sind. Indessen pflegt der Naturwissenschaftler in den Begriff des physischen KOrpers doch mehr hineinzulegen als allein das Imraumesein und ein relatives Beharren. Vor alien Dingen ist der K6rperbegriff des naiven Menschen wie der Naturwissenschaft eng verbunden mit dem der Raumerfullung. Der KOrper wird nicht nur allgemein als im Raume existierend allein, sondern auch speziell als raumerfiillend, nach drei Dimensionen aus- gedehnt gedacht. Ob die letzten Teile der Ko'rper auch noch raumerfiillend sind, wie die Atome meist vorgestellt werden, oder VI. Der KOrper. 117 ob sie mathematische, unausgedehnte Punkte sind, deren Kom- plexe ihre Ausdehnung oder Raumerfiillung nur von den Ent- fernungen der letzten Teile voneinander' haben, ist dann eine weitere Frage. Wir miissen demnach entscheiden, ob die AuBenweltsexi- stenzen nicht nur im Raume sind, sondern ob sie auch raum- erfiillend sind, immer natiirlich in dem ausgefiihrten weiteren Sinne. Und diese Frage ist selbstverstandlich zu bejahen. Ich habe zum Beispiel einen warmen, halbfliissigen KOrper, etwa Gelatine. Ich kann mit dem Finger in der Masse hin und her fahren, uberall habe ich das Gefiihl der Warme. In meinem Sinnesraume befindet sich also raumerfiillend, sagen wir einmal die Moglichkeit der Warmeempfindung. Nacheinander empfinde ich Warme an einer raumlichen Vielheit voneinander benachbarten Stellen im Sinnesraume. Entsprechend muB auch die die Warme- empfindung erzeugende AuBenweltsexistenz an einer Vielheit von- einander benachbarten Stellen im AuBenweltsraume angenommen werden. Auf Grund der Auseinandersetzung iiber das Beharren von AuBenweltsexistenzen und der Erfahrung, daB ich wieder Warme in gleicher Weise empfinde, wenn ich mit dem Finger zu einer schon vorher beriihrten Stelle der Gelatine zuriickkehre, nehme ich an, daB die die Empfindung hervorrufende AuBen- weltsexistenz beharrt an den Stellen, die ich im Augenblick nicht beruhre. Ich komme so zu der Oberzeugung, daB die AuBen- weltsursache der Warmeempfindung nicht nur im Raume, sondern raumerfiillend ist, beides in dem angefuhrten Sinne. Auf Grund ganz ahnlicher Erfahrungen nehme ich an, daB die AuBenwelts- existenz, welche meiner Wahrnehmung eines Eisenblocks ent- spricht, raumerfiillend ist. Wenn auch hier das Eindringen in das Innere mehr Schwierigkeiten macht, so ist es doch immerhin moglich bei Zuhilfenahme passender Mittel. Immer ist allerdings die Voraussetzung des Beharrens der Empfindungsursachen not- wendig, auch wenn die Empfindung fur die betreffende Stelle nicht mehr existiert. Diese Voraussetzung ist aber induktiv gerechtfertigt und nichts als eine Konsequenz der RegelmaBig- keitsvoraussetzung. Die den Sinneswahrnehmungen von Tischen, Stuhlen, Staben, Kristallen, Fliissigkeiten und Gasen entsprechenden AuBenwelts- VI. Der Kflrper. existenzen sind demnach nicht nur im Raume, sondern sie sind auch raumerfiillend. Ob diese raumerfiillenden Aufienweltsexi- stenzen nun aus Teilen bestehen, die immer noch raumerfiillend sind, oder aus unausgedehnten Punkten, die gewisse Entfernungen voneinander besitzen, so dafi ein Komplex von solchen Punkten raumerftillend ist, bleibt fiir uns noch vOllig dahingestellt. Ich glaube, dafi wir bei dieser Lage der Dinge unbedenklich von Korpern in der Aufienwelt reden diirfen. Will aber jemand ein Existierendes, welches raumerfiillend und beharrlich ist, noch nicht als Korper bezeichnen, so kann ich mich ihm gegeniiber auf Spateres berufen. Wenn aber ein Stiick Eisen etwa als Kb'rper bezeichnet wird und dabei an das in der Aufienwelt Existierende gedacht wird, so versteht es sich von selbst, dafi der Korper- begriff dabei in entsprechendem iibertragenem Sinne gebraucht wird, wie der Raumbegriff von uns im iibertragenen Sinne auf die Aufienwelt angewandt wurde. Wir konnen daher hier auf die Ausfuhrungen zuriickverweisen, die wir oben zur Einfiihrung des auf die Aufienwelt iibertragenen Raumbegriffes gaben. Auch hier scheint mir trotz der Gefahr einer falschen Deutung die angenommene Verwendung des Wortes Korper geraten, weil wir auf Grund derselben eine umstandliche Obersetzung physikalischer Erkenntnisse ins Metaphysische vermeiden. Wenn wir nun z. B. sagen, zwei KOrper bewegen sich aufeinander zu, so hat dies Urteil sofort einen Sinn fiir die Aufienwelt, indem wir die Bezeich- nungen KOrper und Bewegung oder Ortsveranderung in iiber- tragenem, weiterem Sinne verwenden. Wir haben soeben das Merkmal der Raumerfiillung als bedeut- sam fur den Korperbegriff auf die Aufienwelt iibertragen bezw. umgedeutet. Dieses Merkmal der Raumerfiillung oder Ausgedehnt- heit steht in enger Beziehung zu dem der Undurchdringlichkeit. Wir konnen das den Ko'rpern Undurchdringlichkeit zusprechende Gesetz ausdriicken, indem wir sagen: der Raum, der von einem KOrper erfiillt wird, kann nicht gleichzeitig von anderen erfiillt werden; oder: wo ein KOrper ist, kann nicht zugleich ein anderer sein. Auf der Undurchdringlichkeit der K5rper fiir den besonderen Korper, der von uns als Leib bezeichnet wird, beruht die Wahrnehmung der Raumerfiillung durch den Tast- Bewegungssinn. VI. Der K6rper. 119 Gilt die Undurchdringlichkeit fur unsere Wahrnehmungen von Korpern, so gilt sie auch fur die Aufienweltskorper. Sehe ich ein Stuck Holz und ein Stuck Eisen nie an demselben Orte im Sinnesraume, so kGnnen die entsprechenden Aufienweltskorper auch nicht den gleichen Ort im Aufienweltsraume haben, d. h. auch in der Aufienwelt sind diese KOrper undurchdringlich. Dabei wird nur vorausgesetzt, dafi der Ortsverschiedenheit im Sinnes- raume Ortsverschiedenheit in der Aufienwelt entspricht, was die Regelmafiigkeitsvoraussetzung fordert. — Wir wollen iibrigens bemerken, dafi bei unseren Erorterungen keineswegs die Gultig- keit des Undurchdringlichkeitsgesetzes vorausgesetzt zu werden braucht. Der Korperbegriff kann meines Erachtens auch ohne die Annahme oder das Merkmal der Undurchdringlichkeit bestehen. Fur unsere Wahrnehmung ist das Mischen von Fliissigkeiten oder Gasen zunachst ein Durchdringen; wo Wasser ist, kann auch Alkohol gleichzeitig sein; wo Sauerstoff ist, kann zugleich Kohlen- saure sein. Erst nachtraglich deutet die Naturwissenschaft die Erfahrungstatsache der Existenz von Gemischen usw. so urn, dafi sie mit der Allgemeingiiltigkeit des Undurchdringlichkeits- gesetzes vertraglich wird. Sie vermag das mit Hilfe der Hppo- these von der kornigen, molekularen Struktur der Materie. Von dieser Deutung ist die Anerkennung der korperlichen Natur von Fliissigkeiten ganz unabhangig. Deshalb scheint es mir nicht angebracht, das Merkmal der Undurchdringlichkeit in den Begriff des KGrpers von vornherein aufzunehmen. Vielmehr haben wir zu sagen, dafi als KOrper das raum- erfullend in der Aufienwelt Existierende zu bezeichnen ist. Hier- bei ist nicht das Erf till end schon so zu fassen, dafi darinnen bereits die Undurchdringlichkeit liegt, sondern nur das Existieren nicht nur an einem Punkte, vielmehr in einem ganzen Raume soil betont werden. Existieren heifit nun nach unseren friiheren Ausfiihrungen Qualita>Sein in dem Sinne, indem unsere Bewufit- seinsinhalte, Gefuhle, Farben-, Warme-, Tonempfindungen usw. Qualitaten sind. Ein Korper in der Aufienwelt ware demnach eine einen gewissen Aufienweltsraum — sei es kontinuierlich oder diskontinuierlich — erfiillende Qualitat, beziehungsweise ein Komplex von solchen Qualitaten. Im letzteren Falle miifiten aber die Qualitaten so zu einem Komplexe zusammengefafit sein, dafi 120 VI. Der KOrper. sie miteinander bestanden und vergingen, daB wenigstens der Ko'rper ein anderer wtirde, wenn eine Qualitat des Komplexes sich anderte. Bestande nicht solch ein enges Zusammenver- bundensein der Qualitaten, ko'nnten vielmehr die einzelnen Quali- taten raumerfiillend auseinandertreten, so wtirden wir nicht von ein em Korper reden, sondern von einem Gemisch oder etwas Ahnlichem von mehreren KOrpern. Diese miiBten dann ent- weder nicht-undurchdringlich sein, daB heiBt den gleichen Raum erfullen ko'nnen, oder nur scheinbar durchdringlich auf Grund von diskontinuierlicher Raumerfiillung. Ob ein AuBenweltsko'rper wirklich aus mehreren festverbundenen Qualitaten bestehen kann, die an demselben AuBenweltsort sind, denselben AuBenweltsraum erfullen, so daB die Qualitaten nicht-undurchdringlich waren fiir- einander, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Jedoch ist hier der Ort, auseinanderzusetzen, welcherart das Verhaltnis des KOrpers zu den Eigenschaften desselben im gewohnlichen Sinne des Wortes ist, wobei auch zum Substanz- begriff kurz Stellung genommen werden mag. Im taglichen Leben wird die Bezeichnung Eigenschaft in sehr weitem Sinne angewandt, wie schon die Obersetzung von Adjektiv mit Eigenschaftswort zeigt. Vorgange, die sich an einem KOrper abspielen, und Beziehungen nennen wir unbedenklich Eigenschaften. Den Vorgangen und Beziehungen schreiben wir wiederum Eigenschaften zu. Wir wollen zunachst diejenigen Eigenschaften betrachten, die den Qualitaten der Empfindung entsprechen, also Farben, Tfine, Warmegrade, Geschmacke, Geriiche, Harte oder Weichheit usw. Das naive Denken faBt einen Korper auf als einen raum- erfiillenden Komplex von Eigenschaften, die mit den wahr- genommenen Empfindungsqualitaten identisch sind. Ein Stuck Siegellack ist da vorhanden, wo ein so und so geformter Raum- teil durch und durch rot ist, hart ist usw. ' Und zwar ist derselbe Raumteil rot und hart. Rote Farbe und Harte sind an demselben Orte; sie sind fiireinander nicht undurchdringlich. Besteht nun das Stiick Siegellack aus derartigen Eigenschaften, wie rote Farbe, Harte usw., die einen gewissen Raum erfullen? Oder kommt nach der naiven Auffassung noch etwas hinzu, was hinter oder tiber den Eigenschaften steht, an dem die Eigenschaften sind VI. Der Korper. 121 oder haften, inharieren, von dem sie Eigenschaften sind? Mir scheint, dafi im naiven Denken die Vorstellung eines Tragers der Eigenschaften, einer Substanz, eines wesentlichen Kernes, an dem die Eigenschaften nur als eine Realitat gleichsam zweiten Ranges haften, noch nicht ausgebildet ist. Das Problem, welches die Philosophic hier gestellt hat, kommt dem einfachen Menschen nicht zum Bewufitsein. Auf ihn wirkt die sinnliche Qualitat noch mit soldier Energie, dafi er nicht zur Vorstellung eines selbst nicht qualitatseienden Tragers als der Hauptsache an einem KSrper gelangen kann. Wenn eine Entscheidung iiber die Ober- zeugung des schlichten Menschenverstandes auch nicht sicher mog- lich ist, weil ihm die Fragestellung fehlt, so scheint er mir doch dazu zu neigen, die Eigenschaften selbst als Kern eines Kb'rpers zu betrachten, nicht ein substantiates Etwas, das hinter alien Eigen- schaften stiinde, anzunehmen. Eine Eigenschaft eines Korpers ist also fur ihn ein integrierender Teil des Korpers, und der KOrper ist nichts als ein Komplex von Eigenschaften. Daher halt der naive Mensch die Rose fur rot, wenn keiner sie sieht, den Zucker fiir siiB, wenn keiner ihn schmeckt. Die Eigenschaft ist Eigenschaft eines Korpers, heiBt, sie bildet mit anderen Eigenschaften diesen Korper; nehme ich eine Eigenschaft fort, so bleiben die ubrigen, denke ich mir aber alle fortgenommen, so bleibt nichts zuriick. Der KOrper verschwindet, wenn alle seine Eigenschaften ver- schwinden. Zu einer derartigen Auffassung scheint mir der naive Mensch wenigstens hinzuneigen. Ich habe dieselbe hier nur auseinander- gesetzt, weil ich sie sehr bald doch dem Leser vorfuhren miifite. Im ubrigen kommt es uns nicht so sehr darauf an, ob die Ero'rte- rung uber die naive Vorstellung vom Korper und seinen Eigen- schaften etwas Richtiges trifft. Jedenfalls konnen wir konstatieren, dafi das philosophische Denken sehr bald eine ganzlich andere Auffassung entwickelt hat, indem es die korrelativen Begriffe der Substanz und der Qualitat ausbildete. Wie kommt diese Auffassung zustande? Mir scheint, daft dabei verschiedenes zusammenwirkt. Zunachst alles das, was fiir die Subjektivitat der Sinnesqualitaten spricht. Das, was der einfache Mann als Eigenschaften des Korpers ansah, wie Farbe, Harte usw., ist nur im BewuBtsein von Menschen oder Tieren, kann also nicht die 122 VI. Der Korper. Realitat des KOrpers ausmachen. Das Wesen des Korpers muB vielmehr etwas sein, was hinter diesen Qualitaten, den Farben usw. steht. Der KOrper existiert auch, wenn er nicht rot ist und nicht suB ist. Die Eigenschaften ko"nnen sich verandern, wechseln, der Korper bleibt derselbe. — Hinzu kommt die Bezie- hung des KOrperbegriffs auf den Tastsinn und die Sonderstellung dieses Sinnes, die hervorragende Zuverlassigkeit, welche wir ihm zuschreiben. So erscheint als substantieller Kern dem Naturwissen- schaftler das Tastbare gegeniiber dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Riechbaren als den Eigenschaften. Dabei ist allerdings nur eine Qualitat zum hOheren Range der Substanz erhoben worden, der die iibrigen Qualitaten nun angehangt werden. Wo dieser Sach- verhalt durchschaut wird, ergibt sich dann sofort, daB die Substanz ein „! know not what" ist, wie Locke sagte, daB wir uns bei dem Worte Substanz, Trager von Eigenschaften, nichts zu denken vermOgen. — Ich bemerke, daB ich nur von der Substanz als dem Trager von Qualitaten spreche. Ob die anderen Begriffs- bestimmungen der Substanz anders zu werten sind, ist eine weitere Frage. Was soil es denn auch heiBen, die Substanz sei der Trager von Eigenschaften? Wir wissen, was es heiBt, ein Baum tragt Friichte, ein Mensch tragt ein Kleid. Gerade an letzterem Bei- spiel ist vielleicht etwas, das den bildlichen Sprachgebrauch erlau- tern kann. Wie der Mensch sein Kleid tragt, so tragt die Korper- substanz ihre Farbe. Das kb'nnte heiBen, die Farbe ist nur auBen an der Substanz, auBen im raumlichen Sinne. Aber das ist offen- bar nicht gemeint, denn wir sagen nicht bloB, rote Farbe sei eine Eigenschaft eines rot angestrichenen Eisenstiickes. Und erst recht ist Zucker nicht deshalb suB, weil die Oberflache suB ist. Chlor riecht nicht so und so, weil die Peripherie eines Chlor- volums den Geruch hat. Raumlich ist also der Ausdruck des Tragens nicht zu fassen. Aber in jeder Beziehung ist das Bild des Menschen mit seinem Kleide, wie iiberhaupt das Tragen, verfehlt. Der tra- gende Mensch verhalt sich zu dem getragenen Kleide als ein kOrperliches Ding zu einem anderen. Analog konnten wir die tragende Substanz auffassen als eine Qualitat, die andere Quali- taten tragt, an sich hat, und kSnnten als tragende Qualitat viel- VI. Der K&rper. 123 leicht die des Tastsinnes wa'hlen. Aber diese dem obigen Bilde analoge Auffassung wird eben bestritten. Die Substanz soil nicht eine hervorragende Qualitat, sondern etwas alle Qualitaten Tra- gendes sein, und damit verliert das Bild alle Bedeutung. Die Bezeichnungen Trager und an diesem hangende, inharierende Eigenschaft verlieren jeden Sinn, werden Wo'rter ohne Inhalt. Soil also die Substanz alien Qualitaten gegenuber ge- stellt werden als ihr Trager, so konnen wir uns nichts dabei denken. Wir miissen den durch diese Gegenuberstellung cha- rakterisierten Begriff als leer verwerfen. Aber die Tatsachen, die zu jenem Begriff fuhrten, vor allem die Subjektivitat der Sinneswahrnehmung und die Veranderlichkeit der Eigenschaften, bleiben natiirlich bestehen und verlangen Beriicksichtigung. Fiir den Substanzbegriff ist es verhangnisvoll, dafi unser Existenzialbegriff den uns gegebenen Existenzen, den gegebenen geistigen Inhalten entnommen ist. Wenn wir Aufienweltsexi- stenzen iiberhaupt anerkennen, so heifit das nichts anderes, als daB wir etwas annehmen, welches irgendwie sich so verhalt wie dasjenige Existierende, welches uns gegeben ist, wie unsere Bewufitseinsqualitaten. Das in der Aufienwelt Existierende mufi Qualitat sein in dem Sinne, in dem unsere Bewufitseinsinhalte Qualitaten sind. Korper sind demnach aufzufassen als raum- erfullende Qualitaten. Ob ein homogener Ko'rper aus einer ein- zigen solchen Qualitat oder aus mehreren besteht, die denselben Raum erfullen, sich also durchdringen, bleibt hier unentschieden. Jedenfalls ist das letztere durchaus nicht undenkbar. Diese Oberlegung stellt das Undurchdringlichkeitsgesetz in ein neues Licht. Waren zwei Qualitaten immer in demselben Raume, so wiirden wir sie als den gleichen einen Korper auf- fassen. Sind Qualitaten in verschiedenen Raumen, so betrachten wir sie als verschiedene KOrper. Das Undurchdringlichkeits- gesetz ware demnach zu formulieren: zwei Aufienweltsqualitaten, die verschiedene Raume erfullen, kOnnen nicht in denselben Raum erfiillend eintreten. Oder: wo eine oder mehrere AuBen- weltsqualitaten raumerfiillend sich befinden, dahin konnen nicht eine oder mehrere Aufienweltsqualitaten gelangen, die gewOhnlich an anderen AufienweltsGrtern sind. Zeigt die Erfahrung des naiven Menschen eine Durchdringlichkeit, z. B. von Wasser und 124 VI. Der KOrper. Alkohol bei der Mischung, so kann das Undurchdringlichkeits- gesetz entweder in der angefiihrten Form aufrecht erhalten bleiben unter Zuhilfenahme der Molekulartheorie, wie das in der Natur- wissenschaft geschieht. Oder man fafit die Mischung usw. als die Entstehung eines neuen Korpers aus mehreren auf. Damit verliert aber die Undurchdringlichkeit den Charakter eines Natur- gesetzes; denn wo eine Durchdringung zweier Korper fur die naive Erfahrung vorliegt, sprechen wir einfach vom Entstehen eines neuen KOrpers. Das Undurchdringlichkeitsgesetz — oder sagen wir lieber vorlaufig die Undurchdringlichkeitshppothese — ha'ngt also aufs engste zusammen mit der Hypothese von der diskontinuierlichen, kOrnigen, molekular-atomistischen Konstitution der Korperwelt. 1st die letzte Hypothese unzutreffend, so mufi das Undurch- dringlichkeitsgesetz fallen, bezw. es bleibt nur eine Undurch- dringlichkeitsauffassung giinstigstenfalls bestehen, die aber voll- kommen willkurlich ist. Ich glaube, dem naiven Menschen liegt es naher zu sagen, Wasser und Wein durchdringen sich bei der Mischung, als Wasser und Wein bilden einen einzigen neuen Korper. Die Undurchdringlichkeitsfrage ware eine rein terminologische, die kaum Aufmerksamkeit verdiente. Soil die Undurchdringlichkeit eine sachliche Frage sein, so ist eine dis- kontinuierliche Konstitution der Materie vorauszusetzen. Ob die Voraussetzung und damit die Undurchdringlichkeits- hypothese zutreffen, ist hier nicht zu erOrtern. Wir hatten nur klarzustellen, was von unserem Standpunkte aus unter den An- nahmen zu verstehen ist. Kehren wir nach dieser Abschweifung zum Faden unserer Untersuchung zurtick, so versteht sich nach dem in friiheren Ab- schnitten Gesagten fiir uns von selbst, dafi die eine oder die mehr oder minder zahlreichen raumerfullenden Qualitaten, die einen KOrper in der Aufienwelt ausmachen, nicht ahnlich, gleich oder gar identisch zu sein brauchen oder wahrscheinlich sein werden mit den Qualitaten unserer Sinneswahrnehmung, die jener Korper in uns hervorruft. Das scheidet uns eben von der naiven Auffassung, fiir die eine solche Identitat besteht. Dem- gegenuber halten wir an der Subjektivitat der Sinneswahrnehmung fest, wie an der Subjektivita't der Raumwahrnehmung. Aber wie VI. Der KOrper. 125 der Mannigfaltigkeit der Orte in den Sinnesraumen eine Mannig- faltigkeit in der Aufienwelt zugrunde liegt, die wir wegen der Mo'g- lichkeit der Zuordnung auch als eine Mannigfaltigkeit von Orten in der Aufienwelt bezeichnet haben, so liegt auch der Mannig- faltigkeit der Qualitaten der Sinneswahrnehmung eine Mannig- faltigkeit von anderen Qualitaten in der Aufienwelt zugrunde. Wir miissen nun an eine vorlaufige Untersuchung der Frage treten, wie es sich mit der Zahl jener Qualitaten in der Aufien- welt, speziell auch bei einem einzelnen, wenigstens scheinbar homogenen Ko'rper verhalt. Von vornherein scheint es nahe zu liegen, die Existenz einer groBen Anzahl von Qualitaten in der Aufienwelt vorauszusetzen, wie wir ja in unserem Bewufitsein eine Fulle von verschiedenen Qualitaten haben. Zunachst scheint nichts gegen eine solche Annahme zu sprechen. Wie wir in unserem Bewufitsein regelmafiige Aufeinanderfolgen von zahl- reichen Qualitaten haben, so ist die ganze Welt nichts anderes als eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Qualitaten. In ihr sind aber jene Regelmafiigkeiten liickenlos, wahrend bei der alleinigen Betrachtung der in unserem Bewufitsein gegebenen Qualitaten zahlreiche Liicken bleiben, besonders fiir die Empfindungen. Durch die Hinzunahme der Qualitaten in der Aufienwelt werden die Liicken in der Regelmafiigkeit ausgefullt. Man wird leicht darauf verfallen, soviel verschiedene Emp- findung hervorrufende Qualitaten in der Aufienwelt anzunehmen, als es verschiedene Empfindungsqualitaten gibt. Die Empfindung Rot wiirde etwa von einer anderen Aufienweltsqualitat hervor- gebracht, als die Empfindung Griin, die Empfindung Grim von einer anderen als die Empfindung Warm, die Empfindung Warm von einer anderen als die Empfindung Kalt, die Empfindung Kalt von einer anderen als die Empfindung Schwer usw. Notwendig ist diese Annahme indessen keineswegs, und eine andere Hypothese hat ihr gegeniiber wenigstens in gewissen, wenn auch engen Grenzen schon beim naiven Menschen An- erkennung gefunden. Anstatt die Verschiedenheit von Sinnes- empfindungen auf Verschiedenheit von Qualitaten in der Aufien- welt zuriickzufiihren, ko'nnen wir sie auch — in welchen Grenzen bleibt noch uner5rtert — auf die Verschiedenheit von Relationen von Qualitaten zuruckfuhren. Weifi und Schwarz sind qualitativ 126 VI. Der Kdrper. verschiedene Empfindungen. Diese Verschiedenheit kOnnte dar- auf zuruckgefuhrt werden, daB es in der AuBenwelt eine Qualitat gibt, die WeiB hervorruft und eine andere, die Schwarz hervor- ruft. Aber der RegelmaBigkeitsvoraussetzung kann auch Geniige geschehen durch die Annahme eines einzigen Etwas in der AuBen- welt, das, je nach den anderen Umstanden, Beziehungen, die Empfindung WeiB oder Schwarz hervorruft. Ich kann meinen, daB ein groBes Quantum jener einen Qualitat, Existenz, die Emp- findung WeiB, ein geringes MaB die Empfindung Grau, die Ab- wesenheit jener Qualitat aber die Empfindung Schwarz bedingt. So nahm die Fluidatheorie der Warme an, daB ein wenig jener raumerfullenden Qualitat oder Qualitatengesamtheit, wie wir sagen muBten, also des hppothetischen Fluidums die Empfindung der Kalte, ein groBes Quantum dagegen die Empfindung der Warme veranlaBt. Schon der naive Mensch macht solche Annahmen innerhalb gewisser enger Grenzen, obgleich er damit in einen Widerspruch gerat zu seiner Uberzeugung von der Objektivitat der Sinnes- qualitaten. Er nimmt einerseits an, daB die Rose in der AuBen- welt so rot ist, wie er sie sieht; auf der anderen Seite aber auch, daB die Rose auch rot ist, wenn er sie bei griiner bengalischer Beleuchtung etwa graugrun sieht. Seine Empfindung ware dem- nach nicht allein bestimmt durch die Qualitat, die Farbe in der AuBenwelt, sondern auch durch gewisse andere Umstande, etwa raumliche Beziehungen zu einer Lichtquelle. Die Wissenschaft bedient sich solcher Hypothesen, in denen qualitative Unterschiede der Empfindungen nicht einfach auf ver- schiedene Qualitaten in der AuBenwelt zuruckgefuhrt werden, sehr bald in weiteren Grenzen. So fiihrt sie die qualitativ ver- schiedenen Tonwahrnehmungen nicht auf verschiedene Qualitaten zuriick, die den verschieden tOnenden Korpern in der AuBenwelt zukamen, sie nimmt vielmehr an, daB qualitativ vielleicht gleiche Ko'rper periodische Schwingungsbewegungen von verschiedener Schwingungszahl ausfiihren. Auf einem entsprechenden Grund- gedanken beruhen alle mechanischen Hypothesen der Physik. Qualitatsunterschiede unserer Empfindungen werden auf Ver- schiedenheiten raumlicher Art, die sich an Korpern finden, zuruck- gefuhrt. Ein Ko'rper leuchtet in verschiedenen Farben nicht je VI. Der Korper. 127 nach der raumerfiillenden Qualitat oder dem raumerfiillenden Qualitatenkomplex, sondern je nach der Bewegung, in der sich jene Qualitaten befinden. Dunkles, rot-, gelb- und weifigluhendes Eisen sind nach der herrschenden naturwissenschaftlichen Auf- fassung nicht qualitativ verschieden, sondern sie unterscheiden sich durch den Bewegungszustand der KOrperteilchen, d. h. der Raumteile erfiillenden Qualitaten. Indessen ist die Zuruckfuhrung qualitativer Unterschiede der Empfindungen auf nichtqualitative in der Aufienwelt nicht nur den iiblichen mechanischen Hypothesen eigen. Wir haben bereits die Hypothese des Warmefluidums besprochen. Auch in ihr wird der qualitative Unterschied von Warm und Kalt auf den nicht- qualitativen, sondern quantitativen Unterschied, auf die grOfiere oder geringere Menge von Warmestoff zuruckgefuhrt. Wir ko'nnen zusammenfassend sagen, dafi nicht alle quali- tativen Unterschiede in der Sinneswahrnehmung auf qualitative Unterschiede in der Aufienwelt zuruckgefuhrt werden brauchen. In einzelnen Fallen ware eine solche Zuruckfuhrung sicher ver- fehlt, z. B. bei den Schallempfindungen. Eine wichtige Art von Zuruckfuhrungen qualitativer Unterschiede der Wahrnehmung ist die' auf Bewegungsvorgange in der Aufienwelt, die fiir den Schall sicher zutreffend ist, in anderen Fallen zweifellos viele Erfolge erzielt hat. Aber nicht notwendig ist die Zuruckfuhrung auf nicht qualitative Unterschiede in der Aufienwelt eine solche auf Bewegungsvorgange, wie das Beispiel der Warmestoffhypothese beweist. Durch die Reduktion qualitativer Unterschiede auf nicht qualitative wird die Zahl der die Aufienwelt bildenden ver- schiedenen Qualitaten naturlich vermindert; wie weit diese Ver- minderung gehen darf, mufi eine eingehende Prufung lehren. Urn diese Prufung einleiten zu konnen, wollen wir die Problemlage dadurch vereinfachen, daB wir einen einfachen homogenen Ko'rper, sagen wir ein Stuck Eisen oder Zinnober, unserer Betrachtung zugrunde legen. Wie weit darf in diesem Falle die Reduktion gehen? Dies Stuck Eisen ist grau, kalt, hart und schwer. Ihm ent- spricht in der Aufienwelt ein raumerfiillender Komplex von Qualitaten, im Grenzfalle vielleicht nur eine Qualitat. Nehmen wir eine Vielheit von Qualitaten an, so werden wir entweder 128 VI. Der Korper. iiberzeugt sein auf Grund der Homogenitat, dafi alle die Quali- taten an alien erfiillten Stellen des Raumes in gleicher Weise vor- handen sind, oder dafi die Homogenitat nur eine scheinbare ist. Der Korper bestande im letzteren Falle aus qualitativ verschiedenen, aber regelmafiig verteilten feinen, wegen ihrer Kleinheit einzeln unwahrnehmbaren Teilchen, deren jedes nun vielleicht einen wirk- lich homogenen Qualitatenkomplex darstellen wiirde. Der letztere Fall wurde den chemischen Verbindungen nach der herrschenden Molekulartheorie entsprechen. Wir werden uns mit ihm noch eingehend zu beschaftigen haben. Vorerst liegt die erstere An- nahme naher, und sie soil uns zunachst beschaftigen. Wir konnten vielleicht von der Vorstellung ausgehen, dafi jeder der wahrgenommenen Qualitaten, also den Empfindungen Grau, Kalt, Hart usw., eine Qualitat entsprache, die die Emp- findung hervorriefe. Ja, wir kOnnten noch weiter gehen und an- nehmen, dafi den verschiedenen Wirkungsweisen des Korpers iiberhaupt auch weitere verschiedene Qualitaten zugrunde lagen. Eisen wirkt auf die Magnetnadel, es iibt chemische Wirkungen aus usw.; diese Wirkungen sind den Wirkungen auf unsere Sinnes- organe, d. h. dem Hervorrufen von Empfindungen durchaus zu koordinieren. Entsprechen aber den verschiedenen Empfindungen verschiedene Qualitaten, so mufiten demnach auch den anderen Wirkungsweisen, auf die Magnetnadel, auf chemische Reagenzien usw., verschiedene Qualitaten entsprechen. Der AufienweltskOrper Eisen bestande demnach aus einer raumerfiillenden Qualitat, die die Empfindung Grau, aus einer zweiten, die die Empfindung Kalt, aus einer dritten, die die Wahrnehmung Hart, aus einer vierten, die die Wirkung auf die Magnetnadel, aus einer weiteren, die die chemischen Wirkungen hervorriefe, und so fort. Einige dieser Qualitaten mufiten uberdies als variabel betrachtet werden. Das Eisen kann kalt und warm sein, dementsprechend chemisch aktiv sein in verschiedenem Grade. Dieser Auffassung gegenuber wird man mit vollem Rechte geltend machen, dafi eine Ursache mehrere Wirkungen iiber- nehmen konne. Vielleicht ist es ein und dieselbe Qualitat, die die verschiedenen Empfindungen und die iibrigen Wirkungen verursacht. Eine solche Vermutung wird nun dem Einwande ausgesetzt VI. Der Korper. 129 sein, dafi die verschiedenen Empfindungen und Wirkungen nach ihr in engerem Zusammenhange stehen miifiten, als die Erfahrung zeigt. Ware es dieselbe Qualitat, die die Empfindung der Kalte und die Wirkung der Schwere hervorriefe, so bliebe es unver- standlich, warum das Stuck Eisen warm werden kOnnte, ohne auch nur im geringsten das Gewicht zu verandern. Wenn daher mit einer Qualitat nicht auszukommen ist, so geht vielleicht doch obige Annahme einer so grofien Anzahl von Qualitaten, als es Empfindungen und Wirkungsweisen gibt, zu weit. Lege ich das Stuck Eisen auf meine Hand, so habe ich die Wahrnehmung der Schwere; lege ich es auf eine Federwage, so wird diese ein bestimmtes Gewicht anzeigen. Die Wahr~ nehmung der Schwere und die Wirkung auf die Federwage hangen nun auf das engste zusammen. Daher werde ich an- nehmen kOnnen, dafi es dieselbe Qualitat in der Aufienwelt ist, die die Wahrnehmung der Schwere und die Wirkung auf die Federwage hervorbringt. In entsprechender Weise wird die Zahl der fur einen homogenen KOrper anzunehmenden Qualitaten doch herabgesetzt werden kOnnen, wenn auch vielleicht nicht mit einer einzigen Qualitat auszukommen ist. Wir bleiben also vorderhand bei unserer Annahme, dafi das Eisenstiick in der Aufienwelt nichts anderes ist als eine Anzahl von Qualitaten, die denselben Raum erfiillen. Eine Reihe der anzunehmenden Qualitaten ist veranderlich, z. B. diejenige, die die Empfindung der Temperatur hervorbringt. Andere dagegen sind dem Anschein nach unveranderlich; hierher gehort die Masse des Ko'rpers, d. h. die seine Beschleunigung durch die Kraffc einheit bestimmende Grofie, und das Gewicht, bezw. die beiden zugrunde liegenden Qualitaten, die vielleicht identisch sein werden, wegen des Zusammenhanges von kinetischer Masse und Gewicht, genauer von kinetischer und gravitierender Masse. Auf Grund dieses Verhaltnisses von konstanten und variablen Qualitaten konnen wir den Substanzbegriff auf die Korper der Aufienwelt anwenden, freilich nicht im oben abgelehnten Sinne. In der Entwicklung des wissenschaftlichen, im besonderen des philosophischen Denkens hat der Substanzbegriff mannig- faltige Wandlungen durchgemacht. Den verschiedenen ihm zu- geschriebenen Merkmalen sind zahlreiche, wechselnde Nuan- Becher, Philosoph. Voraussetzungen. 9 130 VI. Der KSrper. cierungen erteilt worden. Fur unsere Zwecke mogen zwei Seiten am Substanzbegriff, zwei Gruppen von Merkmalen auseinander- gehalten werden; dabei sollen die Wechselbeziehungen, die die beiden Gruppen verbinden, nicht in Abrede gestellt werden. Auf der einen Seite steht der Begriff der Substanz dem der Qualitat gegenuber: die Substanz ist das Subjekt, der Trager, das Selbstandige zu den Qualitaten; die Qualitaten sind das, was von dem Subjekte ausgesagt wird, von dem Trager gehalten wird, an oder in ihm hangt, haftet, das Unselbstandige gegenuber der selbstandigen Substanz. Auf der anderen Seite ist die Sub- stanz das Beharrende, Bleibende, sofern es nicht Vorgang oder Beziehung ist (wie etwa die Naturgesetze). In dem letzteren Sinne kOnnen beharrende Qualitaten sehr wohl Substanzen heifien. Wir haben den Begriff der Substanz nur abgelehnt, sofern er nicht unter den Begriff der Qualitat subsumierbar war, der uns recht eigentlich mit dem Begriffe des Seins, der Existenz uber- haupt zusammenfiel. Ist der Trager der Qualitaten, das Subjekt zu denselben, nicht selbst Qualitat, so kann ich mir nicht vor- stellen, worin sein Sein uberhaupt bestehen soil. Das Merkmal der selbstandigen Existenz einer Substanz hat ebenfalls nur einen Sinn, wenn unter Existenz schlechthin etwas gedacht werden kann. Unsere Ablehnung des Substanzbegriffes geht also nur so weit, als die Substanz den Qualitaten gegenubergestellt wird als etwas von ihnen Verschiedenes. Wird dagegen unter Substanz eine beharrende Qualitat oder ein Komplex von beharrenden Qualitaten im Gegensatze zu den veranderlichen Qualitaten eines KOrpers, auch zu den Vorgangen und Beziehungen verstanden, so hat der Begriff einen verstandlichen Sinn und, wie es scheint, ein weites Anwendungsgebiet. Freilich wissen wir nicht, ob irgendwelche Qualitaten oder Qualitatenkomplexe absolut be- harren, ganzlich unveranderlich sind. Vielleicht laBt sich etwas dafiir und dagegen sagen; wir brauchen hier nicht darauf ein- zugehen. Aber wozu auch die Anforderungen so hoch schrauben! Wir kOnnen den Substanzbegriff unbedenklich anzuwenden ver- suchen, wo Unveranderlichkeit innerhalb der Grenzen besteht, in denen wir sie feststellen konnen. Vielleicht sind wir dann spater einmal genotigt, den Substanzbegriff an dieser oder jener Stelle zuriickzuziehen, wenn wir mit feineren Hilfsmitteln VerSnderlich- VI. Der Kdrper. 131 keit erkannt haben, wo heute kein Grund vorliegt, eine solche anzunehmen. Vielleicht entschlieBt man sich auch, trotz gewisser, etwa sehr kleiner Variationen die Bezeichnung Substanz beizu- behalten. Das sind nur terminologische Fragen, fur die der Gesichtspunkt der Zweckmafiigkeit mafigebend ist. Wenden wir diese Oberlegungen auf unser Beispiel eines Eisenstiickes an. Da haben wir die unveranderliche Qualitat, die der Masse zugrunde liegt, daneben vielleicht noch andere. Diese wtirden also die Substanz des Eisens ausmachen. Dazu ka'men dann variable Qualitaten, von denen man mit einem nun halbwegs verstandlichen Bilde sagen konnte, dafi sie an der Substanz, den beharrenden Qualitaten hafteten, von ihr getragen wtirden, von ihr als von ihrem Subjekte ausgesagt werden kOnnten. Deutlicher ware es immerhin, wenn man die raumliche Vereinigung der Substanz mit den anderen variablen Qualitaten direkt betonte. Wir wollen einen Augenblick bei der Frage stehen bleiben, ob die Substanz aus einer oder aus mehreren Qualitaten bestehen musse. Da die etwaigen zahlreichen Qualitaten, aus denen eine korperliche Substanz der Annahme nach bestehen mufite, alle als unveranderlich angenommen werden, so haben wir zu fragen, ob nicht eine einzige Qualitat die Rolle jener zahlreichen tiber- tiehmen konne. Anstatt eine Wirkungsweise auf die konstante Qualitat A und eine zweite auf die konstante Qualitat B zuriick- zufuhren, gentigt nun vielleicht eine einzige Qualitat A fur beide, gegebenenfalls fur zahlreiche Wirkungsweisen. Das Bedenken, welches wir bei den veranderlichen Qualitaten hatten, die Unab- hangigkeit der Veranderung, kommt hier zum Fortfall. In der Tat wird eine Reduktion von konstanten Qualitaten in vielen Fallen mit der Erfahrung vertraglich sein, nicht aber in alien. Veranlafit mien die Wirkungsweisen a zur Annahme einer konstanten Qualitat A, die ich einem KOrper Kt zuschreibe (die also dessen Substanz mit ausmacht), die Wirkungsweise p des- selben KOrpers Kj zur Annahme der Qualitat B, so konnte ich daran denken, A und B seien ein und dieselbe Qualitat, oder beide stellten wenigstens denselben konstanten Qualitatenkomplex dar, wenn bei alien Ko'rpern die Wirkungsweisen a und p zusammen vorkamen, nie getrennt. Im letzteren Falle mufi ich dagegen die Verschiedenheit von A und B anerkennen. 9* 132 .VI. Der K6rper. Aber selbst wenn a und p immer zusammen auftreten, habe ich zwar Veranlassung zu glauben, dafi das beiden im Korper K zugrunde liegende identisch ist, nicht indessen, dafi es eine einzige Qualitat ist. Es kann sich genau so gut um einen Komplex von Qualitaten handeln. Daruber kann ebensowenig ausgemacht werden, wie iiber die Frage, welcher besonderen Art die zugrunde liegenden Qualitaten sind. Kehren wir zu den veranderlichen Qualitaten zuriick, so mufi erwahnt werden, dafi diese zum Teil als nur scheinbar variabel aufgefafit worden sind. Als typisches Beispiel wurde oben jene Qualitat angefiihrt, die der Temperaturempfindung in der Aufienwelt zugrunde liegend anzunehmen ware. Wir mufiten diese Qualitat als variabel betrachten, wenn wir sie als inte- grierenden Bestandteil des bald warmeren, bald kalteren Eisen- stiickes auffafiten. Dieser Auffassung gegeniiber hatte die Natur- wissenschaft vor dem Aufkommen der mechanischen Warmetheorie eine andere Auffassung ausgebildet: die von der substantiellen Natur der Warme. Die Warme eines KOrpers ist nach dieser Hypo- these nicht als eine veranderliche Qualitat des Ko'rpers aufzufassen, sondern als ein Korper, ein Fluidum, im Ko'rper. Das warme Eisen besteht demnach aus zwei Substanzen, aus dem Eisen und aus einem gewissen Quantum substantieller Warme. Diese Auf- fassung setzt natiirlich voraus, dafi jene Qualitat, die der Tem- peraturwahrnehmung in der Aufienwelt zugrunde liegend an- genommen wird, substantiellen Charakter hat, d. h. unveranderlich beharrt, vor alien Dingen also nicht entstehen und verschwinden, sich vermehren oder vermindern kann. Solche Annahmen ver- mochte nun die Naturwissenschaft zur Zeit Blacks unter Zuhilfe- nahme einiger Hypothesen iiber latente Warme, Verschiedenheit der spezifischen Warmen in verschiedenen Aggregatszustanden usw. als durchfiihrbar zu erweisen. Alle Anderungen von Tempera- turen wurden also nicht als Anderungen der zugrunde liegenden Qualitat aufgefafit, sondern als ein Zustromen und AbstrOmen der Warmesubstanz, deren Gesamtquantum unveranderlich blieb. Wir waren ausgegangen von dem Versuch, zu alien Quali- taten der Sinneswahrnehmung und alien Wirkungsweisen zugrunde liegende Qualitaten im Aufienweltskorper anzunehmen. Auch die Warme haben wir auf eine Qualitat zuriickgefiihrt, aber die VI. Der KOrper. 133 Warmeanderungen nicht auf Anderungen der zugrunde liegenden Qualitat, sondern auf Bewegungen dieser Qualitat. Das kOnnte uns auf den Gedanken bringen, ob nicht alle Qualitaten viel- leicht substantiell sind, wie die angenommene Warmefltissigkeit. Vielleicht HeBen sich alle Anderungen auf nicht qualitative Anderungen von substantiellen Qualitaten zuruckfuhren, wie das fiir die Warme anging. Hier soil dieser Gedanke nicht ero'rtert werden. Wir hatten zunachst die verschiedenen Sinnesempfindungen und Wirkungs- weisen eines Ko'rpers zuriickgefiihrt auf verschiedene Qualitaten, die den Korper bilden; Veranderungen hatten wir als das Resultat der Veranderung von Qualitaten betrachtet. In der Black schen Warmesubstanzhypothese wurden dagegen die Veranderungen von Empfindungen und anderer Wirkungsweisen auf nichtquali- tative, sondern auf Ortsveranderungen zuruckgefuhrt. Gehen wir noch einen Schritt weiter, so kommen wir dazu, nicht nur die Veranderungen, sondern die Empfindungen und Wirkungs- weisen selbst nicht auf die Qualitaten selbst, sondern auf Vor- ga'nge etwa zuruckzufiihren, die sich natiirlich an Qualitaten abspielen mtissen. Dabei ka'men dann in erster Linie Bewegungs- vorgange in Betracht. Wir waren so wieder bei den kinetischen Hypothesen angelangt. Wir sahen schon, wie wir die Sinnes- qualitaten der akustischen Wahrnehmung zuruckftihren muBten auf Bewegungsvorgange am schallerregenden KOrper. Ehe wir aber die Reduktion auf Bewegungen in ihrer ganzen Ausdehnung besprechen, miissen wir eine Hppothese betrachten, welche die mechanischen Vorstellungen erst fruchtbar macht, die Hypothese von der diskontinuierlichen Struktur der KOrper, die Molekular- hppothese im weitesten Sinne des Wortes. Erst auf Grund der Molekularhypothese wird es mOglich, zu den verschiedenen Sinnesempfindungen und Wirkungsweisen der KOrper passende Bewegungsvorgange zu ersinnen, die zugrunde liegen ko'nnten. Wollte man Bewegungen der sicht- bar grofien K5rper oder KOrperteile zugrunde legen, so mtiBte man bald auf uniiberwindliche Schwierigkeiten stoBen. Man wtirde den mannigfaltigen Erscheinungen nicht gerecht werden konnen. Zum Schlusse mag ausdrucklich betont werden, daB der letzte Teil dieses Abschnittes nur Mo'glichkeiten zeigen sollte, 134 VI. Der K5rper. nicht aber schon Hypothesen geben will. Wir hielten nur fest, dafi eine Aufienwelt existiert, und dafi ihre Existenz im Qualitat- Sein besteht, Qualitat in dem Sinne, in dem wir die gegebenen Bewufitseinsinhalte Qualitaten zu nennen pflegen; ferner, dafi den Ortsunterschieden in unseren Sinnesraumen Unterschiede in der Aufienwelt entsprechen, die wir in einem weiteren Sinne als raumlich bezeichnen diirfen; schliefilich, dafi die Aufienwelt sich uns darstellen mufi als eine KOrperwelt, auf die wir den Substanz- begriff in der angedeuteten engeren Fassung anzuwenden wohl berechtigt sein durften. Dagegen mufiten wir diesen Begriff ablehnen, wenn er etwas darstellen sollte, was selbst nicht Quali- tat ware. VII. Motive zur Bildung mechanischer Hypothesen: die mechanische Theorie des Schalles. Wir haben bisher nur die abstrakte MOglichkeit mechanischer Hypothesen demonstriert. Wir haben gesehen, daB unsere ver- schiedenartigen Empfindungen, sowie die Wirkungen der KOrper aufeinander vielleicht zum Teil zuriickgefuhrt werden kOnnen auf mechanische Vorgange, die sich an den Kb'rpern abspielen. Wir erkannten, daB die Annahme solcher Vorgange als Antezedenzien zu Empfindungen und physischen Wirkungen mit der Regelmafiig- keitsvoraussetzung vereinbar ist. Daneben sind, wie wir ausfiihrten, andere Annahmen m6g- lich, vor allem die, welche unsere Sinnesempfindungen und eben- so andere Wirkungen zuruckfuhrt auf Qualitaten, die jene hervor- rufen. Auch diese Annahmen sind geeignet, die allgemeine RegelmaBigkeitsvoraussetzung zu befriedigen. Es kann kein Zweifel daruber bestehen, daB die letztere An- nahme zunachst naher liegt als mechanische Hypothesen. Sie entfernt sich weniger weit von der naiven Auffassung, von der wir in der individuellen Entwicklung ausgehen und von welcher die Wissenschaft ausgegangen ist. Wenn es unmOglich erscheint, daB die Rose in der AuBenwelt immer so rot ist, wie die Rot- empfindung in der Wahrnehmung der Rose, weil diese Rot- empfindung mit der Beleuchtung usw. sich andert, so bleibt es immer noch mo'glich, daB auch in der Aufienwelt die Rose rot ist, wenn auch nicht so rot, wie irgendeine der Rotempfindungen in der Wahrnehmung der Rose. Den verschiedenen Nuancen der Rotempfindung lage in der AuBenwelt ein Rot, also eine Qualitat in unserem Sinne, zugrunde. In die so skizzierte Auffassung geht die naive Anschauung unmerklich und vielfach uber. Auch die beschreibenden Natur- wissenschaften, Zoologie, Botanik, Mineralogie usw. pflegen sich 136 VII. Motive zur Bildung mechanischer Hppothesen usw. auf diesen Standpunkt zu stellen — natiirlich mit dem Bewufit- sein seiner Unzulanglichkeit. Aber auch wenn man auf Grund der Erkenntnis von der synthetischen Natur des Kausalzusammenhanges die Annahme ablehnen zu miissen glaubt, dafi den Nuancen der Rotempfindung eine Rotqualitat in der Aufienwelt zugrunde liege, wird man geneigt sein, das zugrunde liegende in einer Qualitat zu suchen, nicht aber in einem Bewegungsvorgange, der sich an Qualitaten abspielt. Es miissen daher Motive auffindbar sein, die jenen naher liegenden Aufassungen gegenuber zur Bildung mechanischer Hypothesen treiben. Wir finden solche Motive leicht in einfachen Erfahrungen. Diese Erfahrungen miissen aber, um in der in Frage kommenden Weise wirken zu kOnnen, zweierlei Art sein. Erstens mufi sich zeigen, dafi es Bewegungen gibt, die als solche nicht wahrgenommen werden, vielleicht gar nicht wahrgenommen werden konnen. Zweitens mufi die Erfahrung lehren, dafi Bewegungs- vorgange Empfindungsqualitaten unter Umstanden hervorrufen kOnnen, Wahrnehmungen also, die ganz verschieden sind von der Wahrnehmung von Bewegungen. Wenn die Aufienwelt, wie wir angenommen haben, eine vom Wahrgenommenwerden unabhangige Existenz hat und wenn es in der Aufienwelt iiberhaupt Bewegungsvorgange gibt, was wir ebenfalls, allerdings in einem iibertragenen Sinne, anerkennen zu miissen glaubten, so hat die Annahme nicht wahrgenommener Bewegungen keine prinzipiellen Schwierigkeiten. Besonders wichtig ist fur uns die Frage, ob es Bewegungen gibt, die als solche nicht wahrgenommen werden, weil sie zu schnell sind oder zu klein. Haben wir solche Bewegungen anzuerkennen, und ergibt sich ferner, dafi Bewegungen Wahrnehmungsqualitaten hervorbringen konnen, die nichts von Ortsveranderung in sich tragen, so erhalt der Gedanke, alle Sinnesqualitaten auf solche nicht wahrgenommenen Bewegungen zuriickzufiihren, eine greif- bare Gestalt. Erfahrungen, aus denen wir induktiv oder durch Analogic die Existenz nicht wahrnehmbarer Bewegungen von zu grofier Schnelligkeit oder zu kleiner Bahn erschliefien, sind leicht zu finden. Wir wollen unserer Betrachtung von vorneherein VII. Motive zur Bildung mechanischer Hypothesen usw. 137 Schwingungsbewegungen zugrunde legen, weil diese von gro'fiter Bedeutung sind. Stellen wir uns eine altere Form einer soge- nannten Sirene, wie sie zu Savarts Zeiten bei akustischen Ver- suchen Verwendung fand, einmal vor. Sie besteht aus einem Kartonblatt und einem Zahnrade, die so angebracht sind, daB die Zahne des Rades den Rand des Kartons bei der Drehung streifen und eine kurze Strecke mitnehmen. Jeder Zahn trifft den Rand des Papiers, nimmt ihn eine kurze Strecke weit mit und lafit ihn dann fahren. Das Papier bewegt sich darauf infolge seiner Elastizitat zuriick. Es wird vom folgenden Zahn gefafit und das Spiel beginnt von neuem. Unser Kartonblatt macht also bei der Rotation des Zahnrades Schwingungen, und zwar von ver- schiedener Geschwindigkeit, je nach der Zahnezahl und Rotations- geschwindigkeit des Zahnrades. Das ist zunachst fiir uns der Zweck des Apparates. Erfolgen die Schwingungen langsam, so ko'nnen wir den Bewegungsvorgang mit dem Auge und mit der Hand verfolgen; wir sind imstande, die Bewegung als Bewegung wahrzunehmen. Drehen wir das Zahnrad aber schneller und schneller, so kommen wir bald zu einer Geschwindigkeit, bei der wir keine Bewegung des Kartons mehr wahrnehmen. Anstatt des bewegten Karton- blattes sehen wir ein durchscheinendes Gebilde, welches an der Befestigungsstelle in das Kartonblatt ubergeht, an der von den Za'hnen getroffenen Kante aber eine die des Kartons bedeutend ubertreffende Dicke hat. An Stelle des Blattes sehen wir so- zusagen einen Keil. In der einen Richtung, senkrecht zum Blatte, erscheint der Keil undurchsichtig, in der einen der dazu senk- rechten, parallel zur Achse des Zahnrades, aber ist der Keil durch- •sichtig, und zwar am durchsichtigsten an der Mitte der Basis, weniger an den grofien Begrenzungsflachen. Die Gesichtswahrnehmung ist demnach eine total andere geworden. Von einem Sehen der Bewegung ist nicht mehr die Rede; an Stelle des bewegten Blattes sehen wir einen ruhenden Keil. Nicht minder hat sich die Tastwahrnehmung geandert. Wahrend wir bei geringerer Umdrehungsgeschwindigkeit die einzelnen Bewegungen Oder die einzelnen Stofie fiihlen konnten, haben wir nun die Empfindung eines eigentiimlichen, aber kon- stanten Druckes, wenn wir den Finger in passende Lage bringen. 138 VII. Motive zur Bildung mechanischer Hypothesen usw. Unsere Wahrnehmung dessen, was sich dabei in der Aufien- welt abspielt, hat sich auf das wesentlichste geandert. Und doch sind alle, die eine Aufienwelt mit uns anerkennen, dariiber einig, dafi sich der zugrunde liegende Aufienweltsprozefi nur sehr wenig geandert habe, dafi die Bewegung, obwohl wir sie als solche nicht mehr wahrnehmen, andauert und allein ihre Geschwindig- keit grofier geworden ist. Diese Oberzeugung bildet sich das naive Denken gegeniiber dem Zeugnis der Sinne. Die wissenschaftlichen Bestrebungen der altesten griechischen Denker fiihren zu einer Formulierung derselben: die Sinne seien schlechte Zeugen. Was sie unserem Erkennen bieten, ist nur ein Schein, hinter dem das Seiende, wie es an sich ist, zu suchen bleibt, eine Aufgabe, die dem Denken im engeren Sinne, dem Verstande zugewiesen wird. Die natur- wissenschaftliche Forschung hat nichts getan, als diese Ober- zeugung genauer gefafit und weiter ausgedehnt. Waren die Empfindungen und ihre Komplexe allein Gegen- stand der Naturwissenschaft, nicht aber eine Aufienwelt, so hatte die obige so fest eingewurzelte Auffassung keinen Sinn. Sie ware giinstigstenfalls als Fiktion anzuerkennen, nicht aber als eine Erkenntnis von Wirklichem. Der schwingende Papierkarton hatte sich in jenen ruhenden keilfOrmigen KOrper verwandelt. Denn fur meine Empfindung hat sich diese Umwandlung voll- zogen; auch habe ich Grund anzunehmen, dafi das gleiche fin* alle Menschen und Tiere geschehen ist. Gibt es keine Aufien- welt, keine korperlichen Dinge hinter den Empfindungen, sind vielmehr die Empfindungskomplexe selbst die Ko'rper, so findet die Bewegung des Kartonblattes in der Tat nicht mehr statt, wenn sie nicht mehr fur unsere Empfindung existiert. Die Fort- dauer der schwingenden Bewegung zu leugnen, ware nichts als die Konsequenz des Machschen Empfindungsmonismus, aller rein konszientionalistischen Richtungen. Ostwald mtifite kon- sequenterweise sagen, bei langsamer Rotation des Zahnrades verwandele sich ein Teil seiner Bewegungsenergie in Bewegungs- energie des Kartons, bei schnellerer Drehung dagegen nicht mehr; dafiir trete dann aber Volumenergie auf, die wir bei geeigneter Stellung unserer Finger als Druck empfanden — genau wie die Volumenergie eines festen Ko'rpers. VII. Motive zur Bildung mechanischer Hppothesen usw. 139 Wenn die phanomenalistisch und energetisch gesinnten Php- siker demgegeniiber an der schon dem naiven Menschen gelaufigen Deutung festhalten, eine Fortdauer der Schwingungsbewegung behaupten, auch wenn die Schwingungen zu schnell erfolgen, um sichtbar zu sein, so zeigt das eben, dafi starke Motive auf der Seite dieser Uberzeugung stehen. Zu diesen Motiven sind alle jene Erfahrungen zu zahlen, die wir im weitesten Sinne als Sinnestauschungen zu bezeichnen pflegen. Im vorliegenden Falle kommen besonders die Nach- wirkungen der Reize in Betracht. Ich betrachte einen kontinuier- lichen elektrischen Funkenstrom; diesen Funkenstrom kann ich durch einen Ausschalter im Momente unterbrechen. Meine Licht- empfindung dauert noch einen Augenblick fort. Erfahrungen, z. B. akustische, zwingen mien anzunehmen, dafi das Funkenspiel im Momente der Unterbrechung aufhOrt. Ich mufi also annehmen, dafi das Wahrnehmungsbild des Funkens noch kurze Zeit an- dauert, wenn das dem Funken in der Aufienwelt Entsprechende aufgehOrt hat zu existieren. Auf Grund dieser Erfahrungstatsache der Nachwirkungen ergibt sich von selbst, dafi Reize, die hinreichend schnell auf- einander folgen, nicht unterscheidbare Empfindungen hervorrufen kOnnen, dafi sie vielmehr ein Verschmelzungsprodukt in der Wahrnehmung liefern miissen. Genauere Erfahrungen zeigen, dafi solche Verschmelzungen ebenso fur den Tastsinn, wie fur den Gesichtssinn in Betracht kommen. Wir wollen uns nun einmal das Zahnrad wieder in Drehung gesetzt denken. Wir beginnen mit einer geringen Geschwindig- keit und sehen die Schwingungen des Kartons. Wir beschleunigen die Rotation und sehen, wie die Schwingungen schneller werden. Wir blicken wahrend der Beschleunigung der Bewegung fur einen Augenblick nicht nach dem Karton hin und sehen nachher, dafi immer noch die Bewegung fortdauert. Jetzt wollen wir einmal langere Zeit nicht nach unserem Karton sehen, dabei aber die Beschleunigung fortschreiten lassen. Hatten wir die Erfahrung noch nicht gemacht, dafi bei geniigender Geschwindigkeit die Bewegung des Kartons unsichtbar wird, kennten wir ebensowenig die Tatsache der Nachwirkungen von Reizen, so wiirden wir nach induktiven Prinzipien schliefien miissen, dafi inzwischen 140 VII. Motive zur Blldung mechanischer Hppothesen usw. auch die Bewegung des Kartons schneller geworden ist und daB wir diese schnellere Bewegung beim Hinsehen als solche wahrnehmen wiirden. Blickten wir nun tatsachlich bin, so wiirden wir gewahr, daB der zweite Teil unseres Schlusses uns irregefuhrt hatte. Wir sahen nicht das Kartonblatt in schnellerer Bewegung, sondern jenen Keil. WtiBten wir nun nichts von Nachwirkungen, so konnten wir vielleicht auch am ersten Teil unseres Schlusses irre werden. Scheinbar standen sich zwei induktive Schlusse gegeniiber. Auf der einen Seite schlOssen wir induktiv auf die Fortdauer der nur beschleunigten Schwingungsbewegungen in der Aufienwelt. Auf der anderen Seite wurden wir aus der Wahrnehmung jenes ruhenden Keiles auf einen diesem in der Aufienwelt zugrunde liegenden ruhenden JKorper zu schliefien geneigt sein. Unsere Erfahrungen tiber Sinnestauschungen, im besonderen ttber die Nachwirkung von Reizen, sind geeignet, die Entscheidung zu bringen, wenn beide Schlusse sich die Wage halten sollten. Der erste, der die Fortdauer der Bewegung in der Aufienwelt fordert, bleibt intakt; dagegen wird der zweite hinfallig. Wir ko'nnen nicht aus der Wahrnehmung des ruhenden Keiles auf einen entsprechend ruhenden KOrper in der Aufienwelt schliefien. Vielmehr versteht sich von selbst, daB die in der AuBenwelt er- folgenden Schwingungsbewegungen als solche nicht mehr wahr- genommen werden k6nnen, wenn die Geschwindigkeit einen gewissen Grad uberschritten hat, daB sich vielmehr in der Wahr- nehmung ein Verschmelzungsprodukt von der Art jenes Keiles bilden muB. Der SchluB auf die Fortdauer der lediglich beschleunigten Bewegung des Kartonblattes bleibt also trotz der Wahrnehmung bestehen. Wir haben demnach anzuerkennen, daB es Bewegungen gibt, die als solche nicht mehr wahrgenommen werden, weil sie zu schnell erfolgen. Die gewonnene Oberzeugung kann noch in mannigfacher Weise gestutzt werden. Wir ko'nnen z. B. zeigen, dafi der schein- bare Keil auf leichte Korkstiickchen, die auf ihn geworfen werden, eine AbstoBung ausiibt, wie ein sichtbar vibrierender Karton, nur heftiger, entsprechend der vorauszusetzenden groBeren Geschwin^ digkeit. Wir ko'nnen ferner durch geeignete Kopfbewegungen VII. Motive zur Bildung mechanischer Hypothesen usw. 141 die Schwingungsbewegungen wieder sichtbar machen, wenn sie schon fur die gewohnliche Wahrnehmung verschmelzen zu dem keilfo"rmigen Gebilde. Dasselbe konnen wir mit der bei physi- kalischen Demonstrationen vielbenutzten stroboskopischen Scheibe — einer mit Kreisen von LOchern versehenen rotierenden Scheibe — oder mit der Beleuchtung durch einen intermittierenden Funken eines elektrischen Induktoriums erreichen. Wenn dem Keile also in der Aufienwelt uberhaupt etwas entspricht, so wird es ein bewegter Kb'rper sein, nicht aber ein ruhender. Wir haben vornehmlich die Gesichtswahrnehmung des schnell schwingenden Kartons in Betracht gezogen. Fur die Tastwahr- nehmung gelten wesentlich gleichartige Oberlegungen. Auch dort verschmilzt die Wahrnehmung der einzelnen Schwingungs- bewegungen oder der Sto'fie zu der Wahrnehmung eines kon- tinuierlichen Druckes. Empfinden wir diesen Druck als konstant und ftihren wir ihn auf die unwahrnehmbar schnellen Sto'fie zuruck, so bilden wir eine Hypothese, die im Prinzip mit der kinetischen Gastheorie auf durchaus gleicher Stufe steht. In beiden Fallen wird ein konstanter Druck zuruckgefuhrt auf eine schnelle Folge einzelner Sto'fie. Naturlich kann man die kinetische Gastheorie weniger wahrscheinlich finden, vielleicht sehr viel unwahrschein- licher. Aber prinzipielle Bedenken miifiten beide Annahmen in gleicher Weise treffen. Mit prinzipiellen Bedenken haben wir es hier allein zu tun; spezielle Einwande sind Gegenstande physi- kalischer Untersuchung. Wir wollten diese Bemerkung nur im Vorubergehen machen. Vorderhand ist es uns wichtiger, Bewegungen gefunden zu haben, die zu schnell sind, um wahrgenommen zu werden, d. h. um als Bewegungen wahrgenommen zu werden. Wir wollten ferner zeigen, dafi es Bewegungen gibt, die zu klein sind, um wahrgenommen zu werden. Wir wahlen wieder eine Schwingungsbewegung, etwa die eines Pendels. Infolge der unvermeidlichen Reibung wird die Schwingung kleiner und kleiner, schliefilich sehen wir sie uber- haupt nicht mehr. Aber wir sind unter Umstanden iiberzeugt, dafi die Schwingung noch fortdauert, wahrend fur unsere Wahr- nehmung das Pendel schon ruht. 142 VII. Motive zur Bildung mechanischer Hypothesen usw. Wir hatten wieder zu untersuchen, wie wir zu dieser Uber- zeugung kommen, die zu unserer Wahrnehmung im Gegensatze steht. Wir finden, daB die Grunde wesentlich denen entsprechend sind, die wir oben, bei der unwahrnehmbar schnellen Bewegung kennen lernten. Wir finden induktiv — wenn auch deduktive Ableitungen bei dem Beweise des Satzes eine groBe Rolle spielen — , daB die Abnahme der Geschwindigkeit nach einem bestimmten Gesetze erfolgt, und wir sind uberzeugt, dafi dies Gesetz noch weiter gilt, wenn bereits keine Bewegung mehr sichtbar ist, daB also die von dem Gesetze geforderten kleinen Bewegungen existieren, obwohl wir sie nicht wahrnehmen. Die Sinne gelten uns wieder als ungeniigende, ja triigende Zeugen der Vorgange in der AuBenwelt. Wir ziehen vielleicht jene Er- fahrungen heran, die die Existenz einer Raumschwelle sichern, die zeigen, daB ein Raumunterschied eine gewisse GroBe uber- schreiten muB, urn wahrnehmbar zu werden, daB also auch die Amplitude der Schwingung diese GroBe erreichen bezw. iiber- schreiten muB, wenn eine Pendelbewegung wahrgenommen werden soil. Wie wir die fur die gewohnliche Wahrnehmung zu schnellen Schwingungen durch geeignete Kopfbewegungen, durch die Anwendung der stroboskopischen Scheibe usw. noch unter Um- standen sichtbar machen konnten, so ko'nnen wir in manchen Fallen auch die zu kleinen Bewegungen sichtbar machen durch Anwendung des Mikroskopes und durch allerhand andere Wir- kungen kleiner Bewegungen. Durch solche Erfahrungen wird die Existenz unwahrnehmbar kleiner Bewegungen dargetan. Wir haben schon gesehen, wie durch hinreichend schnelle Bewegungen Wahrnehmungen zustande gebracht werden ko'nnen, die nichts von Bewegung in sich tragen, wie z. B. die Wahr- nehmungen des oben geschilderten Keiles und des konstanten Druckes infolge der schnellen Vibrationen des Kartons. Damit ist uns schon die M5glichkeit gewisser mechanischer Hypothesen, wie der kinetischen Gastheorie, na'her gebracht. Indessen setzten die typischen mechanischen Hypothesen, wie z. B. die mechanische Warmetheorie, mehr voraus. Sie nehmen an, daB durch die Bewegungsvorgange Empfindungsqualitaten in uns hervorgerufen werden konnen, die mit den Qualita'ten gar nichts zu tun haben, VII. Motive zur Bildung mechanischer Hppothesen usw. 143 welche das Bewegte hervorrufen wttrde, wenn es nicht in Bewe- gung ware. Druckempfindungen kann auch das ruhende Karton- blatt erzeugen, ebenso Farbenempfindungen, wenn auch diese Empfindungen anders sind als die durch das hinreichend schnell vibrierende Blatt hervorgerufenen. Wir miissen nun also die schon oben als fur die mechanischen Hppothesen in ihrer Gesamtheit entscheidend aufgestellte Frage untersuchen: Gibt es Bewegungen, die solche ganz anders- artigen Sinnesqualitaten hervorrufen, welche weder etwas mit den Sinnesqualitaten des bewegten Korpers, noch mit der Bewegung ihrem Inhalte nach irgendetwas zu tun haben? Diese Frage ist in bejahendem Sinne zu beantworten. Wir vernehmen bei hinreichend schneller Bewegung der Zahnsirene einen Ton. Das ruhende Kartonblatt t6nt nicht, das in geeignete Schwingung versetzte dagegen wohl. Bei der Schwingungs- bewegung tritt also eine ganz neue Sinnesqualitat auf, in der die psychologische Analyse nichts von Bewegung finden kann, und die auch nichts mit den Empfindungen zu tun hat, die das ruhende Kartonblatt auslb'st. Oberall, wo wir akustische Wahr- nehmungen haben, lassen sich entsprechende Schwingungsbewe- gungen nachweisen. Als unbedingt regelmafiiges Antezedens eines Tones finden wir also eine Schwingungsbewegung. Durch diese Erfahrungstatsache ist die zweite prinzipielle Frage zu- gunsten der mechanischen Hypothesenbildung entschieden. Einer Sinnesqualitat liegt ein Bewegungsvorgang zugrunde. Wir brauchen demnach nicht anzunehmen, dafi dem tOnenden Korper in der Aufienwelt eine besondere Qualitat zukomme, solange er tftnt, eine Qualitat, die dem nicht tCnenden Ko'rper fehlt. Wir finden ein Antezedens, das die Regelmafiigkeitsvoraussetzung befriedigt, in dem Bewegungszustande des tonenden KOrpers. Damit kann sich die Naturwissenschaft begniigen. Damit ist natiirlich nicht dariiber entschieden, ob in der Aufienwelt dem tOnenden KOrper wahrend der Schwingung eine besondere Qualitat iiberdies zukommt oder nicht. Andere Grtinde konnten mGglicherweise zu finden sein, die das wahrscheinlich machten, die vielleicht darauf hindeuteten, dafi der schwingende Korper auch in der Aufienwelt t6nt, der Lichtstrahl auch in der Aufienwelt leuchtet. Ansichten, wie sie Fechner entwickelt 144 VII. Motive zur Bildung mechanischer Hypothesen usw. und als Tagesansicht der Nachtansicht der gewShnlichen natur- wissenschaftlichen und philosophischen Auffassung der Aufien- welt gegenubergestellt hat, mo"gen zu Recht bestehen. Um diese Frage zu untersuchen, miifiten ganz andere Erfahrungen heran- gezogen werden, psychophysische Erfahrungen, von denen der Physiker, sei es gewohnheitsmafiig, sei es mit vollem Bewufitsein, absieht. Weil aber der Phpsiker diese Abstraktion vollzieht, ein weites Erfahrungsgebiet auBer Betracht lafit fiir seine Schliisse, darf er auch nicht die Vollstandigkeit seiner Resultate behaupten. Mit vollem Rechte sagt er, dafi den Schallwahrnehmungen Schwingungsbewegungen in der Aufienwelt entsprechen, aber er wiirde sich ins Unrecht setzen, wenn er positiv behauptete, dafi nur Schwingungsbewegungen, nicht vielleicht noch mehr, diesen unseren Empfindungen auBerhalb des BewuBtseins ent- sprachen. Die Erfahrungen, die er beriicksichtigt, notigen auf Grund der Regelma'Bigkeitsvoraussetzung immer die einem Ton entsprechenden Schwingungsbewegungen vorauszusetzen, und sie notigen zu nichts weiter; die nicht beriicksichtigten Erfah- rungen mo"gen weitere Annahmen nb'tig machen. Es ist zweifel- los, dafi die Tendenz vorliegt, solche Uberlegungen aufier acht zu lassen, in den Bewegungsvorgangen und den Existenzen — Qualitaten nach unserer Annahme — , an denen sie sich abspielen, das Einzige zu sehen, was in der Aufienwelt, d. h. aufierhalb von Menschen- und Tierbewufitsein, sich findet. Darauf beruht die Abneigung gegen panpsychistische Hypothesen, die in der Naturwissenschaft herrscht. Ob derartige weitergehende Annahmen erforderlich sind, soil an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden; es geniigt, wenn gezeigt wurde, dafi sie den mechanistischen Annahmen nicht widersprechen. Hier soil in erster Linie die Berechtigung mechanischer Hypothesen dargetan werden; die Gefahr, diese falsch, etwa zu engherzig zu deuten, soil nicht geleugnet werden. Wir wollen uns nun einmal auf einen Standpunkt zurtick- versetzt denken, auf dem die Mittel fehlen, die schnellen Vibra- tionen sichtbar zu machen, die hohen T6nen zugrunde liegen. Denken wir uns also, die Wahrnehmung zeigte uns, dafi tiefen Tonen Schwingungsbewegungen entsprechen, dafi diese Schwin- gungsbewegungen schneller werden miissen, wenn der Ton hOher VII. Motive zur Bildung mechanischer Hypothesen usw. 145 werden soil; dagegen mogen bei den ungeniigenden experimen- tellen Mitteln keine den hohen Tonen entsprechenden Schwingungen nachweisbar sein. Nun wiirde der Naturwissenschaftler einen AnalogieschluB vollziehen und auch den ho'heren TOnen ent- sprechende Schwingungen von grOfierer Schwingungszahl an- nehmen. Dann batten wir eine mechanische Hypothese der hohen Tone. Sie ware im Prinzip nicht anders gewonnen, wie Huyghens Undulationstheorie des Lichtes. Wir sind alle auf Grund der exaktesten Erfahrungen sicher, dafi unser Naturwissenschaftler mit seiner mechanischen Hppothese hoher Tone die Wahrheit getroffen hatte. Und doch ha'tte ihm ein radikaler Feind aller Hypothesenbildung sein Verfahren ver- bieten miissen. Ob unsere Vertreter einer hypothesenfreien Natur- forschung nicht in manchen Punkten sich in ahnlicher Lage befinden, wie jener fingierte Hppothesengegner? EinEnergetiker OstwaldscherRichtung miifite eine besondere akustische Energieform, eine Energie hoher TGne neben der Energie der Schwingungen annehmen, die einem tieftonenden Kb'rper zukommt. Dieselben Einwande, die gegen die mechanische Natur der Warmeenergie ins Feld gefuhrt werden, miifiten im Prinzip auch die Hypothese der mechanischen Natur der Energie hoher Tone treffen; wollen wir ihre Berechtigung bei der letzteren nicht anerkennen, so miissen wir das Prinzip jener Bedenken iiberhaupt ablehnen, mOgen auch andere Schwierigkeiten vielleicht bei der mechanischen Warmetheorie hinzukommen. Hhppothesengegner wie Comte wurden naturlich sich ver- teidigen und erwidern, die mechanische Hypothese hoher Tone sei ihrer Natur nach verifizierbar, besser eines Beweises fahig, was von anderen mechanischen Hypothesen nicht gelte. Wir haben schon im Kapitel uber Hppothesenbildung demgegenuber die Unzulanglichkeit dieses Gesichtspunktes betont. Wer konnte unserem Physiker sagen, dafi die mechanische Hypothese hoher Tone ihrer Natur nach eines Beweises fahig sei, wenn er absolut keine Mittel und Wege sieht, diesen Beweis zu liefern, die angenommenen Bewegungen etwa direkt wahrnehmbar zu machen. Und wer will uns heute sagen, dafi irgendeine mechanische Hypothese ihrer Natur nach unbeweisbar sei, ewig Hypothese bleiben miisse, mag auch nicht die blofie Moglichkeit eines Weges Becher, Philosoph. Voraussetzungen. 10 146 VII. Motive zur Bildung mechanischer Hppothesen usw. vorderhand erkennbar sein, der zu einem Beweise fiihren kOnnte? Wir befinden uns anderen mechanischen Hypothesen in wesentlich gleicher Situation, wie unser fingierter Physiker seiner mechanischen Hypothese hoher To'ne gegenuber. Vielleicht will jemand einen entscheidenden Unterschied darinnen finden, dafi die hohen TOne durch kontinuierlichen Obergang mit den tiefen verbunden sind, daB daher die mecha- nische Hypothese fur die hohen T5ne sich von selbst versteht, wenn fiir die tiefen TOne die zugrunde liegenden Schwingungen erwiesen werden kOnnen. Bei den anderen mechanischen Hypo- thesen sei ein soldier kontinuierlicher Obergang zu Fallen, in denen die Hypothese zur bewiesenen Wahrheit werde, nicht vorhanden. Der Unterschied ist natiirlich anzuerkennen und nicht un- wesentlich, da er selbstverstandlich sehr zugunsten der mecha- nischen Hypothese hoher Tone spricht. Dieser kommt daher eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit zu. Aber prinzipiell ist der Unterschied nicht. Bei der mechanischen Hppothese hoher Tone, von der unser fingierter Physiker sprechen miifite, wird genau wie bei der mechanischen Warmehypothese die Annahme nicht wahrnehmbarer Bewegungen gemacht, die einer Sinnesqualitat zugrunde liegen; einer Sinnesqualitat, die mit den Sinnesempfin- dungen nichts zu tun hat, welche der unbewegte Gegenstand der Schwingungen hervorrufen wiirde. Jener kontinuierliche Ober- gang kommt dann im einen Falle hinzu und erhoht die Wahr- scheinlichkeit der Hypothese. Wir haben es aber in unserer Macht, unsere Fiktion so zu gestalten, dafi der ganze Unterschied fortfallt. Wir brauchen nur einmal den Fall zu setzen, Tone mittlerer Ho" he gabe es nicht oder sie waren nicht wahrnehmbar, etwa weil das betreffende Stuck des Cortischen Organes beim Menschen fehlte oder nicht ausgebildet ware. Dann ware jener Obergang nicht vorhanden. Und doch kOnnte unser fingierter Physiker, gestiitzt auf die Analogic der Erscheinungen, wie Reflexion, Brechung, vor allem Interferenz usw. seine mechanische Hypothese hoher Tone aus- bilden, wie Hupghens und seine Nachfolger die Undulations- hppothese des Lichtes ausbildeten. Seine Erkenntnis wiirde deshalb nicht weniger erfreulich und die Ablehnung seiner Hypo- these nicht weniger bedauerlich sein. VII. Motive zur Bildung mechanischer Hypothesen usw. 147 Wir haben bisher von der mechanischen Hypothese der hohen Tone gesprochen, als ob es sich urn etwas handele, was wir nur zum Zwecke unserer Betrachtungen als Hypothese behan- delt batten (indem wir ungiinstige Umstande, mangelhafte experi- mentelle Hilfsmittel annahmen), was dagegen beim gegenwartigen Stande der Forschung nicht Hypothese, sondern bewiesene Wahr- heit sei. Genau genommen liegen die Dinge nicht ganz so gunstig; genau genommen ist unsere mechanische Auffassung aller TOne, auch der hOchsten, in der Tat eine Hypothese. Die Akustiker haben es nie als notwendig empfunden, die Schwingungen wahrnehmbar zu machen, die den hOchsten T6nen entsprechen, 30000 bis 60000 Schwingungen pro Sekunde; auch wiirde die Sache nicht ganz einfach sein. Sie haben das Zugrunde- liegen und die Dauer dieser Schwingungsbewegungen nur aus Wirkungen hypothetisch erschlossen. Wir haben also in der Tat eine mechanische Hypothese der hochsten Tone, streng genommen aller der Schallnuancen, fur die das Zugrundeliegen von Schwingungsbewegungen noch nicht bewiesen wurde. Und das ist bei der iiberwiegenden Mehrzahl der Schallnuancen nicht geschehen, weil die Wahrscheinlichkeit so grofi war, dafi der Nachweis als uberflussig erscheinen mufite. Der strenge Hypothesengegner darf es also nicht zugeben, dafi alien, auch den hftchsten TOnen Schwingungsbewegungen in der Aufienwelt entsprechen. Wer in alien Hypothesen nur Bilder, Fiktionen sehen will, was eine Reihe von Physikern jetzt zu wollen vorgibt, der mufi auch in den Schwingungen, die den hSchsten To"nen entsprechen, lediglich Fiktionen, Bilder sehen, die der Wirklichkeit nicht zu entsprechen brauchen. Wer aber, wie Ostwald auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Arzte zu Liibeck, die Maxime aufstellt: ,,Du sollst Dir kein Bildnis oder ein Gleichnis machen", der darf vorderhand nicht sagen, dafi den Tonen Schwingungsbewegungen entsprechen. Er mufi die Vorstellung von Schwingungen fur die hOchsten Tone konsequenterweise ablehnen und eine neue akustische Energieform fur diese erfinden, wenn er Energetiker ist. Wenn diese Physiker nicht geneigt sind, solche Konsequenzen zu ziehen, wenn sie vielmehr wie ihre hypothesenfreundlicheren Fachgenossen alle Schallarten auf Bewegungen zuriickfuhren, 10* 148 VII. Motive zur Bildung mechanischer Hypothesen usw. so zeigt das, daB es Hypothesen von so schlagender Wahr- scheinlichkeit gibt, daB sich niemand ihnen entziehen kann. Die Angriffe auf die Hypothesen sind daher meist nicht so prinzipiell zu nehmen, wie sie dem Wortlaut nach genommen werden mufiten; der Kritiker hat meist spezielle Hypothesen im Sinn, gegen die sich seine Bedenken richten, die er nur als Fiktionen, Bilder betrachtet wissen oder ganz beseitigt sehen will. Indessen steckt in solchen Angriffen die Gefahr voreiliger Verallgemeinerung, und diese zu zeigen ist der Zweck dieser Zeilen. Wir sehen, daB wir nicht alle mechanischen Hypothesen fur Fiktionen erklaren oder abschaffen ko'nnen, ohne uns dazu zu versteigen, fiir sehr hohe T6ne die Schwingungstheorie des Schalles abzulehnen. Will man diese festhalten, so kann man keine prinzipiellen Bedenken gegen die mechanischen Hypothesen in der Physik haben, mag man dieser und jener mechanischen Hypothese noch so skeptisch gegenuberstehen. Wenn es notwendig sein sollte, so ko'nnten wir fiir unsere Betrachtungen weiteres Erfahrungsmaterial heranziehen, um zu zeigen, dafi es mechanische Hypothesen gibt, die durch ihre hohe Wahrscheinlichkeit sich die Anerkennung der Hypothesen- feinde erworben haben. Wir konnten auf die Fortpflanzung der Schallwellen durch die Luft eingehen, zeigen, wie die Annahme der longitudinalen Luftwellen beim Schalle eine mechanische Hypothese war, die mehr und mehr verifiziert wurde, die uns jetzt zur Gewifiheit geworden ist, indem die Verdichtungen und Verdiinnungen der Luft durch To' piers Schlierenapparat z. B. geradezu sichtbar werden. Und doch war die Annahme dieser Fortpflanzungsart einst ebensogut hypothetisch wie die Undulationstheorie des Lichtes. Wie die Annahme des Athers, mag sie in dieser oder jener Form berechtigt sein oder nicht, war auch einst die Annahme der Luft hypothetisch. Dem tiefstehenden Menschen, dem Kinde, ist der lufterfullte Raum ein leerer Raum, wie jetzt der nach physikali- schen Annahmen mit Ather gefiillte Raum leer heifit. Als man den Unterschied des Raumes im Rezipienten der Luftpumpe und des Raumes draufien kennen lernte oder Erfahrungen iiber Unter- schiede der Luftdichte oder Luftbewegung machte, hatte man Grund, die Luft vom leeren Raum zu unterscheiden. An ahnlichen VII. Motive zur Bildung mechanischer Hppothesen usw. 149 Erfahrungen hangt die Entscheidung iiber die Atherhppothese. Und wie man jetzt vielleicht befiirchtet, die Undulationen des Athers bei Licht mochten ihrer Natur nach nie bewiesen werden konnen, hatte der Hppothesengegner einst beim Tiefstande experi- menteller Technik meinen ko'nnen, die angenommenen Schwin- gungen der Luft wiirden nie feststellbar sein, weil das Medium zu fein, zu wenig faBbar sei. Wie aber ein kontinuierlicher Ubergang besteht von den langen wahrnehmbaren Undulationen tiefer Tone zu den nie wahr- genommenen der hOchsten, so haben wir auch einen kontinuier- lichen Obergang von den feststellbaren langen Hertzschen Wellen bis zu den Lichtschwingungen. Wenigstens kann der Lucke, die noch zwischen den kurzesten Hertzschen und den langsten Warmewellen immerhin besteht, keine entscheidende Bedeutung beigelegt werden. VIII. Die Diskontinuitat der Materie. Mit den mechanischen Hypothesen der heutigen Physik ist auf das engste die Vorstellung von der molekularen Struktur der Materie verwachsen. Erst durch die Annahme, dafi die schein- bar durch und durch homogene Materie aus einer grofien Zahl unwahrnehmbar kleiner Teilchen diskontinuierlich aufgebaut ist, wird es mOglich, so mannigfaltige Bewegungen sich vorzustellen, wie sie fiir die ausgebildeten mechanischen Hypothesen erforder- lich sind. So ist denn auch die erste umfassende mechanische Natur- und Weltauffassung eine Molekularhypothese: der atomistische Materialismus Leukipps und Demokrits. So sehen wir, wie in der Geschichte der Physik seit der Renaissance mechanische und Molekularhypothesen sich gleichzeitig entwickeln, wie die Ausbildung der einen durch die der anderen bedingt und bestimmt wird, so daB sie zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen sind, in dem die einen nicht ohne die anderen bestehen konnen. Indessen sind mechanische Hypothesen im Prinzip natiirlich nicht an die Annahme einer Diskontinuitat der scheinbar homo- genen Korper, an Molekularhypothesen gebunden. Die mechanische Hypothese sehr hoher TGne ist unabhangig von Vorstellungen iiber den Bau der Materie, ebensogut mit der Annahme einer homogenen wie einer molekularen Struktur der schwingenden KOrper vereinbar. Es mag unsichtbare Bewegungen geben, die Sinnesempfindungen von besonderer Qualitat zugrunde liegen, auch wenn homogen erscheinende K5rper durch und durch homogen sind. Eine Bestatigung dieser prinzipiellen Unabhangigkeit mecha- nischer Hypothesen von Molekulartheorien will man vielleicht in jenen mechanischen Auffassungen finden, die sich den atomisti- schen Hppothesen als Korpuskularhypothesen gegeniiberstellten. VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 151 Doch ware es verfehlt, wenn man die Molekular- und Atom- theorie der heutigen Physik und Chemie den Korpuskularhypo- thesen gegenuber und der alten philosophischen Atomhypothese ohne weiteres zur Seite stellen wollte. Die Molekular- und Atom- theorie der heutigen Naturwissenschaft ist so weit entfernt, zu den kartesianischen Annahmen einer vollstandigen Raumerfullung in einem Gegensatze zu stehen, dafi vielmehr nicht wenige Physiker diese vollstandige Raumerfullung durch einen ganz homogenen Ather annehmen. Mogen auch Descartes Motive der Leugnung eines leeren Raumes, seine Identifizierung der kOrperlichen Sub- stanz mit dem Ausgedehnten, dem Raume, heute ihre Kraft ver- loren haben, die Frage, ob es einen leeren Raum gibt oder nicht, ist noch keineswegs entschieden. Die Annahme eines Athers uberall dort, wo keine schwere Materie sich befindet (ja vielleicht auch dort, wo sie sich befindet, so dafi Ather und ponderable Materie fiireinander nicht undurchdringlich waren), spricht fur die kartesianische Auffassung. Nur fragt es sich, ob dieser Ather, in dem die Atome schwimmen, nicht selbst wieder eine molekulare Struktur hat. Aber auch wenn das der Fall ware1), konnte der Ather aus einer homogenen Grundsubstanz bestehen, in dem etwa uberall ,,Molekiileu aus positiven und negativen Elektronen sich befanden2). Man darf also jedenfalls die heutige Molekular- und Atom- theorie nicht so fassen, dafi sie einen leeren Raum zur Voraus- setzung hat. Die traditionelle philosophische Atomlehre machte diese Voraussetzung, die Korpuskularhypothese machte sie nicht, die heutige Naturwissenschaft und ihre Hypothesen haben die Frage noch keineswegs entschieden. Bei dieser Gelegenheit mag auf einen zweiten wichtigen Unterschied der Molekular- und Atomhppothese der neueren ») Vergl. L. Boltzmann: Populate Schriften, Leipzig 1905. S. 203. (Vortrag: Uber die Entwicklung der Methoden der theor. Physik in neuerer Zeit. Munchner Naturforscherversammlung 1899.) *) Demgegenuber siehe H. A. Lorentz: Sichtbare und unsichtbare Bewegungen, iibers. v. Siebert, Braunschweig 1902, S. 82: wDen Ather dagegen wollen wir nicht mit Elektronen bevOlkern . . ." Doch vergleiche man auch W. Nernst: Uber die Bedeutung elektrischer Methoden und Theorien fur die Chemie. Vortrag. Naturforscherversammlung zu Hamburg. Leipzig, 1901. S. 96-97. 152 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. Physik und Chemie von der philosophischen Atomlehre hin- gewiesen werden. Die alten Atomisten setzten voraus, dafi die Atome einfach, unzersto'rbar, unveranderlich seien, und zwar — das ist das wesentliche - - durchaus in absolutem Sinne, nicht nur relativ. Die heutige Physik ist weit entfernt, diese Behaup- tungen aufrecht zu erhalten. Ihre letzten Bausteine der materiel- len Welt sind nur relativ einfach, relativ unzersto'rbar und un- veranderlich. In Bezug auf viele phpsikalische Einvvirkungen sind die Molekule unteilbar, anderen gegeniiber zerfallen die Molekel in Atome, die ihrerseits heute auch nur als relativ un- veranderlich und einfach gelten diirfen. Nicht ohne Grund wird angenommen, dafi wir im Radium einen Korper vor uns haben, dessen Atome in noch kleinere Einheiten zerfallen. Und wenn jetzt als letzte Teilchen nicht mehr die Atome, sondern die Elektronen vielleicht zu betrachten sind, so ist das wieder nicht in absolutem Sinne zu verstehen, sondern nur so, dafi die bis- herigen Erfahrungen keinen Anlafi bieten, eine weitere Teilbar- keit positiv zu behaupten, wie einst kein Grund vorlag, eine Teilbarkeit der Atome der chemischen Elemente zu fordern. Die Frage, ob es absolut unteilbare letzte Teilchen gibt, kann die Naturwissenschaft offen lassen, sie mufi sie offen lassen, wenn sie nicht iiber das durch die Erfahrung Nahegelegte hinausgehen will. Die Erfahrung kann zeigen, dafi mit den zur Verfugung stehenden Mitteln eine Teilung nicht weiter fortgesetzt werden kann; dafi es iiberhaupt keine Mittel zu einer weiteren Teilung geben kflnne, ist eine Behauptung absoluten Charakters, die einer empiristischen Wissenschaft nicht ansteht. Gewifi kann man bei Physikern und Chemikern Ausdriicke in Menge finden, durch die jene absoluten Pradikate den Atomen zugesprochen werden, besonders wenn sie sich bemiihen, die Anwendung des der philosophischen Terminologie entnommenen Wortes Atom zu rechtfertigen. Aber es kommt nicht darauf an, was dieser oder jener Forscher an dieser oder jener Stelle schreibt, sondern was dem Geiste der heutigen Naturwissenschaft entspricht und was das Wesen ihrer Hypothesen ausmacht. Die Atom- theorie fallt nicht, wenn die Atome zerfallt werden konnen, mag die Bezeichnung Atom oder Unteilbares auch wenig passend sein. Aus der Beschaffenheit eines gefiillten Sackes kann ich VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 153 schlieBen, dafi die Fiillung aus Erbsen besteht, obwohl die Erbsen auch nur ,,relativ unteilbar" sind. Man tut daher den physikalischen Hypothesen Unrecht, wenn man als Punkt 1 aller phpsikalischen Atomhppothesen jene absolute Einfachheit, Unveranderlichkeit und UnzerstOrbarkeit anfiihrt, auf diese Behauptungen seine Kritik richtet und dann mit leichter Mtthe beweist, dafi sie unhaltbar sind '). ') ,,Denn welche Verschiedenheit der Ansichten auch fiber die Form, Gro'Be usw. der Atome vorherrschen mag, so stimmen doch alle, welche die Atomhypothesen in irgendeiner ihrer Formen als physikalische Theorie vor- bringen, in den drei nachfolgenden Sa'tzen miteinander iiberein: 1. Die Atome sind absolut einfach, unveranderlich, unzerstorbar; sie sind physikalisch, wenn nicht mathematisch unteilbar. . ." So charakterisiert Stallo a. a. O., S. 76, die Atome und findet dann S. 82 natiirlich: ,,Aus dem Ganzen sieht man wohl, daB die Giiltigkeit des ersten Satzes der Atomtheorie durch die Tatsachen nicht aufrecht erhalten wird." Es geht doch sehr weit, wenn Stallo behauptet, alle Vertreter der Atomhypothese stimmten in diesem ersten Satze iiberein. Er vergiBt nicht nur, welcher Verbreitung sich einst Prouts Vorstellungen iiber den Aufbau der Atome aller Elemente aus Wasserstoffatomen erfreuten, er beriicksichtigt auch nicht jene Spekulationen, die sich an die RegelmaBigkeiten des periodi- schen Systems anzukniipfen pflegen und die seit einigen Jahrzehnten in jedem Lehrbuch der physikalischen Chemie ihre Stelle finden. Schon 1864 brachte Lothar Meyer, der eine der SchSpfer des periodischen Systems, in seinem Buche: Die modernen Theorien der Chemie und ihre Bedeutung fur die chemische Statik (1. Aufl., Breslau) einen Abschnitt: Natur der Atome: Griinde gegen ihre Einfachheit (S. 135—139). Da heiBt es gleich zu Anfang: ,,Die eigentumlichen regelmSBigen Beziehungen, welche seit lange zwischen den Atomgewichten der verschiedenen Elemente aufgefunden wurden, haben, namentlich in den letzten Jahren, wiederholt die Behandlung der Frage ver- anlaBt, ob nicht unsere Atome selbst wieder Vereinigungen von Atomen hftherer Ordnung, also Atomgruppen Oder Molekel seien. In der Tat hat letztere Ansicht eine auBerordentlich groBe Wahrscheinlichkeit fiir sich, da die Atomgewichte gewisser Gruppen untereinander nahe verwandter Elemente ganz ahnliche Beziehungen untereinander darbieten, wie z. B. die Molekular- gewichte gewisser organischer Verbindungen analoger Konstitution . . ." Diese Uberlegungen sind seither Gemeingut der exakten Naturwissenschaft geworden. Die zahlreichen Besta'tigungen der dem periodischen System zugrunde liegen- den Auffassungen, daneben andere Forschungsergebnisse, wie die tiber Regel- maBigkeiten von Spektrallinien usw. haben immer wieder einen Anreiz geboten, die Frage nach dem Aufbau der Atome zu ventilieren, die vielleicht jetzt beginnt, im Zusammenhang mit der Elektronentheorie einer Beantwortung fShig zu werden. Vergl. z. B. J. J. Thomson: Elektrizita't und Materie. Braunschweig 1904. 154 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. Die Atomhypothese der griechischen Philosophen war da- durch charakterisiert, dafi sie alle qualitativen Unterschiede der kleinsten Teilchen leugnete. Ihre Atome unterschieden sich nur durch GrOfie und Gestalt, nicht durch die Qualitat. Auch in diesem Punkte hat die empiristische Naturwissenschaft keine Ver- anlassung, sich an jene Metaphysik anzuschliefien. Vielmehr war es zunachst durchaus naheliegend, die Unterschiede der Atome der verschiedenen chemischen Elemente als qualitative aufzufassen. Und auch wenn wir statt der 80 bis 100 verschiedenen Atome der entdeckten oder noch zu erwartenden Elemente nur noch positive und negative Elektronen als letzte Teilchen haben werden, kann die Verschiedenheit der Elektronen vielleicht eine qualitative sein. Sollte aber es einmal gelingen, alle Materie als Komplex von gleichen letzten Teilchen einer einzigen Art aufzufassen, so brauchten wir immer noch nicht anzunehmen, dafi diese letzten Teilchen, aus denen etwa auch der Ather aufgebaut ware, aus einer ganz unveranderlichen Qualitat bestanden, dafi es gar keine qualitativen Unterschiede in der Aufienwelt gabe. Vielmehr bliebe es denkbar, dafi diesen letzten Teilchen eine solche Mannigfaltig- keit von Qualitaten innewohnte, wie Leibnizens Monaden, dafi jede Wirkung eines solchen Teilchens von einer Veranderung der Qualitat oder der Qualitaten begleitet ware, aus denen es bestande. Dabei bleibt der Gedanke noch ganz unberucksichtigt, ob die raumlichen Unterschiede in der Aufienwelt vielleicht quali- tative waren. Von alien derartigen Fragen ist der Bestand dessen ganz unabhangig, was das Wesen der naturwissenschaftlichen Atom- und Molekulartheorie ausmacht. Jene Erfahrungsgebiete, die der Physiker und der Chemiker bearbeiten, fordern keine Entscheidung dariiber, ob alle Unterschiede auf solche der raumzeitlichen Ver- haltnisse, der Lage, GrOfie, Bewegung usw. zuriickfuhrbar sind. Was nun der Kern der naturwissenschaftlichen Molekular- und Atomtheorie ist, will ich durch die folgenden Oberlegungen darzutun suchen. Wie wir aber sahen, dafi das Prinzip der mechanischen Hvpothesen an der Beantwortung zweier Fragen hing, so konnen wir auch den Grundgedanken der Molekular- und Atomtheorien, ihre Voraussetzungen auf die Entscheidung zweier Fragen zuriickfuhren. Erstens: Gibt es Griinde, Teilchen, VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 155 KOrper anzunehmen, die nicht wahrgenommen werden, weil sie zu klein sind? Zweitens: Haben wir erfahrungsgemafie Gewifi- heit, dafi aus kleinen Teilchen, die einzeln nicht wahrgenommen werden, Komplexe gebildet werden ko'nnen, die den Eindruck des vollkommen Homogenen machen? Wir werden an einfachen Beispielen sehen, dafi die Fragen bejahend beantwortet werden miissen; damit ist im Prinzip die Mo"glichkeit von Molekular- hypothesen erwiesen. Des weiteren sind dann andere Fragen zu untersuchen, vor allem, wie sich solche nur scheinbar homo- genen KOrper von wirklich homogenen unterscheiden miissen und inwieweit die Eigenschaften der Komplexe von den Eigenschaften der Teilchen, inwieweit sie von der Art ihrer Zusammen- fiigung abhangen, wie also von den beobachteten Eigenschaften der KOrper auf die Art ihres Aufbaues und auf die Eigentumlich- keiten der Bausteine, der Teilchen zu schliefien ist und was ahnliche Fragen mehr sind. Ob die Zwischenraume zwischen den Teilchen leer sind, ob die Teilchen wieder Komplexe sind, inwieweit sie unter- schieden, eventuell qualitativ unterschieden sind, bleibt dabei zu- nachst ganz aufier Betracht. Die Griinde, die uns veranlassen anzunehmen, dafi Teilchen wegen ihrer Kleinheit nicht wahrgenommen werden, sind denen analog, die die Existenz von unwahrnehmbar kleinen Bewegungen sichern. Wir konnten, urn die Betrachtung ganz entsprechend der im vorigen Abschnitt angedeuteten zu gestalten, ein Teil- chen beobachten, dafi sich mit bestimmter Geschwindigkeit, nach bestimmtem Gesetze, in einer Fliissigkeit auf lost. Das Gesetz wiirde dann fordern, dafi das Teilchen noch eine Zeitlang fort- bestande, auch wenn es bereits unsichtbar geworden ware und mikroskopische Beobachtung wiirde diese induktive Annahme bestatigen. Naturlich sind es Erfahrungen weit einfacherer Art, die schon dem naiven Menschen die Existenz von Ko'rpern sichern, die er nicht wahrnimmt, weil sie zu klein sind. Aber im Prinzip ist der Denkprozefi, der zu dieser Annahme fiihrt, doch immer der- selbe. Auf induktivem Wege ergeben sich Griinde fur die Exi- stenz, und genaue Beobachtung ist oft imstande, die Induktionen zu rechtfertigen. Ich sehe ein Staubteilchen auf dem Papier, 156 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. wenn es in deutlicher Sehweite sich befindet und von mir fixiert wird. 1st die Entfernung grOBer und die Fixationsrichtung eine andere, so sehe ich wohl noch den dicken Klecks auf dem Papier, nicht aber das Staubteilchen. Werden die giinstigen Wahrneh- mungsbedingungen wieder hergestellt, so erblickt man das Staub- teilchen wieder, und zwar kann man das beliebig wiederholen. Nach der bereits oben (S. 101 f.) auseinandergesetzten induktiven Beharrungsvoraussetzung wird die Fortexistenz des Teilchens in der Aufienwelt angenommen und der Grund daftir, dafi es nicht wahrgenommen wird, soweit er objektiver Natur ist, im Unter- schiede des Teilchens von dem Kleckse, also in der Kleinheit des ersteren gefunden. Andere Erfahrungen sind geeignet, den SchluB auf die Exi- stenz nicht sichtbarer kleiner Teilchen zu sichern, ihn in einer Reihe von Fallen unbedingt zuverlassig zu machen. Es sind vor allem jene Falle zu nennen, in denen kleine Teilchen zu- gleich wahrgenommen und nicht wahrgenommen werden, sei es von verschiedenen Beobachtern, sei es von verschiedenen Sinnes- organen, etwa Augen, desselben Beobachters. Wahrend das eine unbewaffnete Auge das Staubteilchen nicht wahrnimmt, sieht es das andere mit Hilfe des VergrOfierungsglases. Das Teil- chen kann nicht gleichzeitig existieren und nicht existieren. Die Wahrnehmung mit dem bewaffneten Auge fordert die Existenz in der AuBenwelt; wird es also fiir das unbewaffnete Auge als unsichtbar erwiesen, so ist das auf die Kleinheit zuruckzufuhren. Fiir das naive und das einzelwissenschaftliche Denken ist diese Schlufiweise immer selbstverstandlich gewesen. Wird aber die Existenz einer Aufienwelt, von Dingen hinter den Empfindungen und ihren Komplexen, geleugnet, so verliert sie ihren Sinn. Das Staubteilchen besteht aus den Empfindungen desselben; solange diese fehlen, ist auch das Staubteilchen nicht da. Die erste Frage kann nur bejaht werden von dem, der eine AuBenwelt anerkennt; fiir den Empfindungsmonismus Machs fa'llt sie ganz fort und mit ihr natiirlich die ganze Molekularhppothese. Die Antwort auf die zweite der obigen Fragen ist jetzt ebensoleicht zu geben. Der Erfahrungen sind unzahlige. Jede Staubwolke zeigt, daB ein Komplex von unsichtbar kleinen Teil- chen den Eindruck des homogenen machen kann. Aus geniigender VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 157 Entfernung betrachtet, bei passenden ungiinstigen Wahrnehmungs- bedingungen erscheint uns jeder Komplex von zahlreichen dis- kreten Teilchen homogen, die Milchstrafie, ein Steinhaufen, ein Stiick Kreide, eine triibe Losung. Wie mancher Korper, der einst als homogen betrachtet wurde, hat sich nicht der auflOsenden Kraft der Fernrohre und Mikroskope gegeniiber von diskreter Struktur erwiesen! Vermeintliche Nebelflecke ergaben sich als Stern- haufen, und die uberwiegende Mehrzahl der dem unbewaffneten Auge homogen erscheinenden Korper zeigte bei hinreichender Vergrofierung eine kompliziertere, diskontinuierliche Struktur. Das Beispiel der Sternhaufen, die ohne oder bei zu schwachen optischen Intrumenten als Nebelflecke erschienen und lange fur solche gehalten wurden, bietet uns gleichzeitig eine Illustra- tion dafur dar, wie die diskontinuierliche Struktur aus den Eigen- schaften erschlossen werden kann und erschlossen worden ist, ohne dafi sie oder bevor sie durch hinreichende Vergrofierung nachgewiesen wurde. Ein echter Nebelfleck gibt ein Gasspek- trum mit leuchtenden Linien, ein Sternhaufe liefert das kontinuier- liche Spektrum fester Korper mit Absorptionslinien usw. Zeigt ein als Nebelfleck erscheinendes Gebilde ein Spektrum der letz- teren Art, so handelt es sich in Wirklichkeit um einen Sternhaufen. Dieser einfache Schlufi ist iiberaus interessant fur die Frage nach der homogenen oder inhomogenen Struktur der Korper; er ist durch Anwendung starkerer VergrOfierungen natiirlich bestatigt worden. Es ist leicht, ahnliche Schlufiweisen bei einfacheren alltag- lichen Verhaltnissen anzufiihren. Ich sehe im Halbdunkel am Strafienrande einen Hiigel, der mir ganz homogen erscheint, und den ich ebensogut fur einen homogenen Lehmhaufen, wie fiir einen inhomogenen Steinhiigel halten kann. Ein Voriibergehender stOfit mit seinem Stock in den Hiigel und ich vernehme ein Gerausch wie von rollenden und sich verschiebenden Steinen. Ich schliefie daraus, dafi es sich um einen Steinhaufen handelt! — Wir sind alle weit entfernt, die so gewonnene Vorstellung fiir eine Fiktion, die noch so zweckmafiig sein mag, zu halten; vielmehr sind wir iiberzeugt, dafi der Vorstellung eine engere Beziehung auf die Aufienwelt zukommt, dafi sie nicht nur zweck- mafiig, sondern dafi sie zutreffend, richtig, wahr ist. Der Viel- 158 VIM- Die Diskontinuitfit der Materie. heit der angenommenen Steine entspricht eine Vielheit von zu- grunde liegenden AuBenweltsexistenzen, -korpern, wie wir nach dem Vorhergehenden sagen diirfen. Der SchluB auf die Molekel, die ein Stuck Eisen zusammen- setzen, ist im Prinzip nicht von dem Schlusse auf die Steine ver- schieden, aus denen der in der Dunkelheit homogen erscheinende Huge! besteht, wie wir gleich sehen werden. Man kann den einen fur unsicherer halten als den anderen — vielleicht ware auch das ohne Grund — ; aber eine prinzipielle Ablehnung der Molekular- theorie rnuBte konsequenterweise auch den SchluB auf die Steine des Hugels angreifen. Man kann nicht die eine Annahme als richtig, die andere lediglich als fiktiv betrachten, als eine Fiktion, die immer Fiktion bleiben miisse, so daB der Versuch, in ihr mehr zu sehen, sie zu beweisen, als unwissenschaftlich abzulehnen ware. Um ein Beispiel eines Schlusses zu geben, der einer der Begrundungen der Molekularhppothese noch genauer entspricht, denken wir uns, zwischen zwei Brettern befande sich eine Materie. Die parallelen Bretter mogen so weit uberstehen, daB beim Blicken zwischen dieselben diese Materie in dem dort herrschenden Halb- dunkel homogen erscheint. Wir driicken nun die beiden Bretter zusammen; die zwischen ihnen befindliche Materie wird dadurch zu einer Schicht abgeplattet, die dunner und dtinner wird. Zu- nachst mOge die Abplattung weiter und weiter gehen, ohne daB der dazu erforderliche Druck auf die beiden Bretter sich wesent- lich oder gar plotzlich stark andern mtiBte. Aber in dem Augen- blicke, in dem die Bretter den Abstand von einem Millimeter erreicht haben, mag das Verhalten der abgeplatteten Schicht mit einem Male ein ganzlich anderes werden. Obwohl der Druck sehr gesteigert wird, ist keine weitere Abplattung zu erreichen. Erst bei Anwendung ungemein groBer Kra'fte beginnt wieder eine schwache Annaherung der beiden Bretter. Was werden wir hieraus schlieBen? Ware jene Materie durchaus homogen bis in die kleinsten Teilchen, so ware gar kein Grund fur die plOtzliche Veranderung im Verhalten der Schicht zu finden, wenn diese die bestimmte Dicke von 1 mm erreicht hat. Wenn sich die 10 mm dicke Schicht abplatten lieB, so ware das darauf zuruckzufuhren, daB jede der 10 Schichten VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 159 von 1 mm Dicke, aus denen die ganze Schicht bestand, abge- plattet warden ko'nnte. Die Eigenschaften, die der dickeren Schicht zukamen, miiBten auch der diinneren Schicht zukommen. Die dunne Schicht, ein beliebiges kleines Teilchen einer homo- genen Materie, ware ja ein vollkommenes Abbild der dicken Schicht, eines grftBeren Quantums, nur in verkleinertem MaB- stabe. Die Eigenschaften des grOBeren Quantums rnuBten auch dem kleinsten Teilchen, der dunnsten Schicht zukommen, nur in entsprechend verkleinertem MaBstabe, wenn nicht besondere Grtinde fur ein anderes Verhalten vorlagen. Wir werden also schlieBen, daB die Materie zwischen unseren Brettern nicht einfach homogen ist, sondern daB sie eine Struktur hat, so daB eine 1 mm dicke Schicht nicht einfach ein verklei- nertes Abbild einer 10 oder 100 mm dicken ist. Die Elemente jener Struktur werden von einer GroBe sein, die von der GrOBen- ordnung eines Millimeters ist. Wir sind jedenfalls sehr geneigt anzunehmen, daB die Materie zwischen den beiden Brettern aus festen KOrnern besteht, die zum groBen Teil einen ungefahren Durchmesser von 1 mm haben. So ergibt sich die plo'tzliche Abweichung im Verhalten gegen Druck von selbst. Die Ko'rnchen sind so lange auseinander- geschoben worden, als noch Schichten von ihnen ubereinander- lagen. Ist die ganze Schicht nur noch 1 mm dick, so liegt nur noch eine Lage KOrnchen zwischen den Brettern und ein weiteres Beiseiteschieben ist unmoglich. Es ist klar, daB diese Erklarung eine Hypothese ist. Jene merkwiirdige Veranderung bei 1 mm Schichtendicke kann m5g- licherweise andere Griinde haben als eine Diskontinuitat der Materie. Indessen wird jedermann geneigt sein, die vorliegende Hypothese anzunehmen, wenn noch weitere Griinde fiir sie sprechen, wenn vielleicht beim Zusammendriicken ein charak- teristisches Gerausch entstand, wie es bei der Reibung von KOrnchen zu entstehen pflegt. Als ein Kennzeichen der Diskontinuitat einer Materie ha'tten wir es also zu betrachten, wenn Schichten derselben, bei zu- nehmender Abplattung, Verdiinnung, plo'tzlich in wenig stetiger Weise ihre Eigenschaften andern. Wir werden dies Kennzeichen nicht als absolut untriiglich betrachten, werden ihm aber um so 160 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. mehr Vertrauen schenken, als die auf dasselbe gestiitzten Schliisse auf eine diskontinuierliche Struktur von anderer Seite Verifika- tionen erfahren. In der Tat 1st nun diese Unstetigkeit im Verhalten von Fliissigkeitsschichten von abnehmender Dicke zu konstatieren. Wird eine Olhaut auf Wasser diinner und dilnner, so tritt schon bei einer Dicke von 100 [xp. eine plotzliche Veranderung ein. Bei weiterer Ausbreitung der Schicht bildet sich auf einmal eine sehr viel feinere Schicht von 20 nfx, die nicht mehr den Glanz der 100 [x^-Schicht hat. Die dunnere Haut iiberzieht aber noch das Wasser gleichmafiig und lafit sich wieder kontinuierlich aus- ziehen; sie ist noch imstande, einem Gasstrahl den Durchgang zum Wasser zu versperren. Bei einer durchschnittlichen Dicke von 2 {A[x geht der Gasstrahl durch die Schicht hindurch. Treibt man die Ausdehnung noch weiter, so dafi bei kontinuierlicher Verteilung eine Schicht von 0,3 bis 0,5 [A[x vorhanden sein miiBte, so ist uberhaupt nichts mehr von ihr nachzuweisen *). Wesentlich iibereinstimmende Beobachtungen macht man an Hautchen von Wasser oder Seifenlo'sung. Schon Newton hat diese Erscheinungen gesehen und schon beschrieben. ,,Wenn man mit Wasser, welches man durch AuflOsen von etwas Seife za'he gemacht hat, eine Blase blast, so zeigt die- selbe, wie allgemein bekannt ist, nach einiger Zeit die mannig- faltigsten Farben. Urn eine Bewegung dieser Blasen durch die a'uBere Luft zu verhindern (wodurch die Farben derselben durch- einander bewegt werden, so dafi sie sich nicht genau beob- achten lassen), bedeckte ich jede derselben, sobald ich sie ge- blasen hatte, mit einem reinen Glas. Die Farben zeigten sich dann in einer auBerst regelma'Bigen Reihenfolge in Gestalt kon- m (=einMikron), l|ifji = mm. Eine schOne, popu- la're Darstellung der Grundlagen der Molekulartheorie findet man z. B. bei G. Mie: ,,Molekiile, Atome, Weltather". Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 58. Ich entnehme dem Bandchen einige Angaben. Dbrigens sei darauf aufmerk- sam gemacht, daB dabei einige Vorsicht angewandt werden mufi, da leider eine Reihe von Druckfehlern sich eingeschlichen haben. Sehr oft muB es W anstatt n heiBen, z. B. S. 6 und S. 8. — Der philosophisch orientierte Leser des Bandchens wird iiberrascht sein durch den Kontrast zwischen der Einleitung S. 1 oben und den weiteren Kapiteln. VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 161 zentrischer Ringe, die die Spitze der Blase umgaben. Und wahrend die Blase durch das bestandige Herabziehen des Wassers diinner wurde, dehnten sich diese Ringe langsam aus und iiberzogen die ganze Blase, indem sie der Reihe nach bis an das untere Ende der Blase herabsanken und hier einer nach dem andern verschwanden. Nachdem die samtlichen Farben an der Spitze hervorgetreten waren, entstand in der Mitte der Ringe ein Kleiner, runder, schwarzer Fleck, wie bei der ersten Beobachtung, der sich fortwahrend ausdehnte und zu- weilen mehr als einen halben oder dreiviertel Zoll breit wurde, bevor die Blase zerplatzte. Anfangs dachte ich, es sei an dieser Stelle kein Licht von dem Wasser reflektiert worden, allein bei sorgfaltiger Betrachtung sah ich innerhalb derselben mehrere kleinere runde Flecken, die viel schwarzer und dunkler als der Rest erschienen, wodurch ich erkannte, daB an den anderen Stellen, die nicht so dunkel als diese Flecken waren, etwas Licht reflektiert wurde. Bei weiteren Beobachtungen fand ich, daB ich erkennen konnte, wie nicht nur von dem groBen schwarzen Fleck, sondern auch von den kleineren dunkleren Flecken inner- halb desselben die Bilder mancher Gegenstande (z. B. einer Kerze und der Sonne) sehr schwach reflektiert wurden."1) Eine Haut von Seifenlosung 2) bekommt also, wenn sie diinner und diinner wird, ahnlich scheinbare Lo'cher, d. h. wenig glanzende oder reflektierende Stellen, wie eine Olhaut auf Wasser. Reinold und R ticker waren imstande, die Dicke der Haute durch elektrische Widerstandsmessungen an denselben zu bestimmen. Es ergab sich (ebenso wie nach einer optischen Methode), daB die Verdiinnung der Lamelle stetig fortschritt bis zu einer Dicke von 50 [XJA; dann entstand bei weiterer Aus- dehnung der Fliissigkeit plotzlich die etwa 10 |x[x dicke dunkle, d. h. wenig reflektierende Schicht, die nun eine weitere Aus- dehnung wieder in stetiger Weise zuliefi. Durch eine ener- getische Betrachtung zeigte W. Thomson, daB das dunkle Hautchen sich nicht weiter ausdehnen lasse als bis zu einer ') Optik. S. 187 und 191 der Ausgabe von 1721, zweites Buch, Teil I, Obs. 17, zitiert nach der Ubersetzung der Vortrfige und Reden von W. Thom- son. Bd. I, S. 134, 135. (Berlin 1891.) 2) Oder Plateaus Glyzerinflussigkeit. Becher, Philosoph. Voraussetzungen. U 162 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. Dicke von 0,1 HJA, daB es dann vielmehr in Dampf ubergehen miisse *). Diese Erscheinungen deuten ebenso auf die inhomogene Struktur der Materie, aus denen jene Fliissigkeiten bestehen, wie die Unstetigkeit im Verhalten gegen Druck, die bei der Dicke von 1 mm der materiellen Schicht zwischen unseren Brettern sich zeigte, auf die Struktur jener Schicht uns fiihrte. In beiden Fallen andern sich die Eigenschaften plotzlich, wenn die Schichtdicke unter eine gewisse Grenze gesunken ist. ,,Das plo'tzliche Auf- treten und die anhaltende Bestandigkeit des schwarzen Ha'ut- chens beweisen einen Satz, der in der Molekulartheorie von fundamental er Wichtigkeit ist: Die Spannung des Hautchens, die sich nicht merklich andert, wenn die Dicke groBer als funfzig millionstel Millimeter ist, sinkt auf ein Minimum und beginnt wieder zuzunehmen, wenn die Dicke auf zehn millionstel Milli- meter vermindert wird. Es scheint unmo'glich, diese Tatsache durch irgendein Gesetz iiber die zwischen den Teilchen des Hautchens wirkende Kraft zu erklaren, wenn wir das Hautchen als homogen betrachten; wir sind vielmehr zu der Annahme gezwungen, daB sie durch die molekulare Heterogenitat be- dingt wird."8) Der SchluB auf die inhomogene Struktur ist genau dem entsprechend, was wir bei der Schicht zwischen den Brettern gefolgert haben. Man kann ihn, wie wir im Kapitel iiber Hppo- thesenbildung allgemein andeuteten, als AnalogieschluB auffassen, der von den sichtbar groBen Verhaltnissen bei der Materie zwischen den Brettern zu den unsichtbar kleinen der Molekular- welt fiihrt. Entsprechende Unstetigkeiten im Verhalten zeigen dunne Metallschichten auf Platin und Glas. Oberbeck uberzog elektrolytisch Platinblech mit diinnen Metallhauten und stellte es reinem Platinblech gegenuber in eine MetallsalzlOsung. ,,War die Metallhaut einige (x(x dick, so gab sie dieselbe Spannung, wie ein massives Stuck aus demselben Metall. War sie viel dunner als 1 JAJA, so gab sie iiberhaupt kaurn eine Spannung, ') Siehe Vortrage und Reden: Die GroBe der Atome. S. 135 f. 2) W. Thomson, a. a. O. S. 7. VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 163 wie wenn das von ihr uberzogene Platinblech iiberall durch- schaute. Dazwischen fand ein sehr rascher Obergang statt bei folgenden Werten der Dicke: Zink: 2,5 fxpi; Kadmium: 1,7 (x[x; Kupfer: 0,7 {x(x. Von diesem Grad der Feinheit an beginnt also die Metallhaut sozusagen Iftcherig zu werden . . ." *) Eine weitere interessante Abweichung vom Verhalten dickerer Schichten zeigen diinne Hautchen von Metall auf Glas hinsicht- lich des elektrischen Leitungswiderstandes. Eine mafiig diinne Metallschicht hat denselben Leitungswiderstand wie ein Draht, dessen Querschnitt gleich dem der Schicht, also gleich dem Produkt aus ihrer Breite und Dicke ist; auch nimmt der Wider- stand der Schicht beim Erwarmen zu wie bei einem Draht. Ganz abweichend verhalten sich sehr diinne MetalMutchen. Ihr Widerstand ist grofier als der eines Drahtes von gleichem Quer- schnitt, und er nimmt beim Erwarmen nicht zu, sondern manch- mal sogar ab. ,,Wir sehen hier ganz besonders deutlich: Materie in aufierst feiner Verteilung ist nicht mehr gleich beschaffen mit grofieren Stiicken"2); das aber miifite die Annahme der Homo- genitat fordern. Wie die kornige Struktur der Materie zwischen den beiden Brettern vielleicht durch weitere Erscheinungen sich zu erkennen gab, etwa durch das Gerausch beim Zusammendrucken, so deutet eine Ftille von weiteren Erfahrungen auf die allgemeine Hete- rogenitat der Materie hin. Freilich scheinen mir diese Verande- rungen in den Eigenschaften sehr diinner Haute am einfachsten die Natiirlichkeit der molekulartheoretischen Auffassung darzu- tun, diese am unmittelbarsten zu ergeben. Im folgenden mftgen einige weitere Griinde fur die Molekulartheorie angefuhrt bezw. nur angedeutet werden. Vollstandigkeit kann dabei naturlich nicht angestrebt werden, schon weil auf mathematisch-phpsi- kalische Deduktionen verzichtet werden soil. Es kommt ja auch mehr darauf an, die Natur der SchlUsse zu demonstrieren, die auf unsere Hypothese hinfuhren, als diese Hypothese so wahr- .scheinlich zu machen, als das mit Benutzung aller physikalisch- ') G. Mie, a. a. O. S. 23. «) G. Mie, a. a. O. S. 24. IT 164 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. chemischen Erkenntnisse jetzt angeht. Es ist nur zu zeigen, dafi die Griinde im Prinzip sehr wohl geeignet sind, eine Wahr- scheinlichkeit zu ergeben, so dafi man in der Hypothese der Diskontinuitat eine mehr oder minder wahrscheinliche Annahme, nicht nur eine gewisse Eigenschaften der Materie zweckmafiig darstellende Fiktion erblicken darf. Halten wir es ja auch nicht nur fur eine solche Fiktion, dafi die Materie zwischen jenen Brettern eine kOrnige Struktur hat! Beginnen wir mit einem Argumente aus der Mechanik — es ist freilich das starkste nicht, und seine Voraussetzungen er- freuen sich nur sehr geringer Beliebtheit. Indessen ist es sehr instruktiv, wenn es auch unzulanglich sein mag. Es handelt sich urn eine Hypothese der Kohasion, die von W. Thomson stammt *). Das Newtonsche Gravitationsgesetz gilt zweifellos in sehr weiten Grenzen mit grofier Genauigkeit. Es wurde von seinem Entdecker fur astronomische Entfernungen bewiesen und die fort- schreitende Beobachtung der kosmischen Bewegungen scheint «s immer genauer zu bestatigen, wenn auch einige Abweichungen, z. B. in den Bewegungen des Merkur, unerklart bleiben. Mas- kelyne und Cavendish verifizierten das Gravitationsgesetz fiir irdische Entfernungen, was ebenfalls bei weiteren Untersuchungen sich bewahrte. Es liegt daher nahe, die Anziehungen auf ganz kleine Entfernungen ebenfalls auf das Newtonsche Gesetz ^uruckzufiihren, mit anderen Worten, die Kohasion als einen Spezialfall der Schwere zu betrachten. Dieser Erweiterung des Gesetzes steht eine Schwierigkeit entgegen. Fiir die betreffenden Entfernungen ergeben sich namlich bei der Annahme der Homogenitat der Materie viel zu kleine Krafte. Man hat versucht, Newtons Gesetz als eine Annaherung an die richtige Gleichung zu betrachten, erganzende Glieder anzunehmen, deren Einflufi bei astronomischen Entfernungen verschwindet, bei minimalen Abstanden dagegen sehr bedeutend l) ,,Note on Gravity and Cohesion", Proceedings of the Rogal Society of Edinburg, 21. April 1862 (Bd. IV). Vergl. den Vortrag iiber Kapillar- anziehung in den Vortra"gen und Reden, S. 1 — 7. Dort findet man auch eine Ubersetzung der obigen Abhandlung im Anhang B. S. 47—50. VIII. Die Diskontinuitfit der Materie. 165 M -M werden kann. Man hat etwa die Formal Newtons -^pT— M • M durch - * 8 2 e ~ ^ R ersetzt, die den Beobachtungen durch passende Wahl von (x angepaBt wird. W. Thomson zeigt nun, daB die Schwierigkeit fortfallt, wenn man ,,eine hinreichend intensive Heterogenitat der Struktur irgendwelcher Art" annehmen will, ,,wenn nur ein betrachtlicher Teil der ganzen Masse in einem kontinuierlichen Raum im Innern so kondensiert ist, daB es mOglich ist, von jedem belie- bigen Punkt dieses Raumes als Mittelpunkt eine Kugelflache zu beschreiben, die eine bedeutend gro'Bere Menge von. Materie enthalt als derjenige Teil der gesamten Materie des Korpers, welcher diesem Volumen entsprechen wiirde"1). Die Kohasionskrafte, die bei der Tropfenbildung ins Spiel kommen, sind millionenmal gr5Ber als sie nach Newtons Gesetz sein miiBten, wenn das Wasser homogen ware. ,,Es miissen daher entweder diese Anziehungskrafte auf sehr geringe Ent- fernung ungeheuer viel schneller zunehmen, als es das Newton- sche Gesetz erfordert, oder die Substanz des Wassers ist nicht homogen."2) Nimmt man also die Gultigkeit des Newtonschen Gesetzes fiir kleine Entfernungen an, so ergibt sich die Not- wendigkeit der Heterogenitat der Materie. Naturlich ist die Annahme, daB die Anziehung auf kleine Entfernung genau oder ziemlich genau nach Newtons Formel erfolgt, in hohem Grade hypothetisch, und darin besteht die Schwache des Argumentes. Die starkste Stiitze findet die Molekulartheorie an der Chemie, vor allem am Gesetz der multiplen Proportionen. DaB die Molekulartheorie der groBen Anzahl phpsikalisch-chemischer GesetzmaBigkeiten gegeniiber iiberhaupt immer durchfiihrbar ist, spricht sehr fur ihre Richtigkeit; denn bei einer unzutreffenden Vorstellung rnuBte diese Durchfuhrbarkeit als ein sehr unwahr- scheinlicher Zufall betrachtet werden. An dieser Stelle sollen die der Chemie zu entnehmenden x) Vortrage und Abhandlungen. S. 49. •) Ebendaselbst S. 3. 16(3 VIII. Die Diskontinuita't der Materie. Argumente noch unero'rtert bleiben. Unter den physikalischen Beweisgrunden hat immer die Tatsache der Dispersion des Lichtes eine hervorragende Rolle gespielt. Die Oberlegung griindete sich auf die alte mechanische Undulationstheorie. Die mathematische Wellentheorie beweist, dafi die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Wellen in einem homogenen Medium unabhangig ist von der Wellenlange und vollstandig durch das Verhaltnis der Elastizitat des Mediums zu seiner Dichte gegeben ist. Die Akustik bestatigt die Richtigkeit des Satzes, da die Fortpflanzungsgeschwindigkeit erfahrungs- gemafi unabhangig von der Wellenlange, also von der Ton- h6he ist. Dagegen ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit verschieden- farbigen Lichtes in scheinbar homogenen Stoffen, wie Wasser, Glas, Schwefelkohlenstoff, in starkem Mafie abhangig von der Farbe, d. h. von der Schwingungszahl oder der Wellenlange. Die kurzeren Lichtwellen pflanzen sich in ponderabler Materie langsamer fort als die langeren, und darauf beruht die stark ere Brechung der nach Violett zu im Spektrum liegenden Farben, die Dispersion des Lichtes. Waren die Dispersion bewirkenden Stoffe vollkommen homogen, so la'ge in der Tatsache etwas ganz Unbegreifliches, den mechanischen Satzen der Wellentheorie Widerstreitendes. Im Anschlufi an einen Gedanken von Coriolis war Cauchy1) der erste, der die Konsequenz zog, die Disper- sion auf die Inhomogenitat des Mediums zuriickzufuhren. Ist die Farbenzerstreuung durch ein homogenes Medium nicht mCglich, so miissen eben die zerstreuenden Medien inhomo- gen sein. Im einzelnen waren freilich Cauchys Hypothesen unhaltbar. Sie fuhrten zu der Annahme einer grobkornigen Struktur von so grofien Dimensionen, dafi ihre Anerkennung mit alien anderen Schliissen auf dieselbe und mit einfachen Erfahrungen in Konflikt kam2). Auch stellt die von ihm erhaltene Dispersionsformel nur eine grobe Annaherung an die Wirklichkeit dar. Viele Versuche J) M6moire sur la dispersion de la lumiere. Prag 1836. 8) Siehe z. B. Thomson: VortrSge und Reden. S. 144—152; beson- ders S. 152. VIII. Die DiskontinuitSt der Materie. 167 wurden unternommen, die Schwierigkeiten zu vermeiden, so von Briot, Holtzmann, Redtenbacher, Neumann, Sellmeier, Ketteler, Helmholtz, W. Thomson; alle hielten die Konsequenz fest, dafi das zerstreuende Medium inhomogen sein mtisse1). Cauchy und seine Nachfolger schrieben die geforderte Molekularstruktur dem Ather zu, der in dem farbenzerstreuenden Medium angenommen wird und in ihm die Fortpflanzung des Lichtes vermittelt. Diese spezielle Ausgestaltung der Dispersionstheorie gibt J. B. Stall o2) Anlafi, den Schlufi auf die Molekularhppothese aus der Farbenzerstreuung einer Kritik zu unterziehen. Ware die Dispersion auf die verschiedene Fortpflanzungsgeschwindig- keit der Farben und diese auf die Molekularstruktur des Athers zuriickzufiihren, so muBten Lichtarten von verschiedener Wellen- lange sich mit verschiedener Geschwindigkeit durch den Himmels- raum fortpflanzen. Rotes Licht mufite sich schneller ausbreiten als violettes. Wenn also ein Jupitertrabant aus dem Schatten *) In den neueren mechanischen Theorien der Dispersion wurde die Wechselwirkung zwischen ponderabler Materie und Ather in wechselnder Weise in Anrechnung gebracht. Briot: ,,Essay sur la th£orie mathematique de la lumiere", Paris 1864, S. 89 f.; Redtenbacher: ,,Dynamidensystemu, S. 130 f.; Ketteler: ,,Uber den EinfluB der ponderablen Molekule auf die Dispersion des Lichtes", Pogg. Ann. Bd. 140, S. 2f. und S. 177 f.; Helm- holtz: .,Theorie der Dispersion", 1874, Wissensch. Abh., Bd. 2, S. 213; W. Thomson, a. a. O. S. 153, ausgearbeitet und mathematisch untersucht in einer vor der Rogal Society of Edinburg am 5. Ma'rz 1883 gelesenen Ab- handlung: ,,Uber die dynamische Theorie der Dispersion." W. Sellmeiers Dispersionsformel gab denen von Briot, Redten- bacher und anderen abgeleiteten gegeniiber besser mit der Erfahrung uber- einstimmende Resultate. Er nahm an, daB die ponderablen Atome des zer- streuenden Mediums auf den Ather wirken und daB dabei ein reibungsartiger Widerstand der Bewegung entgegenwirkt. Die Annahme einer Reibungskraft machte auch Helmholtz; die ponderablen Atome schwingen mit, beeinfluBt durch jene Reibung. W. Thomson stellt sich vor: ,,daB jedes (Ather-) Molekul in einer bestimmten Weise durch den elastischen Zusammenhang mit schwerer Materie belastet ist, — daB jedes Athermolekul in der greif- baren, durchsichtigen Materie sozusagen von einer Franse von Teilchen um- geben ist, die mit der Entfernung immer gr5Ber werden und mit dem Molekul elastisch verbunden sind —...", Vortra'ge und Reden, S. 153. — Sehr bewa'hrt hat sich Kettelers Dispersionsformel. 8) A. a. O. S. 84—89. 168 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. des Planeten hervortritt, so wtirde er Lichtarten aller Farben zu uns senden; aber die roten Strahlen mufiten uns zuerst erreichen, dann erst nach und nach die gelben, grtinen, blauen, violetten. Der Trabant miifite uns erst rOtlich erscheinen und dann durch Orange hindurch weifi werden, wenn Licht aller Farben uns erreicht hatte. Die Beobachtung der Trabantenverfinsterungen zeigt die nach Cauchys Hppothese zu fordernde Farbenerscheinung nicht. Diese und andere Tatsachen zeigen, dafi sich Lichtarten ver- schiedener Wellenlange in den kosmischen Raumen mit gleicher oder sehr nahe gleicher Geschwindigkeit fortpflanzen. Damit ist erwiesen — was auch Thomsons oben erwahnte Bedenken schon zeigten — , dafi die speziellen Voraussetzungen Cauchys nicht der Wirklichkeit entsprechen. Ist das Licht eine mechanische Wellenbewegung und pflanzen sich Lichtarten von verschiedener Wellenlange mit gleicher Ge- schwindigkeit im freien Ather fort, so ist dieser entweder ein Kon- tinuum oder er besitzt eine viel feinere Struktur, als Cauchys Hypothese fordern mufite. Aus der gleichen Fortpflanzungsge- schwindigkeit folgt keineswegs unbedingt schon die Homogenitat, sondern es bleibt eine hinreichend feine Struktur moglich; so pflanzen sich ja auch Schallwellen verschiedener Lange in Luft und Gasen usw. mit gleicher Geschwindigkeit fort. Die nach der kinetischen Gastheorie anzunehmende Molekularstruktur der Luft ist eben ungemein fein im Verhaltnis zur Lange der Schallwellen. Trifft die Kritik Stallos demnach die speziellen Voraus- setzungen von Cauchps Hypothese, so tauscht er sich indessen, wenn er meint, damit sei das ganze Argument fur die Hetero- genitat, die Molekularstruktur, hinfallig. Das trifft nur fiir den freien Ather zu; fiir diesen folgt aus der Tatsache der gleichen Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Farben in kosmischen Raumen nur, dafi er keine Struktur von einer gewissen relativ hohen Grobheit haben kann. Aber fiir unsere irdischen farbenzerstreuen- den Medien behalt der Schlufi seine voile Beweiskraft. Ware ein Stuck Diamant vollkommen homogen durch und durch, so mufiten Wellen verschiedener Lange mit gleicher Geschwindig- keit durch ihn hindurchgehen; es kftnnte keine Dispersion eintreten. VIII. Die DiskontinuitSt der Materie. 169 Die Erfahrung zeigt die Dispersion; also ist Diamant nicht durch und durch homogen, sondern das uns ganz homogen erschei- nende Stuck muB eine Struktur irgendwelcher Art haben. Die zahlreichen Umgestaltungen und Verbesserungen der Hypothese Cauchys konnen heute meist nur noch historisches Interesse beanspruchen, seit die alte Undulationstheorie ersetzt ist durch die elektromagnetische Lichttheorie. Indessen bleibt fiir diese Hypothese elektromagnetischer Schwingungen der SchluB durchaus bestehen; man kann sogar mit Recht sagen: er wird bedeutend zuverlassiger und zwingender. Die Tatsachen der Dispersion waren der Maxwellschen Theorie in ihrer ursprunglichen Form ebenso ein Anlafi zu Schwierigkeiten, wie sie es einst der mechanischen Undulations- theorie gewesen waren. Diese Schwierigkeiten wurden durch die Verbindung der Maxwellschen Theorie mit der neuerstan- denen Theorie von der atomistischen Struktur der Elektrizitat, der Elektronentheorie, beseitigt1). Auf dieser Grundlage stellte Helmholtz2) eine zweite, elektromagnetische Theorie der Dis- persion auf, aus der sich auch Kettelers wohlbewahrte Dis- persionsformel ergibt. Gleichzeitig stimmt die Helmholtz- Kettelersche Gleichung mit dem festgestellten Zusammenhang von Dispersion und Absorption. A. H. Lorentz3) ging weiter. Seine Theorie umfafit auch noch die Aberrationserscheinungen. Sie wurde auf das glan- ') Nach dieser Ansicht sind fur die optischen Erscheinungen die Schwingungen elektrischer Teilchen, der Elektronen, der Ausgangspunkt. 2) Wied. Ann. 48, S. 389, 1893. Wiss. Abh., Bd. Ill, S. 505. 8) Archiv. n6erl. 25. In Buchform: Leiden, E. J. Brill, 1892. Siehe hierzu W. Kaufmann: ,,Die Entwicklung des Elektronenbegriffs". Verh. deutscher Naturforscher und Arzte zu Hamburg. Leipzig 1901. S. 115-126, besonders 119 und 120. Eine mathematische Einfiihrung in die Elektronen- theorie gibt das so betitelte Buch von A. H. Bucherer, Leipzig 1904. Eine ganz kurze populare Darstellung findet man auch in dem zitierten BSndchen von G. Mie, ferner sehr ubersichtlich bei H. Kapser: ,,Die Elektronentheorie", Rede, Bonn 1903, Oder bei L orentz: ,,Sichtbare und unsichtbare Bewegungen", Braunschweig 1902, wo man auch eine Darlegung des Zeemanschen Pha- nomens findet (S. 102). Etwas eingehender behandeln die Elektronen- theorie und auch diese Erscheinung G. C. Schmidt: ,,Die Kathodenstrahlen", Braunschweig 1904, und von den bekannten physikalischen Lehrbiichern Riecke, Bd. II, Leipzig 1902, beide ohne hohere mathematische Hilfsmittel. 170 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. zendste verifiziert durch Zeemans Entdeckung des nach ihm benannten Phanomens. Auf im fur uns wesentlichen mit Helm- holtz und Lorentz iibereinstimmenden Grundlagen beruhen die Hypothesen von Drude1) und Poincare2). Alle diese Theorien setzen voraus, dafi die uns homogen erscheinende Materie nicht homogen ist, ja, dafi in dieser sogar Elektrizitat diskontinuierlich verteilt ist. Die durch die genannten Forscher gewonnene Auffassung pafit sich vorziiglich den Er- fahrungstatsachen an und ist, wie erwahnt wurde, glanzend veri- fiziert worden. An dieser Stelle interessieren uns die neueren elektronen- theorettschen Hypothesen nur insoweit, als auch sie eine in- homogene Struktur der Materie voraussetzen mtissen. Nicht alle Punkte des scheinbar homogenen KOrpers sind in der Aufien- welt gleich beschaffen. Ist die elektromagnetische Lichttheorie richtig, durch Hertz' Experimente gesichert, so ist eine inhomo- gene Struktur der Materie zu fordern; denn ohne diese ware die tatsachliche Dispersion nicht mftglich. Jener Satz iiber die Unabhangigkeit der Fortpflanzungsgeschwindigkeit von der Wellenlange im homogenen Mittel gilt auch fur elektromagne- tische Wellen. Das auf die Tatsache der Dispersion aufgebaute Argument bleibt also bestehen und muB schwer ins Gewicht fallen; um so viel schwerer, als die elektromagnetische Lichttheorie sicherer erscheinen mufi, als einst die alte mechanische Schwingungs- theorie erscheinen konnte bei der groBen Zahl von Schwierig- keiten, die ihr anhafteten, bevor Hertz' Experimente endgiiltig der Maxwellschen Theorie den Sieg verliehen. Auch die Polarisationserscheinungen notigten die Vertreter der alten mechanischen Schwingungstheorie des Lichtes, eine diskontinuierliche Struktur des Athers anzunehmen. Wir wollen auf dies Argument nicht naher eingehen, da wir die ganze Ather- frage vorderhand auf sich beruhen lassen kOnnen; hier handelt es sich vorlaufig darum, ob die gewo'hnliche, homogen erschei- nende ponderable Materie eine inhomogene Struktur hat oder ») Drude: ,,Lehrbuch der Optik", Leipzig 1900, S. 352. ") Poincare: ,,Electricite et Optique, la lumiere et les theories £lectro- dynamiques", S. 500 f., Paris 1901. VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 171 nicht, d. h. ob die Punkte derselben in der Aufienwelt, abge- sehen vom Unterschiede des AuBenweltsortes, alle gleich sind oder nicht. Und da versteht es sich von selbst, daB jede Undulations- theorie des Lichts die Molekulartheorie fordert; das gilt auch von der elektromagnetischen Lichttheorie. Je sicherer daher die Undulationstheorien werden — und die elektromagnetische Schwingungstheorie scheint durch Hertz und seine Nachfolger einen sehr hohen Grad von Wahrscheinlichkeit gewonnen zu haben — , urn so besser werden auch die Hppothesen iiber die Molekularstruktur durch sie gestiitzt. Nach Maxwells Theorie unterscheiden sich die Hertzschen Wellen von den Lichtwellen (und ebenso von den ultravioletten und den Warmewellen) nur durch die groBere Schwingungsdauer und damit durch die grOBere Wellenlange. Die von Hertz erzeugten Wellen waren mehrere Meter lang; bei spateren Versuchen kam er auf solche von 60 cm. Righi und Lebedew berichten iiber Wellen von 7,5 cm und 0,6 cm, und Lamp a stellte die kiirzesten elektromagnetischen Wellen von 0,4 cm her. Dagegen sind die langsten Warme- wellen, die Rub ens und AschkinaB nachweisen konnten, e!10<)mm lang1). Woher kommt diese Liicke? Zur Erzeugung Hertzscher Wellen ist ein Erreger no" tig, und aus technischen und theore- tischen Grunden kann dieser nicht viel ktirzer gemacht werden als 1 mm. Die Hertzschen Erreger der Warme-, Licht- und ultravioletten Wellen sind die ungemein viel kleineren Molekiile mit ihren elektrischen Ladungen, den Elektronen. Das Verhaltnis der Dimensionen des kunstlichen Erregers, eines schmalen Platin- streifchens von 1 mm Lange, zu der Gro"Be eines Molekuls spiegelt sich in dem Verhaltnis der Lange der kurzesten Hertz- schen Wellen zu der Lange von Warme-, Licht- und ultravioletten Wellen wieder. Die Rolle, die KOrper von wahrnehmbarer Aus- dehnung fur die langen Hertzschen elektromagnetischen Wellen spielen, miissen den hypothetischen Molekeln fur die kurzen elektromagnetischen Wellen, die Warme- und Lichtwellen, zu- !) Siehe E. Lecher: ,,Uber die Entdeckung der elektrischen Wellen durch Heinrich Herz und die weitere Entwicklung dieses Gebietes", Ver- handlungen deutscher Naturforscher und Arzte zu Hamburg, Leipzig 1901, S. 27—43, zu obigem besonders S. 31. 172 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. geschrieben warden. So kann man die Verhaltnisse, wie sie in der ultramikroskopischen Struktur der Materie vorliegen, gleich- sam vergro'Bern, indem man fur die langen Wellen entsprechend vergrOBerte Bedingungen schafft. ,,Man kann dann eine optisch- elektrische Analogic oft in der Weise erzwingen, daB man den zu groBen elektrischen Wellen grftBere, d. h. ktinstliche Molekule entgegenstellt. Eigentlich ist ja jeder Resonator, der die ein- fallenden elektrischen Wellen absorbiert, schon ein Molekiilmodell. So fand Garb as so Reflexion an Metallstreifen nur, wenn deren Schwingungsperiode mit der des Erregers ubereinstimmte. Von sonstigen Versuchen mit kiinstlicher Nachahmung molekularer Eigenschaften sind wohl besonders nennenswert die uber Polari- sationserscheinungen. Auch hier ist Hertz mit seinem ktinst- lichen Turmalin, dem Absorptionsgitter, vorausgegangen. Bose gelang es, mit einer Scheibe von Papierstreifen, wie sie beim Morseapparat gebraucht werden, das dunkle Kreuz eines optischen einachsigen Kristalles,und mittels eines Biindels gedrillterjutefasern Drehung der Polarisationsebene nachzuahmen." ,,Noch interessanter erscheint aber die Auswertung dieser Ergebnisse Hertz scher Wellen durch rein optische Versuche. Hier haben wir wieder eine Art kiinstlicher Molekule, welche wir aber jetzt nicht mit elektrischen, sondern mit Warmestrahlen behandeln. Du Bois und Rubens verwendeten das Hertz- sche Drahtgitter in Miniaturform zur Polarisation langer Warme- strahlen, und spa'ter zeigten dann Rubens und Nichols Reso- nanzerscheinungen ihrer langen Warmewellen an unendlich kleinen Resonatoren." *) Die durch diese kurze Darstellung durch einen bekannten Forscher auf dem Gebiete der elektromagnetischen Wellen an- gedeuteten Experimente lassen erkennen, welche Stiitze die An- nahme einer inhomogenen Struktur in der neuen Lichttheorie findet. Es handelt sich um einen AnalogieschluB von hervor- ragender Beweiskraft. Stofien lange elektromagnetische Wellen auf Materie von dieser oder jener regelmaBigen inhomogenen Struktur, so treten bestimmte Erscheinungen auf. StoBen kurze elektromagnetische Wellen, d.h. Wa'rme-, Licht-, ultraviolette Wellen, l) E. Lecher, a. a. O., S. 32 und 33. VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 173 auf scheinbar homogene Materie, so treten die gleichen Erschei- nungen auf. Man wird urn so eher auch im zweiten Falle eine inhomogene Struktur erschliefien, als die erschlossene Struktur der Natur der Sache nach unwahrnehmbar fein sein mufi. Die Aussage, die Struktur sei eben zu fein, um wahrgenommen werden zu ko'nnen, ist also nicht eine zur Ermoglichung des Analogieschlusses herbeigezogene Ausflucht, sondern ergibt sich aus der Natur der Sache. Der Schlufi steht im Prinzip durch- aus auf der gleichen Stufe, wie der auf die unsichtbaren Schwin- gungen eines hoch und schwach tonenden KOrpers. Gewifi wird niemand den Analogieschlufi so weit ausdehnen, dafi er in der scheinbar homogenen Materie einfach ein ver- kleinertes genaues Abbild der oben angedeuteten Einrichtungen, Gitter usw. erblicken will. Die gleiche Materie mufi noch weitere Funktionen ubernehmen, und daher mufi ihre Struktur in diesem und jenem Punkte komplizierter sein, wie ja auch kompliziertere Vorrichtungen, Gitter usw. die gleichen Erscheinungen bei elektromagnetischen Wellen hervorzurufen ebenso geeignet sein wiirden, wie die einfacheren Mittel, deren man sich bedient. In den Cittern usw. haben wir also vereinfachte, idealisierte Modelle der Struktur der Materie zu erblicken. In der Verein- fachung liegt ein fiktives Moment. Aber mir scheint es ganz verfehlt, wenn nun geschlossen wird, die ganze Annahme einer Struktur der Materie sei nichts als ein Bild, Bild im Sinne von Fiktion. Eine Fiktion erklart nicht die auftretenden Erscheinungen, da sie ja zu diesen nichts beitragt, da ja die Wirklichkeit ihr nicht entsprechen soil. Wir alle sehen in den Hypothesen, die das praktische Leben uns aufdrangt, mehr als Fiktionen, und der Erfolg bestatigt diese weitergehende Auffassung. Warum sollte es in der Wissenschaft anders sein? Analogien kOnnen zu Wahrheiten sehr wohl fiihren und tun dies um so mehr, je ge- nauer sie sind. Wer wollte die Genauigkeit obiger Analogic bestreiten? Die unwahrnehmbare Struktur der Materie mufi in vielen Punkten obigen Vorrichtungen analog sein; das fordert die Analogic. Naturlich kann sie in anderen, fur den Effekt un- wesentlichen Punkten anders sein; aber die Annahme einer wirk- lichen Homogenitat ist mit der Analogic unvertraglich. Man pflegt in der Physik solche Vorrichtungen, wie die 174 VIII- Die Diskontinuitat der Materie. oben erwahnten, als Modelle, also etwa der Molekularstruktur, zu bezeichnen. Darunter ist also zu verstehen, daB sie mit der Wirklichkeit in manchen Punkten, die hypothetisch sind, uberein- stimmen, in anderen vielleicht nicht. Solche Modelle sind daher vielfach mehr als bloBe Fiktionen. Sie sind dann sicher nur Modelle, nicht Abbilder der Wirk- lichkeit im strengen Sinne, wenn sie nicht alle Erscheinungen wiedergeben, die wir in der Wirklichkeit finden. Aber auch dann brauchen sie nicht bloBe Fiktionen zu sein; sie sind viel- leicht nur unvollstandig. Gibt eine Hypothese aber Rechenschaft iiber alle beob- achteten Erscheinungen, die in groBer Zahl vorliegen, so ist es oft nicht nur sehr unwahrscheinlich, daB die ihr zugrunde liegende Vorstellung eine Fiktion ist, sondern es wird auch wahr- scheinlich werden kftnnen, daB sie mehr ist als ein bloBes Modell mit teils zutreffenden, teils fiktiven Elementen. Wir werden glauben miissen, daB die Vorstellung mit allem, was in ihr ent- halten ist, zu Recht besteht. Viele naturwissenschaftliche Hypothesen sind dadurch fehler- haft geworden, daB sie zu bestimmt waren, d. h. daB sie mehr aussagten, als durch die Erfahrungstatsachen und deren Erklarung gefordert war. Hatten die alten Anhanger der Wellentheorie des Lichtes allein die Aussage in ihre Hypothese aufgenommen, das Licht bestande in einer transversalen Wellenbewegung, so ware die alte Hypothese in die neue elektromagnetische iibergegangen, ohne daB ein Teil ihrer Annahmen ha'tte verworfen werden miissen. Sie ware vollauf zu Recht bestehen geblieben; die Maxwellsche Theorie hatte allein gezeigt, daB die transversale Schwingung speziell eine elektromagnetische ist; sie hatte nur etwas Positives zur alten Auffassung hinzugefiigt. Die alte Undulationstheorie ging indessen weiter; sie behauptete, daB die Lichtschwingungen speziell gewo'hnliche elastische Schwingungen waren; sie muBte infolgedessen dem sie vermittelnden Medium, dem Lichtather, eine Reihe von Eigenschaften zuschreiben, die mit Recht zu Bedenken AnlaB gaben. Mit dieser weiteren zur Erklarung der optischen Erscheinungen unnGtigen Annahme hatte sie kein Cluck; daher wurde der elektromagnetischen Lichttheorie neben der positiven auch eine negative Aufgabe. Die alte Licht- VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 175 theorie war nicht nur zu spezialisieren, auszubauen, ein Teil ihrer Annahmen war zu verwerfen, war falsch. . So wiirde man auch zu unzutreffenden Resultaten kommen kOnnen, wenn man die Struktur der erwahnten Vorrichtungen ohne weiteres fur Vergrftfierungen der Molekularstruktur halten wollte, die die gleichen Erscheinungen hervorbringt. Es sind eben viele Abanderungen der Struktur mOglich, die doch die- selben Wirkungen hervorbringen. Man darf daher auch in diesem Falle die Hypothese nicht zu bestimmt machen, mufi vielmehr mit den Annahmen nur so weit gehen, als die Erklarung der Tatsachen es fordert. Sie fordert aber eine inhomogene Struktur, mag diese im einzelnen von den Modellen noch so sehr ab- weichen. Die neueren Anschauungen iiber die Elektrizitat liefern weitere Grtinde fiir die Molekulartheorie. Die mechanische Warmetheorie fiihrt die Vergrofierung des Volums bei Erwar- mung nicht auf die Vergrofierung der Molekel, sondern auf die ihres Abstandes infolge intensiverer Bewegungen zuriick. In einem Dielektrikum kann sich die Elektrizitat nicht frei von Teilchen zu Teilchen bewegen, wohl aber mufi eine freie Beweg- lichkeit auf den Molekeln angenommen werden, um die dielek- trischen Wirkungen zu erklaren. Befindet sich also zwischen den Flatten eines Kondensators ein Dielektrikum, so ist die Wirkung so, als ob sich in dem Raume eine gewisse Zahl kleiner leitender Korper befande, die ihr Volum bei Druck und Tempe- raturjjnderungen unverandert beibehielten. Diese KOrper bringen die Verstarkung der Kapazitat des Kondensators hervor. Diese durch das Dielektrikum bezw. durch dessen Molekel bewirkte VergrSfierung der Kapazitat muB durch das Verhaltnis des von den kleinen leitenden KOrpern ausgefiillten Raumes zum ganzen vom Dielektrikum ausgefullten Raume bedingt sein. HeiBt dies Verhaltnis x, so ergibt die Oberlegung fur die Dielektrizitats- konstante den Wert: l+2x \\ = — : , __ v ' 1 f± oder: K — 1 K + 2* 176 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. Heifit die Dichte des Isolators d, dann ist das spezifische Volum, das Volum von 1 g der Substanz, gleich -?. Das Volum der in 1 g enthaltenen leitenden Korperchen ist nach obigem xmal so grofi, also -7. Dies Volum mufi nach der Molekulartheorie un- abhangig von Druck und Temperatur sein. x ! K mufi demnach eine von Temperatur und Druck unabhangige Konstante sein. K, die Dielektrizitatskonstante, ist aber gleich dem Quadrate des Lichtbrechungsexponenten fur die meisten Kb'rper, fur diejenigen vor allem, fiir welche die entsprechende magnetische Konstante gleich 1 ist, was fiir die Mehrzahl zu- trifft. Nennen wir den Brechungsexponenten n, so ist K = n2 und ~dn* + 2' Die Erfahrung zeigt in der Tat, dafi diese Gro"Be, das spezi- fische BrechungsvermOgen, in weiten Grenzen konstant ist, was also selbstverstandlich ist vom Standpunkte der Molekulartheorie, dagegen bei der Annahme der Homogenitat unerklart bleibt1). Solcher auffalligen Erfahrungen iiber die Konstanz von GrOfien, bei denen man diese ohne die Molekulartheorie gar nicht erwarten sollte, gibt es mehrere. Wir erinnern an die Un- abhangigkeit der inneren Reibung von Gasen von der Dichte. Bei der Annahme einer homogenen Struktur der Case bleibt die Tatsache ganz unverstandlich und mufi als ganz merkwiirdiger Zufall gelten. Wird aber die Molekulartheorie der Case, die kinetische Gastheorie, vorausgesetzt, so ergibt sich die Er- scheinung ganz von selbst2). Dafi die Case eine diskontinuierliche Struktur haben und dafi die ponderablen Elemente dieser Struktur grofie Entfernungen !) Siehe Riecke, a. a. O., Bd. I, § 257 und Bd. II, § 447. 2) Die Unabhangigkeit der inneren Reibung von der Dichte wurde von der Theorie vorhergesagt und dann durch die Erfahrung bestatigt. Es handelt sich also um ein sch5nes Beispiel einer Verifikation. Wie sehr durch solche Verifikationen die Wahrscheinlichkeit gehoben wird, haben wir im allgemeinen Kapitel iiber Hypothesenbildung auseinandergesetzt. VIII. Die DiskontinuitSt der Materie. 177 haben im Verhaltnis zu ihren eigenen Dimensionen, wird schon durch den sehr kleinen Brechungsexponenten wahrscheinlich, der ihnen eigen ist. Ein Gas, wie unsere Luft, unterscheidet sich im phpsikalischen Verhalten sonst so sehr vom luftleeren Raume, dafi die geringe Verschiedenheit zwischen Luft und luftleerem Raum in Bezug auf die Lichtgeschwindigkeit und Durchlassig- keit sehr auffallig erscheinen mufi. Fiillte ein Luftquantum seinen Raum homogen und kontinuierlich aus, so mtifite eine Wellen- bewegung in diesem Raum sich sehr verschieden verhalten von einer solchen in einem Raume, wo keine Luft vorhanden ware, also nach physikalischer Auffassung im freien Ather. Der sehr geringe Einflufi der Luft und anderer Case auf die Fortpflan- zungsgeschwindigkeit der Lichtwellen erscheint aber sehr klar, wenn man mit der Molekulartheorie der Case annimmt, dafi ein gaserfiillter Raum zum weitaus grofiten Volumteil leer ist, daB die in ihm enthaltenen Teilchen ponderabler Materie nur einen ganz kleinen Teil des Raumes fiillen. Wie die Schallwellen durch die in der Luft suspendierten Staubteilchen, durch eine ganze Staubwolke fast ungehindert hindurchgehen, so geht das Licht durch die Staubwolke von Molekeln im Ather, wenn es ein Gas passiert. Bei Gasen liegen iiberhaupt sehr viele Erscheinungen vor, die fur die Molekulartheorie sprechen — eben weil der Bau dieser Materie am einfachsten, die Trennung der Teilchen nach der Hypothese am ausgepragtesten ist — . Wir erwahnen noch die optischen Phanomene, die zu zeigen scheinen, dafi wir in den Gasen ,,triibe Medien" vor uns haben, im Raume verteilte Par- tikelchen, die bei der Bestrahlung zu Oszillatoren werden und polarisiertes Licht senkrecht zu den erregenden Strahlen aus- senden. Im sogenannten Goldrubinglas hat man eine sehr feine Ver- teilung von Goldkornchen innerhalb des festen Glases vor sich, also einen Fall eines triiben Mediums. Wird dasselbe von einem Lichtstrahl getroffen, so senden senkrecht zu diesem Strahle die Goldkornchen Lichtwellen aus, die polarisiert sind, und zwar geht die Polarisationsebene durch den einfallenden und den vom Kornchen ausgesandten Strahl. Die Theorie der Erschei- nung ist im Prinzip sehr einfach. Durch das sie treffende Licht Becher, Philosoph. Voraussetzungen. 12 178 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. warden die KGrnchen zu kleinen Erregern elektromagnetischer Wellen; die Polarisation des ausfallenden Lichtes versteht sich dann von selbst. Siedentopf und Zsigmondy ist es nun vor nicht langer Zeit gelungen, die strahlenden Teilchen im Gold- rubinglas und in anderen fliissigen triiben Medien direkt einzeln zu sehen. Sie benutzten einen sehr kraftigen erregenden Licht- strahl und beobachteten die Objekte durch das Mikroskop. Im Goldrubinglas sahen sie viele leuchtende Piinktchen, die ihren Ort beibehielten, in Fliissigkeiten dagegen waren die Sternchen in lebhafter Bewegung — die sogenannte Brownsche Molekular- bewegung, d. h. durch die StoBe der Molekel erregte Bewegung, die Gouy als solche deutete. Lord Rapleigh zeigte durch seine Rechnungen, daB das seitwarts von einem triiben Medium ausgestrahlte Licht urn so schwacher wird, je feiner die triibenden Partikelchen verteilt sind. Ist die Materie, speziell die gasfOrmige, molekular aufge- baut, d. h. besteht auch sie aus sehr feinen Teilchen, so muB sie auch als triibes Medium wirken, d. h. seitwarts von der Be- strahlung polarisiertes Licht aussenden, allerdings urn so schwa- cher, als die Molekiile ungemein klein sind. Tyndall sah die Erscheinung an vOllig klarem Wasser; doch mo'gen hier vielleicht immer noch feine im Wasser suspendierte FremdkOrper fiir die Strahlung verantwortlich gemacht werden ko'nnen. Dagegen haben wir in der blauen Farbung des Himmels1) eine Erschei- nung, die auch bei klarster Luft mit solcher Intensitat auftritt, daB sie nur zum kleinsten Teil auf in der Atmosphare schwebende Teilchen zuriickfiihrbar ist2). Die Umstande fiir die Entstehung ') Tyndall hat die Erscheinung des blauen Himmels auch kiinstlich in einem mit Schwefelkohlenstoffdampf und seinen Zersetzungsprodukten gefiillten Rohre hervorgebracht. 2) Auf Grund der Theorie des Phanomens von Lord Rayleigh haben dieser und W. Thomson unter der oben gemachten Annahme, daB die Mit- wirkung von in der Luft suspendierten Fremdkorperchen an den klarsten Tagen verschwindend sei, aus Messungen der Intensitat des Himmelslichtes die Zahl der Molekel im Kubikzentimeter berechnet und rund 24,7 Trillionen gefunden. Diese sogenannte Loschm id tsche Zahl laBt sich noch auf mehreren anderen Wegen berechnen. Die zuverlassigste Berechnung beruht auf der kinetischen Gastheorie und wurde von Loschmidt (Sitzungsberichte der Wiener Akademie 1865, S. 395) zuerst durchgefuhrt. Sie ergibt etwa 21 Tril- VIII. Die Diskontinuita't der Materie. 179 und Beobachtung der Erscheinung sind bei der unsere Erde umgebenden Atmosphare die denkbar giinstigsten. Als Licht- quelle dient die Sonne, die starkste, die fiir uns in Betracht kommen kann. Die Schicht des Mediums ist ungemein dick, so dafi die Wirkung sehr verstarkt wird, da eine Unzahl von als Oszillatoren funktionierenden Teilchen zusammenwirkt. Als Hintergrund hat man den abgesehen von den Gestirnen absolut dunkeln Hintergrund des leeren Weltraumes; Sto'rungen der Er- scheinung durch hinter der Atmosphare liegende Lichtquellen kommen also nicht in Betracht. Das einzige Stftrende ist die Reflexion an der Erde, den Wolken usw. In der Tat ist es nun seit langem bekannt, daB das vom blauen Himmel ausgesandte Licht polarisiert ist in einer Ebene, die durch die Sonne, den beobachteten Punkt und den Beob- achter geht. Die Polarisation ist nahezu vollstandig fiir Strahlen, die senkrecht auf den Strahlen der Sonne selbst, den erregenden Strahlen stehen. Man kann die der Drehung der Sonne ent- sprechende Drehung der Polarisationsebene sogar zur Zeitmessung benutzen, wie das durch Wheatstones Polaruhren geschieht. Kurz, die beschriebenen Erscheinungen (und einige Kompli- kationen derselben) sind ganz denen analog, die man an fein verteilten Stoffen beobachtet, bei denen die Struktur noch durch VergrOfierung direkt erwiesen werden konnte1). Wir ko'nnen von der geschilderten Erscheinung zu der Hypothese von dem Aufbau der Materie aus kleinen Teilchen also wieder durch einen ganz natiirlich sich aufdrangenden AnalogieschluB gelangen. Dabei ist besonders bemerkenswert, daB auch quantitativ die Beobachtungen gut zu den hypotheti- schen Annahmen passen. Es ware nicht schwierig, die Argumente fiir die Molekular- lionen. Auch die anderen Methoden geben Resultate, die so gut uberein- stimmen, als man bei dem Charakter der zugrunde liegenden Beobachtungen und Schliisse erwarten darf. Es ist klar, daB jene Dbereinstimmung sehr die Annahme stiitzt, dafi nicht suspendierte FremdkOrper, sondern die Molekel selbst die Oszillatoren sind, die das blaue Himmelslicht aussenden. Riihrte die Wirkung in erster Linie von Fremdkorpem, Wasser-, Eis- Oder Staubteilchen, so miiBte die von Lord Rayleigh und Thomson berechnete Zahl sehr viel kleiner ausfallen. *) Siehe W. Thomson, a. a. O., S. 154 f. und G. Mie, S. 65—67. 12* 180 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. theorie und ihre Leistungen zu vermehren. Van der Waals leitete aus ihr seine Zustandsgleichung ab, die nicht nur fur stark iiberhitzte Case, sondern auch fiir beliebige Dampfe und Fliissigkeiten und die Obergange aus dem einen in den anderen Aggregatzustand gilt, die kritische Temperatur und den kriti- schen Druck gibt, alles mit weitgehender Genauigkeit. Solche Erfolge der Hppothese miissen ihren Feinden als sehr sender- bare Zufalligkeiten erscheinen. Sie sind in der Tat fiir die Auf- fassung ganz unverstandlich, die in alien Hypothesen nur Fik- tionen erblicken will. Die Vertreter derselben pflegen sich gegen solche Bedenken, die ihnen selbst kommen miissen, zu verteidigen, indem sie ausfiihren, es sei nichts Merkwiirdiges, daB eine Vorstellung, die mehrere Seiten einer Sache wiedergibt, sich auch noch in einer weiteren Richtung der Sache anpaBt; das sei eine Erfahrung, die man auf Grund eines Analogie- schlusses erwarten miisse. Verhalte sich etwas in den Punkten 1, 2, 3 wie eine Wellenbewegung, so konne man sich nicht wundern, dafi das auch in Punkt 4 der Fall sei. Mir scheint dagegen, daB es schon wunderbar ware, wenn sich etwas wie eine Wellenbewegung z. B. verhielte in Punkt 1, 2, 3, ohne doch eine solche zu sein, und ich wiirde es ganz unwahrschein- lich finden, daB die Ubereinstimmung noch weiter ginge bis zu einem Punkte 4. Nahme ich an, daB keine Wellenbewegung vorlage, so wurde ich vielmehr erwarten, daB in einem ferneren Punkte die Ubereinstimmung mit der Wellenbewegung aufho'ren wurde. Auf Grund von Fiktionen kann man nicht prophezeien wollen, wohl aber auf Grund von Hypothesen, die man fiir wahrscheinlich halt. Und bewahrt sich eine Prophezeiung, so spricht das entschieden gegen den rein fiktiven Charakter der Vorstellungen, auf die sich die Voraussage griindete. Der AnalogieschluB, auf Grund dessen die Gegner der Hypothesen prophezeien wollen, muB daher viel ungerechtfertigter erscheinen als der, welcher auf die Hypothesen fiihrt. Der Schb'pfer der Schwingungstheorie einer Erscheinung schlieBt: Die Erscheinung verhalt sich in Punkt 1, 2, 3 wie eine Schwingung, wird also wohl in alien Punkten sich als Schwingung verhalten, eine Schwingung sein. Er darf also vorhersagen, daB in Punkt 4 auch die der Schwingung entsprechende Beobachtung sich ergibt. VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 181 Der Feind der Hypothese gibt nicht zu, dafi es sich um eine Schwingung handelt, d. h. dafi in alien Punkten Obereinstimmung mit den Merkmalen einer Schwingung besteht. Fur ihn bleibt es also hOchst iiberraschend, wenn die Beobachtung eine neue Obereinstimmung ergibt. Es kann ihm nicht einfallen, eine solche zu erschliefien. Die Fiktion einer Schwingungsbewegung Sndert nichts daran; denn sie hat keine Macht im Reiche der Tatsachen. Es bleibt also bei dem hohen Werte der Verifikationen, bei der prinzipiellen Moglichkeit, durch sie eine Hypothese sehr wahr- scheinlich zu machen1). Obersieht man die Stutzen und Erfolge der Molekulartheorie in ihrer Gesamtheit, so wird man geneigt sein, W. Thomson zuzustimmen, wenn er sagt: ,,Die physikalische Wissenschaft liefert hinreichende Beweise, daB die letzte Struktur der Materie in hohem Grade heterogen ist2). Jedenfalls sind die Grtinde, die fiir sie sprechen, ganz der Art, wie die, welche im taglichen Leben eine Annahme aufdrangen und wahrscheinlich machen. Es bleibt nun zu untersuchen, welche Schlusse wir auf den besonderen Charakter der Struktur machen durfen, was wir iiber die Elemente der Struktur und tiber den Aufbau der Materie aus ihnen mit geniigender Wahrscheinlichkeit aussagen ko'nnen. Eine Frage von hervorragender Wichtigkeit ist vor anderen die, ob die Elemente der Struktur scheinbar homogener KOrper gleich oder verschieden sind. Eine aus hinreichender Entfernung homogen erscheinende Mauer kann aus lauter gleichen Steinen, wie den Ziegeln, aufgebaut sein, aber auch aus Bruchsteinen von sehr verschiedener GrOfie und Form; vielleicht ist sie auch aus einem Teil roter und einem Teil gelber Steine zusammen- gesetzt, die auf einige Entfernung hin dem Ganzen eine Orange- farbung geben. Alle diese Falle kommen bei Strukturen vor, die bei mikro- skopischer Betrachtung erkennbar sind. Man denke an den Auf- bau von organischen Geweben, von Mineralien usw. l) Eine Reihe von weiteren Leistungen der Molekulartheorie auf phpsi- kalischem Gebiete aus neuerer Zeit findet man angedeutet bei L. Boltz- mann: Uber die Entwicklung der Methoden der theoretischen Phpsik in neuerer Zeit", Versammlung der Naturforscher und Arzte zu Munchen 1899. J) A. a. O. S. 49. 182 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. Von vornherein ist klar, daB wir die Frage nach der Gleich- heit oder Verschiedenheit der Strukturelemente nur unter Ein- schrankungen beantworten konnen. Wie dem Blinden ein schwarz angestrichener Ziegelstein sich nicht von einem weifi getiinchten unterscheidet, so mOgen auch die Strukturelemente, die sich uns in jeder Hinsicht gleich erweisen, doch in manchem verschieden sein. Es stande nichts im Wege, daB es iiberhaupt zwei vollig gleiche Strukturelemente nicht gibt, wie es nach Leibniz nicht zwei vo'llig gleiche Monaden geben soil. Solche Fragen kOnnen sicher nicht auf Grund der naturwissenschaftlichen Erfahrung beantwortet werden, wenn sie iiberhaupt einer Beantwortung fahig sein sollten, die auf beachtenswerte Wahrscheinlichkeit Anspruch erheben diirfte. Zeigt aber die Naturwissenschaft eine weitgehende Ubereinstimmung in den Wirkungen der Struktur- elemente, so vermag sie wohl eine weitgehende Ubereinstimmung dieser Strukturelemente in der AuBenwelt wahrscheinlich zu machen. Nur der SchluB auf absolute Gleichheit ist mit dem empirischen Charakter der Naturwissenschaft unvertraglich. Er- kenne ich eine in der Dunkelheit homogen erscheinende Masse an ihrer Bewegung usw. als eine Herde, so kann ich daraus, dafi immer dasselbe Brullen hOrbar wird, erschlieBen, dafi die einzelnen Tiere alle ,,gleich" sind, etwa alle Schafe sind. Dabei ist aber unter Gleichheit nicht absolute Gleichheit zu verstehen, sondern Gleichheit innerhalb gewisser Variationsgrenzen. In entsprechendem Sinne ist meines Erachtens die Behauptung der Gleichheit letzter Strukturelemente aufzufassen, handele es sich nun urn Molekule, Atome oder Elektronen. Eine Reihe von Erscheinungen macht es nun in hohem Grade wahrscheinlich, daB wir durch physikalische Trennungsmittel zu Stoffen kommen konnen, deren Strukturelemente in obigem Sinne als gleich zu bezeichnen sind. Es handelt sich um die chemisch einheitlichen KSrper, Verbindungen und Elemente, im Gegensatz zu den Gemischen, die aus Teilchen mehrerer chemisch ein- heitlicher KOrper zusammengesetzt sind (wobei diese Teilchen Molekel sein kftnnen, wie bei Gasen, oder von grftBeren Dimen- sionen sind, wie etwa bei Gemischen pulverformiger Stoffe). Einen Hinweis auf die Gleichheit der Molekel haben wir darin zu finden, daB es uns nicht gelingt, aus einer Stoffmenge zwei VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 183 Stoffe mit verschiedenen Eigenschaften zu trennen1). So finden wir z. B. bei Quecksilberdampf eine Zerlegung in verschiedene Stoffe ganz unmoglich. Bestande Quecksilberdampf aus verschie- denen Teilchen, so wtirde diese Verschiedenheit doch wahrschein- lich benutzt werden konnen, einen Teil der Partikelchen mit beson- deren Eigenschaften in einem Raume fur sich abzusondern, etwa wie wir Eisenteilchen von Kohleteilchen trennen kOnnen durch einen Magneten, durch Schleudern und Schwemmen usw. Mischen wir zwei Case, so gelingt eine derartige Trennung in der Tat durch Absorption, Diffusion, [Condensation usw. mehr oder weniger vollstandig. Als starke Sttitze der Gleichheit der Molekel eines gas- formigen, chemisch einheitlichen KOrpers kann man die Konstanz und Beschaffenheit der Gasspektra betrachten. Befanden sich im Natriumdampf Teilchen von alien mo'glichen Beschaffenheiten und GrOBen, so miiBten im Zustande des Gluhens auch Wellen von alien moglichen Langen ausgesandt werden, d. h. es ware nicht moglich, daB das Spektrum aus der einfachen Doppellinie bestande. Bei anderen Gasen ist nun das Spektrum allerdings weniger einfach, immer aber doch diskontinuierlich mit bestimm- ten, festliegenden 2) Linien. Es sind dann also mehrere feste Wellangen in dem vom Case ausgesandten Lichte vertreten. Da- mit ist aber immer noch ausgeschlossen, daB die Molekel alle moglichen, beliebigen, wechselnden GrOBen und Beschaffenheiten haben. Es ware mOglich, daB eine Reihe von verschiedenen Teil- chen vorhanden ware, die Gruppen von gleichen bildeten. Die Physik hat Griinde, die zahlreichen Linien zum Teil auf den Aufbau der Molekel aus den Atomen, zum Teil vielleicht auf den Aufbau der Atome aus noch kleineren Elementen, Elektronen etwa, zuruckzufuhren. Sehr bedeutsam ist das Argument, welches sich aus den Tatsachen der Kristallographie ergibt. Bei der groBen Mannig- J) Ohne die Molekel zu spalten. Hier wird die Verwicklung, die durch den Aufbau der Molekel bedingt ist, mit Absicht noch nicht in Betracht gezogen. *) Das ist natiirlich mit den notigen Einschrankungen zu nehmen. Tem- peratur- und Druckveranderungen, Bewegungen, magnetische Kra'fte usw. kOnnen gewisse Veranderungen bedingen. 184 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. faltigkeit der Kristallformen muB es iiberraschen, daB keine ein- zige Form mit einer ftinf-, sieben-, acht- oder neunfachen Symme- trieachse existiert. Diese Formen sind nun in der Tat unmog- lich, wenn die Kristalle aus lauter gleichen und gleich wirkenden Teilchen aufgebaut sind. Beim Aufbau eines Korpers aus gleichen Teilchen, von denen jedes auf die benachbarten nach denselben Gesetzen wirkt, ergeben sich als allein mo'glich gerade alle jene Arten von Symmetric, die wir bei den Kristallen finden. Man versuche einmal, die Wahrscheinlichkeit abzuschatzen, daB dieses Zusammentreffen Zufall sei! Wir miissen demnach annehmen, daB die Molekel eines chemisch einheitlichen Stoffes alle gleich sind, da die chemich einheitlichen KOrper fast alle kristallisieren unter geeigneten Bedingungen *). Auf eine Vorfiihrung weiteren Materials aus dem Tatsachen- gebiet der Physik glaube ich mit Rucksicht auf den Zweck dieser Darlegungen verzichten zu diirfen; es ist unschwer zu finden. Ich tue das um so eher, als die chemische Molekular- und Atom- theorie weitere Griinde von groBer Beweiskraft liefern, auf die noch kurz einzugehen ist. Als passende Einfuhrung in die Grundgedanken und Vor- aussetzungen dessen, was wir als chemische Molekular- und Atomtheorie bezeichneten, soil indessen aus dem Gebiete der Physik noch die Auffassung beleuchtet werden, die die Molekular- theorie in ihrer Anwendung auf die Verschiedenheit der Aggre- gatszustande bietet. Quecksilber in fliissigem und in gasformigem Zustande sind zwei Korper, die sich in vieler Hinsicht ungemein verschieden verhalten. Die zu besprechende Hypothese schiebt den ganzen Komplex von Verschiedenheiten auf die verschiedene Art, in der die Quecksilbermolekel die Fliissigkeit oder das Gas aufbauen, dagegen betrachtet sie die Bausteine, die Molekel, in den verschiedenen Aggregatszustanden als gleich2). Wie bereits angedeutet wurde, sind die Eigenschaften eines Korpers einerseits bedingt durch die seiner Molekel, andererseits durch die Art, wie aus den Molekeln der Korper aufgebaut ist ') Vergl. hierzu die kurze Darstellung bei G. Mie, a. a. O. S. 28—30. *) Auch hier ergeben sieh bei genauerer Betrachtung oft Verwicklungen, indem bei festen Korpern groBere, kompliziertere Molekiile anzunehmen sind, Dissoziationen vorkommen usw. VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 185 — genau wie die Beschaffenheit einer Mauer von der der Steine auf der einen, von der Art der Zusammenfugung auf der anderen Seite bedingt 1st. Es fragt sich nun, welche Eigenschaften eines Korpers auf Rechnung der Eigenschaften seiner Molekel, welche auf die der besonderen Art des Aufbaues kommen. Dabei ver- steht sich von selbst, dafi die Art des Aufbaues mit bedingt ist durch die Eigenschaften der Molekel, wie der Aufbau einer Mauer bedingt wird durch die Beschaffenheit der Bausteine; aber diese Bedingtheit ist kein Bestimmtsein. Die gleichen Molekel ko'nnen immerhin in verschiedener Weise Korper bilden, wie die gleichen Ziegel in verschiedener, mehr oder weniger fester Art zusammen- gefiigt werden ko'nnen. Wir wollen uns ein Gefafi vorstellen, in dem durch einSchaufel- rad eine lebhafte Bewegung der Luft hervorgebracht werden kann. Auf dem Boden des Gefafies befinde sich eine Anhaufung eines feinen leichten Staubes. Dieser Staubhaufen hat scharf begrenzte Konturen, die nicht mit denen des Gefafies zusammen- fallen; er lafit kein Licht durch, ist wenig kompressibel, vielleicht ein guter Leiter der Elektrizitat, der Warme. Nun setzen wir unser Schaufelrad in eine allmahlich schneller werdende Be- wegung. Der Staubhaufen wird kleiner und kleiner und ver- schwindet schliefilich ganz. Dafiir ist nun unser Gefafi mit einer Staubwolke gefiillt, die eine Reihe ganz anderer Eigenschaften hat. Sie hat keine eigenen Begrenzungsflachen, die nicht mit denen des Gefafies zusammenfielen, sie lafit Licht durch, ist sehr kompressibel, leitet Warme und Elektrizitat weit schlechter usw. Andere Eigenschaften haben der Staubhaufen und die Staub- wolke gemeinsam. Beide haben dieselbe trage Masse, werden von der Erde gleich stark angezogen; das chemische Verhalten ist ahnlich, wenn auch nicht gleich. Ist etwa der Staubhaufen brenn- bar, so gilt das auch von der Staubwolke, nur erfolgt im letzteren Falle die Verbrennung schneller, unter einer Licht- und Flammen- erscheinung, wahrend sie vielleicht im Staubhaufen sich als ein fortschreitendes Gliihen vollzieht. Lafit die Rotation des Schaufelrades allmahlich nach, so sammelt sich am Boden wieder die undurchsichtige Staubmasse nach und nach an, die wir anfangs vor uns sahen. Durch solche Erfahrungen wird die molekulartheoretische 186 VIII. Die DiskontinuitSt der Materie. Auffassung der Aggregatszustande nahegelegt. Verdampft eine Substanz, so verschwindet Materie mit eigenen scharfen Be- grenzungsflachen, die eventuell wenig oder kein Licht durchlafit, gut Warme und Elektrizitat leitet, schwer kompressibel ist. Dafiir entsteht ein Dampf, der keine eigenen Begrenzungsflachen hat, Licht durchlafit, Warme und Elektrizitat schlecht leitet. Hat so der Dampf eine Reihe von Eigenschaften, die mit denen seiner Fliissigkeit nichts gemein haben, so stehen diesen andere gegeniiber, die nicht oder weniger variabel sind. Tra'ge Materie und Gewicht, d. h. Anziehung durch die Erde, sind ganz konstant geblieben. Auch die chemischen Eigenschaften des Dampfes pflegen nur wenig verandert zu sein, nur die Intensitat der Verbrennungserscheinungen etwa ist bei Gasen grOfier. In alien diesen Beziehungen verhalt sich der Dampf analog der Staubwolke, die Fliissigkeit (oder auch der sublimierende feste Korper) analog dem angehauften Staube. Tritt nach der Verdampfung Abkiihlung ein, so verschwindet der Dampf und die Fliissigkeit kommt wieder zum Vorschein. Die einfachen Beobachtungen an dem Staubhaufen und der Staubwolke zeigen, dafi die starken Veranderungen einer Reihe von Eigenschaften, wie wir sie etwa bei der Verdampfung vor uns sehen, in der Tat auf Anderungen der Struktur zuriickfiihrbar sind, ohne dafi die Teilchen sich zu andern brauchen. Kein Mensch zweifelt daran, dafi in dem stauberfiillten Gefa'fi die Staubteilchen dieselben bleiben wahrend der starken Veranderung, die sich vor unseren Augen abspielt, dafi allein die Struktur der Staubwolke diese vom Staubhaufen unterscheidet. In der ersteren sind die Teilchen in viel grofierer Entfernung, in schneller Be- wegung im Gegensatz zu den Teilchen des Staubhaufens. Warum sollte es sich bei der Verschiedenheit von Fliissigkeit und Dampf nicht ebenso verhalten? Jene Eigenschaften, die den verschiedenen Aggregatszu- standen gemeinsam sind, werden vermutlich zum grb'fiten Teil den Partikelchen selbst zuzuschreiben sein, wie Tragheit, Gravi- tation, chemische Verbindungsfahigkeit. Diejenigen, die fur die verschiedenen Aggregatszustande ganz verschieden sind, kommen wahrscheinlich in der Hauptsache auf Rechnung des Aufbaues, der Struktur, wie das Verhalten gegen Druck z. B. Andere VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 187 Eigenschaften sind natiirlich ebenso durch die Eigenart der Molekel, wie durch die Struktur, den Aufbau bedingt, wie die Wellenlangen des ausgesandten Lichtes, das Spektrum. Das Spektrum eines Stoffes ist abhangig von der Eigenart der Molekel beim Stoffe in Dampfform, aber auch von der Struktur; denn wahrend der Stoff in Dampfform ein diskontinuierliches Spektrum gibt, liefert er im festen Zustande stets ein kontinuierliches Spektrum. Diese Verschiedenheit stimmt auf das beste mit der von der molekulartheoretischen Auffassung anzunehmenden Ver- schiedenheit des Dampfes von seinem festen Stoffe. Im Dampfe sind die Teilchen weit genug auseinander, urn sich wenig oder fast nicht in ihren Eigenschaften als mehr oder wenig einfache Erreger Hertzscher Wellen zu beeinflussen und zu storen. Im festen Korper aber sind die Teilchen so nahe, dafi die Storungen ganz die Oberhand gewinnen, und nicht mehr die den Molekeln eigenen Schwingungen, sondern alle moglichen anderen zur Ent- stehung kommen. Wir wollen es bei diesen Andeutungen lassen, ohne weitere Argumente fur die molekulartheoretische Auffassung der Ver- schiedenheit der Aggregatszustande ins Feld zu fiihren. Nur eins mOge noch erwahnt werden: van der Waal s Darlegungen iiber die Kontinuitat des dampffo'rmigen und fltissigen Zustandes. Diese in so weiten Grenzen mit der Beobachtung harmonierenden Ableitungen beruhen auf der molekulartheoretischen Annahme, dafi die Teilchen in Dampf und Fliissigkeit dieselben sind, dafi aber der Aufbau, vor allem die Entfernungen und Bewegungen der Teilchen die Verschiedenheit bedingen. Unter gewissen Umstanden verblassen und verschwinden uberhaupt die Unter- schiede zwischen dem fliissigen und dem dampfformigen Zu- stand '). Die Theorie gibt von alien diesen Besonderheiten der Zustandsanderungen Rechenschaft. Steht einmal die Hypothese fest, dafi sowohl Case wie Flussigkeiten eine molekulare, kOrnige Struktur haben, und iiber- dies, dafi die Teilchen bei Gasen besonders grofie Entfernungen haben, so ergibt sich die Annahme fast von selbst, dafi eine J) Genau wie die Unterschiede zwischen Staubhaufen und -wolke in. engem GefaBe. VIII. Die Diskontinuitat der Materie. Flussigkeit und ihr Dampf aus denselben Teilchen aufgebaut sind. Der Schlufi ist in der Tat von demselben Charakter wie der, welcher uns glauben macht, dafi die erwahnte Staubwolke und der Staubhaufen aus den gleichen Teilchen bestehen. Als Vorbereitung auf die als chemische Molekular- und Atomtheorie bezeiehnete Auffassung eignet sich die Molekular- theorie der Aggregatszustande dadurch, dafi sie zeigt, wie stark die Eigenschaften eines Stoffes durch die Art des Aufbaues aus den Teilchen bedingt sind. Eine solche starke Bedingtheit ist aber die wesentlichste Voraussetzung der chemischen Hypo- thesen, an die wir nun herantreten. Eine Mischung von Eisen- pulver und Schwefelpulver hat eine Reihe ganz anderer Eigen- schaften als das Schwefeleisen, das bei geniigender Erwarmung aus der Mischung entsteht. Und doch unterscheiden sich die Mischung und das Schwefeleisen nach der Auffassung, die wir nun betrachten, allein durch die Art des Aufbaues aus den Teilchen, durch die Struktur. Beides, die Mischung und die chemische Verbindung, sollen aus den gleichen Teilchen, Eisen- atomen und Schwefelatomen bestehen, nur sollen in der Mischung immer zahlreiche Eisenatome einerseits, zahlreiche Schwefelatome andererseits naher aneinanderliegen, wahrend in der Verbindung Eisenteilchen und Schwefelteilchen in engeren Zusammenhang gebracht sind. Wir haben gesehen, dafi starke Anderungen der Eigen- schaften lediglich infolge von StrukturSnderungen nicht unerhSrt sind, sondern durch Vorgange unter unseren Augen als wohl mo'glich erwiesen werden. Wir werden uns also nicht wundern, solche Anderungen bei der chemischen Verbindung in obigem Beispiel sich vollziehen zu sehen. Man kann in Bezug auf das physikalische Verhalten kaum sagen, dafi sich obige Mischung von Schwefeleisen mehr unterscheidet als eine Staubwolke von einem Staubhaufen, oder als Quecksilberdampf von Quecksilber. Indessen fanden wir beim Aufwehen des Staubes wie bei der Anderung des Aggregatszustandes auch Eigenschaften, die unver- andert bestehen blieben. Es waren vor alien anderen aber zwei, die trage Masse und die Erdanziehung, das Gewicht. Fur die vorliegende Hypothese, dafi die Umwandlung der Mischung in eine chemische Verbindung lediglich eine Strukturanderung sei, ist VIII. Die Diskontinuitat der Materie. es natiirlich sehr bedeutungsvoll, dafi diese Grofien auch bei jener Umwandlung ganz konstant bleiben. Betrachten wir nun einmal den Vorgang bei einer chemischen Verbindung zweier elementarer Case etwa, die wir A und B nennen wollen. Beide Case haben eine ultramikroskopisch feine Struktur. Ferner ergab sich uns schon, dafi die Strukturelemente chemisch einheitlicher Stoffe gleich sein miissen. Denn chemisch einheitlich sind solche Korper, die durch mechanische Prozesse, wie Auslesen, Schlemmen, Filtrieren, Diffundieren usw. nicht mehr in verschiedene Stoffe teilbar sind. Waren die Strukturelemente von einem Case, von A etwa, nicht untereinander gleich, so mufiten sie z. B. verschieden schnell diffundieren. Durch Diffu- sion ware A in zwei Case At und A2 zerlegbar, die vielleicht aus grofieren und kleineren Strukturelementen bestanden. Beide Case wurden sich auch physikalisch unterscheiden, z. B. eben durch ihre Diffusionsgeschwindigkeiten. Halten wir an diesen Voraussetzungen fest, die durch die physikalischen Grundlagen der Molekularhypothese wahrschein- lich gemacht werden, so ergibt sich iiber den chemischen Prozefi der Verbindung von A und B folgendes. Zunachst mufi die chemische Verbindung in einer Verkniipfung der Strukturelemente bestehen. Denn sonst ware nicht einzusehen, worin der durchgreifende Unterschied einer Mischung gegeniiber bestehen sollte. Machen wir einmal diese Annahme, die sehr nahe liegt. Dann sind verschiedene Falle moglich. Entweder verknupft sich je ein Strukturelement von A mit einem von B, oder es treten mehrere Strukturelemente von A und B in Verkniipfung. Im ersteren Falle sei die Verbindung durch die Formel AB, im letz- teren, allgemeinen durch AnBm symbolisiert. Vielleicht bleiben auch noch unverbundene Teile von A und B zuriick. Das Resultat des chemischen Prozesses ist demnach entweder ein chemisch einheitlicher Korper von der Formel AnBm — im einfachsten Falle AB — oder ein Gemisch von verschiedenen Stoffen, die alle unter die Formel AnBm fallen, wobei n oder m auch Null sein kOnnen. Durch mechanische Mittel sind wir im- stande, die einheitlichen Stoffe aus diesem Gemische zu gewinnen. Wir denken uns den Trennungsvorgang der verschiedenen Ver- 190 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. bindungen vollzogen und betrachten einen bestimmten der Stoffe AnBm, etwa A2B3. Das Gewicht des Strukturelementes von A2 B3 betragt das Doppelte des Gewichtes des Elementes von A, vermehrt urn das Dreifache von B. In grofieren Mengen von A2 B3 1st die Zusammensetzung prozentual dieselbe wie im Struktur- element. Verhalten sich die Gewichte der Strukturelemente von A und B wie a und b, so sind demnach allgemein die prozen- tualen Mengen von A und B in der Verbindung AnBm in dem Verhaltnis na: mb vorhanden. Hierbei sind n und m stets ganze Zahlen. Jedes Element hat eine durch das (relative) Gewicht seines Strukturelementes gegebene charakteristische Zahl, die man als Atomgewicht bezeichnet. Es ergibt sich also der Satz: Die Elemente verbinden sich miteinander zu chemisch einfachen Stoffen nicht in beliebigen VerhUltnissen, sondern nur im Ver- haltnis der Atom- oder Verbindungsgewichte, oder ganzzahliger Multiplen dieser GrOfien. So existieren folgende Stickstoff-Sauer- stoffverbindungen, deren verhaltnismaBige Zusammensetzungen durch die hinzugefiigten Zahlen angegeben sind: Stickoxydul Stickoxyd Stickstofftrioxyd Stickstoff: 2-14 2-14 2-14 Sauerstoff: 16 2-16 3-16 Stickstofftetroxyd Stickstoffpentoxpd Stickstoff: 2-14 2-14 Sauerstoff: 4-16 5-16. Aus der Annahme, dafi Elemente aus gleichen Strukturteilchen aufgebaut sind, und der Voraussetzung, daB Verbindungen durch die Verkniipfung von Strukturelementen entstehen, ergibt sich das wichtigste quantitative Grundgesetz der Chemie, zu dem D alt on in den Jahren 1807/8 gelangte. Dalton selbst fiihrte das von ihm entdeckte Gesetz der mul- tiplen Proportionen in seinem ,,New System of chemical Philo- sophy" (1808) auf eine atomistische Konstitution der Materie zu- riick. Durch ihn wurde die atomistische Theorie zur Grundlage der theoretischen Chemie. In der Tat gelingt es auf keinem an- deren Wege, jenes Gesetz mit seinen unendlich vielen und mannigfaltigen Bestatigungen zu erklaren. Wurden sich Stick- stoff und Sauerstoff nur in einer Verbindung vereinigt finden, VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 191 so wiirde es noch nicht so sehr auf die atomistische Theorie hindeuten, wenn in dieser einen Verbindung bestimmte Gewichts- verhaltnisse herrschten. DaB aber immer wieder dasselbe relative Sauerstoffquantum hinzutritt in den weiteren Verbindungen, weist auf einen atomistischen Aufbau deutlich bin. Auch die folgende Tatsache ist mir immer besonders ge- wichtig erschienen. In der Verbindung NaOH kommen auf 1 Teil Wasserstoff 23 Teile Natrium. In der Verbindung HC1 kommen auf 1 Teil Wasserstoff 35,5 Teile Chlor. Beide GesetzmaBig- keiten drangen nicht so sehr fur sich zur Bildung der atomistischen Theorie, als in Verbindung mit folgender dritten GesetzmaBigkeit: In der Verbindung NaCl kommen auf 23 Teile Natrium wieder 35,5 Teile Chlor. Die Verhaltniszahlen gelten also nicht nur fur eine Verbindung, sondern fur alle, in denen dieselben Stoffe wiederkehren. Diese uberaus merkwiirdige Tatsache ist ohne Atomtheorie ganz unverstandlich, bei Annahme dieser Auffassung aber selbstverstandlich, weil eben die gleichen Atome mit ihren konstanten Gewichten in die verschiedenen Verbindungen ein- treten. Die Annahme einer Struktur scheinbar homogener Stoffe hat in der Form, die ihr als Erklarungshypothese des Daltonschen Satzes zu geben ist, mannigfache Stiitzen auf physikalischem und chemischem Gebiete gefunden. Hier soil an die Beziehungen zwischen Molekulargewicht und Dampfdichte, zwischen Atom- gewicht und spezifischer Warme usw. nur erinnert werden. Die Erfahrungen der Chemie sind es, welche genaueren Auf- schluB iiber die Strukturelemente der Materie zunachst ergeben. Sie haben gelehrt, daB es 80—100 verschiedene Atome gibt. Diese Atome sind jedoch nur bei einigen wenigen Metallen direkt als Strukturelemente zu betrachten, auf die fortgesetzte mechanische Teilung stoBen wiirde. Bei fast alien Stoffen, einschlieBlich der Elemente, bilden Atomkomplexe die Bausteine. Die Komplexe enthalten zwei oder mehr Atome. Bei den meisten Stoffen ist die Zahl der Atome im Atomkomplex, im Molekel, klein; bei manchen organischen Verbindungen, z. B. bei den EiweiBkOrpern, ist sie ziemlich groB. Ober die Art der Atomverkniipfung er- geben sich auch mancherlei Aufschliisse. Man vermag zu sagen, an welches Atom ein anderes oder ein Atomkomplex gebunden 192 VIII. Die Diskontinuita't der Materie. ist. Die Art der Bindung, der Ort, wo sich Atome oder Atom- gruppen im Molekul ansetzen, spiegeln sich im chemischen und physikalischen Verhalten, z. B. in der Drehung der Polarisations- ebene. So vermftgen Pbpsik und Chemie zusammenzuwirken bei der Arbeit, die Molekularstrukturen zu erforschen. Immer aber sind die Schlufiweisen, die zur Anwendung kommen, die gleichen, denen wir im taglichen Leben Vertrauen schenken, weil sie mehr oder weniger wahrscheinliche Erkenntnisse zu geben vermb'gen. Es ist in den meisten Fallen leicht, den chemisch-physikalischen Schlussen ganz entsprechende Schlufiweisen aus dem praktischen Denken zur Seite zu stellen. Wir haben solche Vergleiche im Anfange dieses Kapitels ausgefiihrt. Prinzipiell Neues wtirde eine weitere Durchfiihrung nicht ergeben. Wir kb'nnen daher auf eine solche Verzicht leisten. Wenn man bedenkt, wie nahe die wenigen Grundannahmen der Molekular- und Atomtheorie liegen, wenn man ferner bertick- sichtigt, einem wie grofien chemisch-physikalischen Tatsachen- material sie gerecht werden, wie zahlreiche neue Erscheinungen durch sie erklart worden sind, wie endlich alle die Teilgebiete und Einzelausbildungen der Hypothese untereinander harmonieren, so wird man ihr eine hohe Wahrscheinlichkeit nicht absprechen konnen. Die Erfolglosigkeit der Versuche, die Elemente zu zerlegen oder ineinander umzuwandeln, hat zuweilen Chemiker zu der voreiligen Behauptung verleitet, die Atome seien absolut unteil- bar, wie es die griechischen Atomisten meinten. Vorsichtige Chemiker haben demgegeniiber immer wieder die nur relative Unteilbarkeit betont. Prout vermutete, alle Elemente bestanden aus Wasserstoff und ihre Atome seien nichts als Systeme von Wasserstoffatomen (1815). Alle Atomgewichte mufiten demnach ganze Vielfache vom Atomgewicht des Wasserstoff es sein, also ganze Zahlen, wenn man in der ublichen Weise das Atomgewicht des Wasser- stoff es 1 setzt. Berzelius machte sehr bald darauf aufmerksam, dafi die Proutsche Annahme fur Blei nicht stimme. Durch ge- nauere Atomgewichtsbestimmungen durch Stas wurde die Prout- sche Hypothese endgiiltig widerlegt. Indessen ergaben sich neue Resultate, die die Frage nach VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 193 einem Aufbau der Atome lebendig erhielten. Die Atomgewichte einer Reihe von chemisch und physikalisch verwandten Elementen stehen in ahnlichen Beziehungen, wie die Molekulargewichte mancher Reihen von Kohlenstoffverbindungen, die ebenfalls physi- kalische und chemische Analogien zeigen. Z. B.1): Atome Molekel Radikale Li = 7 Methylalkohol CH4O = 32 Methyl CH3 = 15 Diff. = 16 Diff. = CH2 = 14 Diff. = CH2 = 14 Na = 23 Athylalkohol C2H5O = 46 Athyl C2H5 = 29 Diff. = 16 Diff. = CH2 = 14 Diff. = CH2 = 14 K = 39 Propylalkohol C3H7O = 60 Propyl C3H7 = 43 Solche AtomgewichtsregelmaBigkeiten fuhrten schliefilich zum periodischen System der Elemente von L. Meyer und Men- delejeff, welchem sich aufier den Atomgewichten zahlreiche chemische und physikalische Eigenschaften einordneten, wie Wertigkeit, Atomvolum, Dehnbarkeit, Schmelzpunkt, spezifische Warme, Brechungsvermogen usw. Auf Grund dieses Systems gelang es, die Existens und physikalische und chemische Eigen- schaften noch unentdeckter Elemente vorauszusagen. Diese Vor- aussagen haben sich oft vorziiglich bestatigt. Es ist klar, dafi solche Erfahrungen auf einen Aufbau der Atome aus einer oder mehreren gemeinsamen Grundsubstanzen hindeuten mufiten. Jedoch gelang es zunachst nicht, hypothetische Einblicke in diesen Aufbau zu tun. Die Hypothese vom atomistischen Aufbau der Elektrizitat, die Elektronentheorie beginnt, auch iiber die Konstitution der Atome Licht zu verbreiten. Wir miissen uns damit begnugen, die Art und Weise kurz anzudeuten, in der diese in den letzten beiden Jahrzehnten geschaffene Hypothese den Bau der Atome auf- fafit. In der Begrundung kOnnen nur die Hauptpunkte gestreift werden. Weber hatte bereits im Jahre 1871 eine atomistische Struktur der Elektrizitat angenommen, um die Wechselwirkungen zwischen *) Siehe Pol is: Grundziige der theoretischen Chemie, Aachen 1887, oder andere Lehrbucher der theoretischen oder organischen Chemie. Be cher, Philosoph. Voraussetzungen. 13 194 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. elektrischen Stromen zu erklaren. Doch blieben seine Annahmen ziemlich wirkungslos, weil die Resultate, zu denen er gelangte, nicht einwandfrei waren, auch weitere wenig zusagende Voraus- setzungen seine Auffassung komplizierten. Als eigentlicher Vater der Elektronentheorie hat Helmholtz zu gelten, der 1881 zeigte, daB Farad ays elektrolytische Grund- gesetze zur Annahme elektrischer Elementarmengen ftihren, die einer gesonderten Existenz wenigstens auf kurze Zeit fahig sind. Das erste Faradaysche Gesetz sagt aus, dafi bei der Elektrolyse Stromstarke und Menge des zersetzten Elektrolyten proportional sind; das zweite Faradaysche Gesetz lautet: Derselbe Strom zersetzt beim Durchgang durch verschiedene Elektrolyte chemisch aquivalente Mengen. Aus beiden Gesetzen folgt, daB jedes im Elektrolyten unter dem EinfluB des Stromes wandernde einwertige Ion, sei es Atom oder Radikal, stets die gleiche Elektrizitatsmenge zur Elektrode transportiert, jedes zwei-, drei-, oder vierwertige die zwei-, drei- oder vierfache Elektrizitatsmenge, ganz unabhangig von der Natur des Elektrolyten. Da bei der Abgabe dieser Menge vom Ion an die Elektrode dieselbe wenigstens einen Augenblick isoliert existieren muB, gibt es getrennt existierende elektrische Elementarquanta. Alle einwertigen lonen geben das gleiche kleinste Elektrizitatsquantum, die zweiwertigen zweimal dieses Quantum usw. Zu einer genaueren Kenntnis getrennt existierender sehr kleiner Elektrizitatsmengen gelangte man durch das Studium der Katho- denstrahlen verschiedenen Ursprungs. Diese gehen zunachst senkrecht von der Kathode der Crookeschen Rohren aus. Eine Crookesche Rohre ist ein mit stark verdiinnter Luft gefiilltes Glasgefafi, in das zwei Elektroden miinden, die mit den Polen einer hochgespannten Stromquelle verbunden werden. Durch eine dtinne Aluminiumfolie treten so erzeugte Katho- denstrahlen aus der ROhre in die umgebende Luft von gewOhn- licher Dichte. Die austretenden Kathodenstrahlen heiBen Lenard- Strahlen. Von erwarmten Elektrolyten, die man als Elektroden benutzt, gehen Kathodenstrahlen aus. Ebenso senden weifigluhende Metalldrahte und Kohle Katho- denstrahlen aus. VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 195 Ultraviolettes Licht, das eine Kathode trifft, erregt diese zur Strahlenbildung. Endlich senden radioaktive Substanzen Kathodenstrahlen neben anderen Strahlenarten aus. Man halt die Kathodenstrahlen jetzt fiir Stro'me schnell beweglicher, kleiner, negativelektrisch geladener Teilchen. Die elektrische Ladung, die die Strahlen mit sich fiihren, wies 1895 J. P err in nach, indem er sie in einem mit einem Elektroskop ver- bundenen Faradayschen Kafig auffing. Zwei einander kreuzende Stro'me von Kathodenstrahlen storen einander ebensowenig, wie etwa zwei Stro'me von Flintenkugeln, die von in einem Winkel zueinander feuernden Abteilungen Soldaten ausgesandt werden. Dadurch wird nahegelegt, dafi die Kathodenstrahlen aus kleinen getrennten Teilchen bestehen, nicht aus einem homogen Strome. Durch die durch jene Teilchen in feuchter Luft veranlafite Nebel- bildung, bei der jedes geladene Teilchen Kern eines Nebel- trb'pfchens wird, ist man sogar in Stand gesetzt, die Zahl der- selben festzustellen. Sind aber die Kathodenstrahlen Stro'me elektrisch geladener Teilchen, so miissen sie im homogenen elektrischen Felde eine parabolische Ablenkung in der Ebene des Strahles und der Kraftlinien erfahren. Ferner miissen sie in einem homogenen magnetischen Felde zu Kreisen umgebogen werden, um die Kraftlinien des Feldes als Achse. Bei alien Arten von Kathodenstrahlen werden beide Erscheinungen be- obachtet. Die elektrische und die magnetische Ablenkung geben Mittel zu einer quantitativen Untersuchung der Strahlen, bezw. der sie bildenden Teilchen, an die Hand. Bei bekannter Intensitat der ablenkenden elektrischen und magnetischen Felder ist die GrOfie der Ablenkung durch zwei Daten bestimmt, durch die Ge- schwindigkeit der Teilchen und durch das Verhaltnis ihrer Ladung zu ihrer Masse. Mifit man die Gro'fie der elektrischen und der magnetischen Ablenkung bei einer bestimmten Intensitat der ab- lenkenden Felder, so erhalt man zwei verschiedene Gleichungen, in denen als Unbekannte jene Geschwindigkeit und jenes Ver- haltnis stehen. Beide Grofien kOnnen also berechnet werden. Des Condres und Wie chert haben ubrigens die Geschwindig- keit auf direktem Wege festzustellen vermocht. Sie ist von der 13* 196 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. GrOfienordnung der Lichtgeschwindigkeit. Bei den schnellsten vom Radium ausgesandten Kathodenstrahlen nahert sie sich der Lichtgeschwindigkeit, also 300000km in der Sekunde. Berechnet man das Verhaltnis von Ladung und Masse bei einem Wasserstoffion, wie es bei der Elektrolyse auftritt, so ergibt sich ein ganz bedeutend kleinerer Wert, als bei den Teilchen der Kathodenstrahlen. Setzt man voraus, dafi geladenes Wasser- stoffatom und Kathodenstrahlenteilchen die gleiche Ladung haben, so ergibt sich die Masse jener Teile bedeutend, etwa 1000 bis 2000mal kleiner als die eines Wasserstoffatoms. Jene Voraussetzung der gleichen Ladung scheint in der Tat zutreffend zu sein. Wie schon erwahnt wurde, ist man imstande, die Zahl der elektrischen Teilchen vermOge ihrer Eigenschaft, Kerne von NebeltrSpfchen zu werden, festzustellen. Ferner kann man die Ladung einer so festgestellten Zahl von Teilchen durch elektrisch geladene Flatten abfangen und auf diese Weise fest- stellen. Hat man Zahl und Ladung einer Menge von Teilchen, so ist damit die Ladung eines Teilchens gegeben. Kennt man Ladung und Verhaltnis von Ladung und Masse, so ist die Masse ebenfalls bekannt. Es ergibt sich also die Ladung eines Kathodenstrahlteilchens wahrscheinlich gleich der eines Wasserstoffions; die Masse des letzteren oder des Atoms ist aber ganz bedeutend grofier. Indessen ergibt sich nicht bei alien Kathodenstrahlen die- selbe Gro"fie fur die Masse der Teilchen. Kaufmann zeigte, dafi das erwahnte Verhaltnis von Ladung und Masse bei den vom Radium ausgesandten Kathodenstrahlen kleiner und kleiner wird, wenn sich die Geschwindigkeit der des Lichtes nahert. Da kein Grund fur eine Anderung der Ladung mit der Ge- schwindigkeit spricht, mufi man annehmen, dafi die Masse wenig- stens scheinbar mit ihr zunimmt. Eine solche scheinbare Zunahme der Masse der Teilchen ist in der Tat nicht unerhOrt. Zunachst ist offenbar ein Teil der aus dem erwahnten Verhaltnis berechneten Masse nur scheinbar vorhanden. Eine bewegte elektrische Ladung ruft wie ein elektrischer Strom um sich ein Magnetfeld hervor. Wird die Bewegung der Ladung beschleunigt, so wird die Intensitat des Magnetfeldes grOfier. Dieses Steigen der Feldintensitat wirkt VIII. Die Diskontinuita't der Materie. 197 aber der Bewegung des Teilchens hemmend entgegen. Eine BewegungsverzOgerung der Ladung ruft eine Anderung der Feldintensitat hervor, die jenerVerzOgerung entgegenwirkt. Der so bedingteWiderstand gegen Beschleunigung oder VerzOgerung der geladenen Teilchen verhalt sich ebenso, wie der durch die Massentragheit einer Geschwindigkeitsanderung entgegenge- setzte Widerstand. Die aus obigem Verhaltnis berechnete schein- bare Masse mufi sich demnach zusammensetzen aus der wirk- lichen tragen Masse des Kathodenstrahlenteilchens und aus einem Summanden, der durch die elektrische Ladung zustande kommt. Fur die GrOfie dieses zweiten Summanden hat Abraham einen Ausdruck abgeleitet, der abhangig ist von der Ladung des Teilchens und von seiner Geschwindigkeit. Aus diesem Ausdruck ergibt sich zunachst in Obereinstimmung mit den experimentellen Resultaten Kaufmanns ein schnelles Wachstum der scheinbaren Masse, wenn sich die Geschwindigkeit der Teilchen der des Lichtes nahert. Ferner aber zeigt sich beim Vergleich dieses Summanden mit den aus den von Kaufmann bestimmten Verhaltnissen von Ladung und Masse sich ergebenden Werten fiir die ganze Masse, dafi die wirkliche trage Masse der Teilchen entweder Null sein mufi oder doch nur einen sehr kleinen Teil der schein- baren ausmachen kann. Man neigt im allgemeinen der ersteren Annahme zu. Es zeigt sich also, dafi die verschiedenen negativen Strahlungen aus kleinen elektrischen Elementarquanten bestehen, die fiir sich existieren kOnnen, ohne mit mechanisch-trager Masse behaftet zu sein. Doch erhalten diese Teilchen unter dem Ein- flufi endlicher elektrischer Krafte nicht etwa unendliche Ge- schwindigkeiten, vielmehr wirkt das durch ihre Bewegung er- zeugte magnetische Feld jeder Geschwindigkeitsanderung ent- gegen — genau wie die Tragheit mechanischer Massen, die so dem Beobachter vorgetauscht wird. Diese scheinbare Tragheit beruht auf den Wirkungen, die sich beim elektrischen Strome als Selbstinduktion oder Extrastrom beobachten lassen. Es handelt sich urn die Riickwirkung des durch bewegte Elektrizitat erzeugten Magnetfeldes auf diese Elektrizitat, die nach dem 198 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. Lenzschen Gesetz stets einer Anderung der Elektrizitats- bewegung sich entgegensetzen mufi. Bei der Elektrolyse hangen an den Atomen oder Atom- gruppen je ein, zwei oder drei dieser elektrischen Teilchen, je nach der Wertigkeit des Atoms oder der Atomgruppe, die so zu ein-, zwei- oder dreiwertigen lonen werden. An der Elektrode gehen die Ladungen auf das Metall tiber. Sie wandern innerhalb des Metalls weiter, und diese Wanderung negativer Teilchen stellt nach verbreiteten Annahmen eben den elektrischen Strom im Metall dar. Fur die besprochenen ohne mechanisch-trage Masse be- hafteten elektrischen Teilchen hat sich der Name Elektronen eingefuhrt. Die Bezeichnung stammt von Stoney. Nicht nur als lonen sind die Atome mit Elektronen behaftet. Auch in den gewohnlichen neutralen Molekeln sind sie vor- handen, nur dafi nach aufien die Wirkung der negativen Ladung durch eine gleiche positive im ganzen aufgehoben wird. Die elektromagnetische Lichttheorie erfordert als Erreger der elektromagnetischen Wellen, die wir als Licht- und Warme- wellen konstatieren, schwingende elektrische Ladungen in den Molekeln. Die Elektronen, die unter dem scheidenden Einflufi des Stromes bei der Elektrolyse auftreten, miissen also im Molekel in schneller periodischer Bewegung sein. Auch hier miissen aber magnetische Krafte ihren Einflufi auf die bewegten Ladungen ausiiben, und dieser gibt sich im Zeeman-Effekt, in der Zerlegung der Spektrallinien im magnetischen Felde, kund. So wird die Elektronenhypothese zu einer wichtigen Grundlage der Lehre vom Licht und von der strahlenden Wa"rme, der elektromagnetischen Theorie dieser Erscheinungen. Auch die quantitative Untersuchung des Zeeman-Effektes liefert eine Bestimmung der Gro'fie des Verhaltnisses von La- dung und Masse bei den schwingenden Teilchen. Aus Zee- mans Messungen z. B. am Natrium ergibt sich ein Wert, der gut mit den anderweitig erhaltenen iibereinstimmt. Hierin ist eine wichtige Bestatigung der gemachten Annahmen zu erblicken. Wir haben bisher immer von negativen Elektronen ge- sprochen. Die positiven Ladungen mufiten aufier Betracht VIII. Die Diskontinuitat der Materte. 199 bleiben, weil sich fur sie wesentlich andere Erscheinungen er- geben haben. Fordern dieFaraday schenGesetze derElektrohpsewenigstens fiir Momente die Existenz isolierter elektrischer Elementarquanta der einen Art, so gilt das nicht auch fiir die andere Art Elektrizitat. Werden von den negativen lonen negative Elektronen an der einen Elektrode abgegeben und die lonen so neutral, so braucht der Vorgang fiir die positiven lonen nicht ebenso zu verlaufen. Es ist ebenfalls mo'glich, daB die positiven lonen durch Aufnahme negativer Elektronen von der Kathode neutra- lisiert werden, so daB auch dort nur isolierte negative Elektronen zu existieren brauchen. Der von Helmholtz begriindete SchluB auf die Existenz isolierter elektrischer Elementarquanta ist dem- nach nur fiir Elektrizitat eines Vorzeichens bindend. Hat man nun isolierte negative Elektronen in den zahlreichen Arten von Kathodenstrahlen und beim Zeeman-Effekt nachweisen ko"nnen, so ist entsprechendes fiir positive Elektronen nicht ge- lungen. Wo man aus positiv geladenen Teilchen bestehende Strahlungen auf f and, waren die Teilchen stets mit einer Masse belastet, die der des Wasserstoffatoms gleich oder iiber- legen war. Als solche Strahlungen positiver Teilchen sind die in Ent- ladungsrohren mit durchlb'cherter Kathode hinter dieser auf- tretenden Kanalstrahlen zu betrachten, die Goldstein entdeckte. Sie werden durch elektrische und magnetische Felder von be- trachtlicher Intensitat abgelenkt, aber in entgegengesetztem Sinne wie die Kathodenstrahlen und auBerdem weit schwacher. Ihre Geschwindigkeit ist weit geringer als die der Kathodenstrahlen. Das Verhaltnis von Ladung und Masse ist viel kleiner als bei negativen Elektronen, aber von gleicher GrOBenordnung wie bei lonen in Elektrolyten. Wie die sogenannten p-Strahlen des Radiums sich als Kathodenstrahlen erwiesen haben, sind die a-Strahlen dieses Stoffes nichts anderes als Kanalstrahlen von groBer Geschwindigkeit. Die Elementarquanta der positiven Elektrizitat sind also nur in Verbindung mit trager Masse von AtomgrOBe bekannt. Sie sind entweder mit einem einzelnen oder einem Komplex von Atomen verkniipft. 200 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. Wie die a-Strahlen, so bestehen wahrscheinlich auch die Ema- nationen der radioaktiven Stoffe aus positiven lonen, geladenen Atomen. Nur verlassen die Teilchen der Emanation die radio- aktive Substanz langsam, wie ein aus der Absorption freiwerden- des Gas, wahrend die Teilchen der a-Strahlen fortgeschleudert werden mit einer Geschwindigkeit, die ein Zehntel der Licht- geschwindigkeit erreichen kann. Die bei den Emanationen auftretenden Erscheinungen ftihren zur Umwandlung der Elemente in andere. So sondert Radium eine Emanation ab, die sich mit der Zeit in Helium verwandelt, wie die spektroskopische Untersuchung beweist. Wahrscheinlich ist schon die kondensierbare Emanation, die schliefilich Helium ergibt, das Resultat einer Reihe von Umwandlungsprozessen, bei denen sich eine Emanation aus der anderen unter fortwahren- der Emission von Strahlen entwickelt. Auch die kondensier- bare Emanation ist radioaktiv und liefert eine Substanz, die in- duzierte Radioaktivitat hervorruft, also vorubergehend radioaktiv ist, d. h. auch diese Substanz ist in Umwandlung und Zersetzung begriffen. Ahnliche Umwandlungsprozesse beobachtet man bei den iibrigen radioaktiven Substanzen, bei Uranium und Thorium. Bei alien diesen Vorgangen entstehen Strahlungen. Es werden nega- tive Elektronen abgeschleudert, ferner positive lonen; es ent- stehen X-Strahlen (y-Strahlen). Bei der Bildung aller dieser Strahlen produzieren die radio- aktiven Stoffe fortwahrend Energie, die sie wohl kaum von aufien aufnehmen. Es kommt hinzu, dafi diese Substanzen stets eine etwas hOhere Temperatur haben, als ihre Umgebung, also fort- wahrend Warme erzeugen. Wir kOnnen zusammenfassend sagen: Die radioaktiven Sub- stanzen verwandeln sich unter Abgabe von Elektronen und unter steter Energieerzeugung allmahlich in andere Stoffe. Sind diese wieder radioaktiv, so geht die Umwandlung weiter, bis Stoffe entstehen, die nicht oder nur sehr schwach radioaktiv sind. Es bleibt namlich noch zu erwahnen, dafi scheinbar alle Stoffe, vor den Metalloiden aber alle Metalle sich als mehr oder weniger radioaktiv erweisen werden. Stellt man sich auf den Standpunkt der Atomtheorie, so VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 201 ergibt sich, daB jene Abtrennung von Elektronen, jene Energie- erzeugung, und die Umwandlung innerhalb des Atoms vor sich gehen miissen. Es verwandelt sich also unter Elektronenabgabe und Energieproduktion ein Atom in ein anderes, Radiumatome schlieBlich in Heliumatome. Natiirlich muB das hppothetische Element, das alien diesen Ergebnissen anhaftet, immer hervorgehoben werden. Jedoch ist die Umwandlung von Radium in Helium durch neue Arbeiten des Ehepaares Curie und Dewars einwandfrei bewiesen. Die Annahme einer absoluten Unveranderlichkeit der Atome unserer chemischen Elemente muB also als direkt widerlegt er- scheinen. Die Umwandlungsprozesse radioaktiver Elemente in andere haben eine gewisse Ahnlichkeit mit der Zersetzung chemischer Verbindungen, z. B. explosibler Verbindungen. Bei solchen Explosionen, bei denen die Molekule der Verbindung in ihre Atome zerf alien, finden auch Abschleuderung von Teilchen, Bil- dung von Strahlen von Licht, Warme und Schall, Warmeerzeu- gung und Entstehung neuer Substanzen statt. Es liegt daher nahe, die Umwandlungsprozesse der radioaktiven Elemente auch als Zersetzungen aufzufassen. Bei der Zersetzung einer Verbindung zerfallen ihre Molekule in Atome und eventuell kleinere Molekule, Atomgruppen; bei der Zersetzung eines radioaktiven Elementes zerfallt das Atom in Elektronen und geladene und neutrale Atome, die eventuell weiter in Elektronen und Atome zerfallen. Bei der Zersetzung des Molekuls in Atome entsteht (unter Umstanden) Energie in Form von Warme und ruhigen elektromagnetischen Wellen, strahlender Warme und Licht, bei der der radioakti- ven Atome ebenfalls Warme und elektromagnetische StoBwellen, X-Strahlen. Die Atome radioaktiver Elemente enthalten nach dieser Auf- fassung also Elektronen. Die Elektronen bilden Bausteine der Atome, die die Eigenschaften der Radioaktivitat zeigen, und wenn alle Elemente mehr oder weniger radioaktiv sind, enthalten alle Atome Elektronen als Bausteine. Durch Abscheidung einer Anzahl von diesen Bausteinen, von Elektronen, verwandelt sich ein Atom in ein oder mehrere andere, anderen Elementen zu- gehOrige. 202 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. Es liegt nun sehr nahe anzunehmen, die Elektronen bildeten die einzigen Bausteine der Atome. Die Atome sind demnach Komplexe von Elektronen, die durch ihre elektrischen Krafte zu- sammengehalten werden. Von solchen Komplexen positiver und negativer Elektronen sind die negativen abtrennbar. Werden ein, zwei usw. negative Elektronen entfernt, so entstehen positive lonen aus den Atomen, treten negative Elektronen hinzu, so bilden sich negative lonen; die lonen sind ein-, zwei- usw. wertig, je nach der Zahl der entfernten oder hinzugetretenen negativen Elektronen. Als wesentlichste Eigenschaft der Materie gilt die Tragheit. Die Menge des Tra'gen, die Masse ist es, die die wichtigste Bestimmung der Atome ausmacht. Die Atome sind vor allem charakterisiert durch ihre Masse, oder wie man meist weniger gut sagt, durch ihr Gewicht. Die Eigenschaft der Tragheit der Atome scheint nun ohne weiteres zuruckfiihrbar auf die schein- bare, elektromagnetische Tragheit der Elektronen. Hierdurch ist die wesentlichste Eigenschaft der Materie zuriickgefuhrt oder als identisch erwiesen mit jener Erscheinung beweglicher Elek- trizita't, die sich beim elektrischen Strom als Selbstinduktion oder Extrastrom kundgibt. Die Atome haben also deshalb trage Masse, weil sie aus Elektronen bestehen, und die Massenunter- schiede ergeben sich aus den Unterschieden im Aufbau der Atome. Aus dem Aufbau der verschiedenartigsten Materie aus den- selben Elektronen erklart sich die Erfahrung, daB die Durchlassig- keit gegen bewegte Elektronen, Kathodenstrahlen, allein von der Dichte der Substanzen abhangt, von alien anderen physikalischen und chemischen Eigenschaften aber unabhangig ist. Bei der Elektrolyse erweisen sich die Metalle deshalb als elektropositiv, weil sie leichter negative Elektronen loslassen, als die Metalloide. Uber die Art des Aufbaues der Atome aus den elektrischen Ladungen haben sich bemerkenswerte Anschauungen ergeben. Man hat Griinde, die negativen Ladungen fur dichter, die posi- tiven fur weniger konzentriert zu halten. Innerhalb der ausge- dehnteren positiven Ladungen befinden sich die Elektronen nega- tiver Ladung im Zustande eines beweglichen Gleichgewichtes, VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 203 das mehr oder weniger fest sein kann, wodurch die elektro- chemischen und radioaktiven Eigenschaften des Atoms erklarbar warden. Urn einen Einblick in die moglichen Gleichgewichtslagen der Elektronen im Atom zu gewinnen, kann man sich eines magnetischen Atommodells bedienen, wie es von Mayer ange- gebene Versuche bieten. Immerhin geben die Versuche nur ein grobes Bild, weil auf die dauernden Bewegungen der Elektronen nicht Rucksicht genommen wird, also an Stelle eines beweglichen Gleichgewichtes ein ruhendes tritt, auch die ganze positive Ladung durch einen Magnetpol ersetzt wird und fur die Anordnung der elektrischen Ladungen im Raume eine solche magnetischer Pole in einer Ebene eintritt. Die Versuche werden folgendermafien ange- stellt. Auf einer Wasserflache lafit man eine Anzahl kleiner gleicher Magnete schwimmen, die durch Korksttickchen so getragen werden, dafi sie alle den gleichen Pol nach oben kehren. Ober die Wasserflache bringt man den entgegengesetzten Pol eines starkeren Magneten. Die Pole der kleinen Magneten, die nach oben gekehrt sind, reprasentieren die negativen Ladungen, der starkere Magnetpol, bezw. seine Kraftkomponenten in horizontaler Richtung, ersetzen die Gesamtwirkung der positiven Elektrizitat des Atoms. Unter dem Einflufi der Abstofiung der kleinen Pole untereinander und der Anziehung durch den starkeren Pol er- geben sich nun regelmaGige Anordnungen der kleinen Magnete, die die Gleichgewichtslagen darstellen. 1st die Zahl der kleinen Magnete klein, so ordnen sie sich etwa gleichmSfiig verteilt auf einem Kreise an. Vermehrt man sie, so treten plo'tzlich einer oder mehrere Magnete aus dem Kreise aus und es entstehen zwei kon- zentrische Anordnungen; bei weiterer Vermehrung kommen drei oder vier Ringe zustande. Die bei der Vermehrung der kleinen Magnete aufeinanderfolgenden Figuren ordnen sich nun in einer eigenartigen periodischen Weise. Die aus einem Ring bestehen- den Figuren kehren namlich nach der Vermehrung um eine ge- wisse Anzahl kleiner Magnete als innerer Ring zweiringiger Figuren wieder. Die aus zwei Ringen bestehenden Figuren treten bei den aus drei Ringen aufgebauten als innerer Teil wieder auf usw. Wenn man die gleiche Ringe enthaltenden Figuren ihrer Grofie nach untereinanderstellt, die so entstehenden Kolonnen 204 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. der Zahl der Magnate entsprechend nebeneinander, so entsteht eine dem periodischen System der Elemente nicht unahnliche An- ordnung. Denkt man sich physikalische und chemische Eigen- schaften der Systeme an bestimmte Ringe gebunden, so wtirden die Eigenschaften in den Kolonnen in ahnlicher Weise sich zu- sammenfinden, wie wir dies im periodischen System der Ele- mente sehen. An Stelle der Ringe treten bei den im Raume von drei Dimen- sionen schwebenden Elektronen Schalen. Aber die Periodizitat der Anordnung kann auch hier trotz der Komplikation durch die Bewegung sehr wohl in ahnlicher Weise vorhanden sein; denn in den Atomen der alten chemischen Elemente handelt es sich urn eine Auslese ungemein stabiler Elektronensysteme. Diese Periodizitat wtirde sich in der periodischen Wiederkehr physika- lischer und chemischer Eigenschaften im periodischen System spiegeln. Dafi bestimmte Eigenschaften an die Wiederkehr eines der besprochenen Ringe oder Schalen gebunden sein ko'nnen, ist gar nicht abzuweisen. So sind die Teilchen eines bestimmten Ringes oder einer bestimmten Schale einer bestimmten Reihe von Schwin- gungen von fester Periode fa'hig. Durch umgelagerte Ringe oder Schalen ko'nnen allerdings diese Reihen von Perioden mehr oder weniger gestftrt werden. Da jede Schwingung der Elektronen von bestimmter Periode einer Spektrallinie entspricht, muB jeder Kugelschale mit der ihr eigentiimlichen Reihe von Perioden ein Satz von Spektrallinien entsprechen, der mehr oder weniger ge- stOrt wiederkehrt, wenn die betreffende Schale in einem Atom mit weiteren Schalen wiederkehrt. Die StGrungen wiirden sich etwa in Verschiebungen und Zerlegungen der Spektrallinien in kleinere Satze, Duplets und Triplets, offenbaren. Die Existenz solcher etwas verandert sich wiederholender Liniensysteme in den Spektren verschiedener Elemente ist in der Tat durch die Untersuchungen von Kayser und Runge und von anderen Forschern dargetan worden. Oberhaupt versprechen ge- rade die spektroskopischen Untersuchungen der Elemente wichtige Aufschlusse iiber den Bau ihrer Atome. Wir brauchen die Leistungen dieser hypothetischen Auffas- sungen iiber den Bau der Atome nicht weiter darzustellen, nach- VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 205 dem die prinzipielle Seite der Sache durch die dargestellten Bei- spiele hervorgehoben worden ist1). Erwahnung verdient es noch, dafi die geschilderte Auffassung vom Bau der Materie sich in naturlicher Weise mit entwicklungs- hppothetischen Annahmen iiber das Zustandekommen der jetzt vor- handenen Struktur vereinigen lafit. So zeichnet J. J. Thomson in dem soeben zitierten Buche den Entstehungsprozefi der Atome aus Ladungspaaren, Elementen, die aus einem positiven und einem negativen Elementarquantum von Elektrizitat in Bewegung bestehen. Diejenigen Elektronenkomplexe, die geringe Stabilitat besitzen, leicht zerf alien, bilden die merklich radioaktiven Sub- stanzen; die stabileren Atome geben die Bausteine der alten chemischen Elemente. So ergibt sich das relativ seltene Vor- kommen radioaktiver Stoffe. Diese werden eben durch ihren eigenen Zerfall fortwahrend ausgeschaltet. Ferner versteht sich von selbst, dafi eine Substanz nicht, ohne sich vollstandig in Elektronen aufzulo"sen, dauernd radioaktiv sein kann. In der Tat ist die Radioaktivitat eine voriibergehende Eigenschaft. Wahrend ihres Bestehens geht die Substanz in eine solche mit stabileren Atomen iiber. Wo ein Stoff dauernd radioaktiv erscheint, sind es nacheinander immer neue Teile der Substanz, an die der Zerfallsprozefi herantritt. Neben der Tragheit als der wesentlichsten Eigenschaft der alten Materie tritt als allgemeine Eigenschaft jeder tragen Sub- stanz die Gravitation. Gravitation und Tragheit sind proportional, wenn die betrachteten Massen gleiche Abstande haben von einer anderen, gegen die sie gravitieren. Zur Erklarung der Gravitation wird angenommen, dafi un- gleichartige Ladungen sich etwas starker anziehen als gleichartige sich abstofien. So versteht sich dann die Proportionality von Anziehung und Masse bei neutralen Atomen von selbst. Denn beide sind der Zahl der die Atome bildenden elektrischen Elemen- tarquanta proportional. Ist aber die Gravitation, wie alle Eigenschaften der Materie, J) Eine genauere Ausfiihrung des im Texte nur Angedeuteten findetman in- dem kleinen Buche eines an den besprochenen Forschungen und Hypothesen- bildungen hervorragend Beteiligten, J. J. Thomsons Elektrizita't, und Materier iibersetzt von Liebert, Braunschweig 1904. 206 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. auf das Wesen der Elektronen als elektrischer Ladungen zurtick- fiihrbar, so mtissen sich ihre Wirkungen, wie alle elektrischen, mit Lichtgeschwindigkeit, also zeitlich im Raume fortpflanzen. Ferner mufi die Massenanziehung, da sie im Grunde eine elek- trische ist, wie diese nicht nur von der Lage der anziehenden Teile, sondern auch von Geschwindigkeit abhangen. Gelange es, die zeitliche Fortpflanzung und die Abhangigkeit von der Geschwindigkeit nachzuweisen, so lage eine glanzende Veri- fikation der Hypothese vom Aufbau der Materie aus Elektrizitat vor. Jedenfalls lafit diese Hypothese also Verifikationen zu. Fassen wir kurz zusammen, was in diesem Kapitel tiber die Struktur der Materie sich ergab, indem wir bei den letzten Bau- elementen anfangen! Nach der geschilderten hypothetischen Auf- fassung sind diese in minimalen positiven und negativen Elek- trizitatsmengen zu suchen, die als solche, ohne Materie, existieren. Als Grundeigenschaften sind diesen ihre Wirkungen, gemafi den Maxwell-Hertzschen Gleichungen, zuzuschreiben, welche die Teilchen eben als elektrische charakterisieren. Andere Eigen- schaften bezw. Wirkungsweisen brauchen wir den Elektronen nicht beizulegen. Sie sind eben Elektrizitatsmengen und nichts als solche. Aus zahlreichen Elektronen sind die 80—100 verschiedenen Atome der chemischen Elemente aufgebaut. Diese Atome unter- scheiden sich also nicht, weil sie aus verschiedenen Qualitaten bestehen, sondern weil sie aus einer verschiedenen Anzahl gleicher Elektronen in verschiedener Weise aufgebaut sind. Bei Elementen und Verbindungen finden sich die Atome wiederum zu grOfieren Komplexen, den Molekulen vereinigt. Diese bilden die Bausteine alter chemisch einheitlichen Stoffe, die durch mechanische Trennungsverfahren nicht zerlegbar sind. Gab es nur zweierlei Elektronen, etwa 80 bis 100 Atome, so ist die Zahl der Molekel schon ungemein groB und sie sind von sehr verschiedenem Bau und wechselnder Komplikation. Durch die zahlreichen Arten mechanischer Mischung ent- steht aus den chemisch einheitlichen Stoffen die unentliche Mannigfaltigkeit von Substanzen, die uns in der Ko'rperwelt ent- gegentritt. Die verschiedenen Aufienweltssubstanzen scheinen sich also VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 207 nicht durch ihre Qualitat zu unterscheiden. Sie sind vielmehr alle in letzter Linie aus den gleichen Elementen, den beiden Arten von Elektronen, aufgebaut und nur die Verschiedenheit des Aufbaues unterscheidet sie. Die Elektronen selbst miissen als etwas Seiendes nach unseren Annahmen natiirlich Qualitaten sein. Sind nun die beiden Arten von Elektronen zwei verschiedene Qualitaten oder Qualitaten- komplexe? Die Beantwortung der Frage hangt von der Ansicht tiber ein anderes Problem ab. Wenn die Elektronen die absolut letzten Bausteine der Materie sind, so wird es wenigstens nahe liegen, von ihrem gegensatzlichen Verhalten auf zwei verschiedene Qualitaten oder Qualitatenkomplexe zu schliefien. Bestehen aber die Elektronen wieder aus kleineren Elementen, so ware vielleicht das, was beide Arten von Elektronen als Elektrizitat ohne Rtick- sicht auf das Vorzeichen charakterisiert, auf die gleichen Ele- mente, die Verschiedenheit der beiden Arten aber auf den Unter- schied in der Struktur zuruckzufuhren. Haben wir Griinde irgendwelcher Art, in den Elektronen die absolut letzten Bausteine der Materie zu sehen? Man wird fur eine bejahende Antwort auf diese Frage vielleicht die Ein- fachheit des durch sie gegebenen Systems der Materie geltend machen. Wir kennen nur zwei Arten von Elektronen, und alle Elektronen einer Art sind fur unsere Einsicht gleich. Ferner sind alle Elektronen fur unsere Erkenntnis unveranderlich. Wir wissen nur das eine von ihnen, dafi sie nach einem bestimmten Gesetze aufeinander wirken. Die Reduktion komplizierter Ver- haltnisse auf derartig einfache Elemente gibt dem menschlichen Geiste einen hohen Grad von Befriedigung. Und weil die in- tellektuellen Antriebe, tiber diese einfachen Elemente hinauszu- gehen, fehlen oder schwach sind, ist der menschliche Geist ge- neigt, diese einfachen, letzten erreichbaren Elemente auch ob- jektiv als die absolut letzten Bausteine der Materie zu betrachten. Indessen diirfen derartige aus der Natur unseres Geistes ent- springende Motive keinen Einflufi auf die Beurteilung der ob- jektiven Welt ausiiben. Auch die Atome schienen einst unver- anderlich; auch ihnen brauchten nur wenige physikalisch-chemische Eigenschaften zugeschrieben zu werden; auch von ihnen gab 208 VIII. Die Diskontinuitat der Materie. es nicht allzuviele verschiedene Arten. Der Unterschied in der Einfachheit des Baumaterials der Materie, wie es einst die Atom- hppothese hot und wie es jetzt die Elektronenhypothese liefert, ist doch nur ein gradueller. Ob etwa 100 oder nur 2 ver- schiedene Bausteine existieren, ist nicht so wesentlich. Und schliefilich bleibt die Frage offen, inwieweit die scheinbare Ein- fachheit der Elemente, der Elektronen, auf der Ungenauigkeit unserer Untersuchungsmethoden beruht. Wir wissen nichts dar- iiber, ob die Elektronen, wahrend sie in verschiedener Weise wirken, sich auch verandern, ob etwa die Qualitaten sich um- wandeln, aus denen sie nach unserer Auffassung zuletzt bestehen mussen. Die Qualitaten, die wir aus unserem Bewufitsein kennen, andern sich vielfach, wahrend sie in Wirksamkeit treten. Wie die unendliche Mannigfaltigkeit der Sterne der Milch- strafie fur den einfachen Beobachter zu einem homogenen matten Lichtschimmer von grofiter Einfachheit verschmelzen , wie wir die Fixsterne mit ihrer unendlich differenzierten Oberflache als einfache leuchtende Punkte auch in den gro"fiten Fernrohren er- blicken, so mag sich auch hinter den fur unsere Forschungsmittel so einfachen Elektronen eine grenzenlose Vielheit von Strukturen und Vorgangen in diesen Strukturen verbergen. Die Qualitaten mOgen sich wandeln, sie mOgen in grofier Vielheit das schein- bar einfache Elektron bilden; wir kOnnen es nicht feststellen, keine Aussagen dariiber machen. Obrigens ist zu erwahnen, dafi die Aussage tiber die Gleich- heit aller Elektronen eines Vorzeichens nur mit Vorbehalt zu machen ist. Die Bestimmung der Ladung eines Elektrons ist die eines Mittelwertes. Und wenn es auch Griinde gibt, die gegen eine allzu weite Abweichung von dieser mittleren GrOfie sprechen, die Moglichkeit von GrOfienunterschieden der Elek- tronen bleibt bestehen. Was die raumliche GrCfie, die Ausdehnung der Elektronen angeht, so ist dariiber sehr wenig zu sagen. Vielleicht sind die positiven Elektronen als die grOBeren zu betrachten. Dann waren zum mindesten diese sicherlich nicht unausgedehnt, d. h. mathe- matische Punkte. Aber auch die Frage, ob die ausgedehnte Materie zuletzt aus unausgedehnten Elementen besteht, ob ihre Ausdehnung nur vom Abstand dieser Elemente herriihrt, oder VIII. Die Diskontinuitat der Materie. 209 ob die Elemente schon einen gewissen, wenn auch kleinen Raum erfullen, mufi fur den empiristischen Naturforscher offen bleiben. Wissen wir nichts Bestimmtes iiber die Ausdehnung der Elektronen, so ist erst recht nichts iiber ihre Gestalt bekannt. Mit der Frage nach einer Struktur der Elektronen bleibt auch die andere unentschieden, ob die beiden Arten von Elek- tronen aus zwei verschiedenen Qualitaten oder aus Komplexen verschiedener Qualitaten bestehen. Bei der Erforschung immer winzigerer Grofien ergeht es der Naturwissenschaft, wie unserem Geiste bei der des raumlich oder zeitlich unendlich Fernen. Je weiter man in der Geschichte der Erde, des ganzen Kosmos zuruckgeht, um so weniger bleibt iiber beides zu sagen. Es mufi fraglich erscheinen, inwieweit dieses Einfacherwerden der Gegenstande unseres Wissens von einem Einfacherwerden der Gegenstande in der Wirklichkeit beim Zuriickgehen in die Vergangenheit herriihrt. Es ist so leicht nicht zu entscheiden, ob der Verwandlungsprozefi des Kosmos einen Differentiationsvorgang darstellt. Sicherlich entspricht dem Einfacherwerden der Gegenstande in unserem Wissen beim Wachsen der raumlichen Entfernung keine Herabsetzung der Komplikation in der Wirklichkeit. Und so mufi es auch unent- schieden bleiben, inwieweit die Einfachheit des sehr Kleinen ob- jektiver Natur ist. Jedenfalls bleibt die MOglichkeit, dafi jedes Elektron wieder einen Mikrokosmos darstellt, ja das jedes noch so kleine Teilchen eines solchen Elektrons wieder unendlich kom- pliziert ist, dafi es absolut kleinste Teilchen in der Tat nicht gibt. Die auf der Erfahrung basierende Naturwissenschaft kann die metaphpsische Frage von einer Grenze der Differentiation der Materie im Kleinen, die Frage nach der Existenz unteilbar kleiner Elemente ebensowenig beantworten, wie die nach einer Grenze der materiellen Welt im Grofien, im Raume und in der Zeit. Sie kennt uberall nur relative, nicht aber absolute Grenzen. Und wie vor der Forschung die Grenzen des Erkennbaren im Raume und in der Zeit immer weiter zuriickgedrangt worden sind, wie die fur unsere Erkenntnis einfachen Gegenstande an der Peripherie sich differenzierten, wenn sie in den Kreis unseres Wissens eintraten, so wird vielleicht einst die Grenze des Er- kennbaren im Kleinen und Kleinsten auch weiter zuriickschieb- Becher, Philosoph. Voraussetzungen. 14 210 VIII. Die Diskontinuita't der Materie. bar warden, und die einfachen Elektronen werden sich als kompli- zierte Gebilde entpuppen1). J) Leider erst als ich mit der endgiiltigen Niederschrift dieses Ab- schnittes fast fertig war, fiel mir das Buch Righis in die Hande: ,,Die moderne Theorie der physikalischen Erscheinungen", von Augusto Righi, iibersetzt von Prof. B. Dessau, Leipzig 1905. Das kleine Werk, dem der Ubersetzer wissenschaftliche Strenge bei elementarer Behandlung mit Recht nachriihmt, ist auch durch die Zusammenstellung der in Frage kommenden Literatur wertvoll. Es hat dem Verfasser noch in letzter Stunde einige Dienste getan. In einzelnen Punkten ist die Darstellung allerdings schon wieder durch die schnell fortschreitende Forschung uberholt. DaB das auch von der obigen Skizze gilt, mag mit demselben Grunde entschuldigt werden, kommt aber auch fur das hier Wesentliche und Prinzipielle nicht sehr in Betracht. An dieser Stelle mag auch auf eine weitere ganz populare Darstellung naturwissenschaftlicher (nicht ausschliefilich physikalisch-chemischer) Theorien hingewiesen werden: C. Snyder, wDas Weltbild der modern en Naturwissen- schaft", Iibersetzt von Kleinpeter, Leipzig 1905. Allerdings scheint mir das Buch, das ich erst direkt vor dem Drucke kennen gelernt, dem philo- sophisch orientierten Leser manchen AnstoB zu bieten. IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung. TragheitM und Kraft. Fernwirkung. Ather. Bei der Untersuchung der Struktur der Materie sind wir zu den Elektronen als den fur unsere Erkenntnis letzten Struktur- elementen gelangt. Diese einfachen kleinen Elektrizitatsteilchen zeigen dem beobachtenden Menschen keine Veranderung. Kennen wir aber keine Veranderung der letzten Strukturelemente der Materie, so mtissen wir alle Erscheinungen und Vorgange, die sich an und in der greifbaren Materie abspielen, als Be- wegungsvorgange auffassen. Denn wenn jede andere Veranderung der Elektronen ausgeschlossen bleibt, so ist Ortsveranderung, Bewegung das einzig mo'gliche Geschehen in der Gesamtheit der Elektronen, der Materie. Eine Naturauffassung, die alle Naturvorgange auf Be- wegungen zuruckfiihrt, pflegt man als eine mechanische zu be- zeichnen. Allerdings denkt man bei dieser Bezeichnung eher an eine Reduktion auf BewegungsvorgSnge an Massenteilchen, nicht an elektrischen Ladungen. Man spricht daher vielleicht zweckmaBiger von einer kinetischen Naturauffassung, wie der Physiker ja auch von einer kinetischen Gastheorie spricht. Unter den Begriff der kinetischen Naturauffassung fallt dann ebenso- wohl die alte mechanische Zuriickfiihrung aller Naturvorgange auf Bewegungen von Massen unter dem alleinigen EinfluB von Druck und StoB, wie die Hypothese, nach welcher alle materiellen Vorgange im Grunde Bewegungen von Elektronen und Elektronen- komplexen sind. Weil die alte mechanische Auffassung alle Bewegungen auf Druck und Stofi zuruckfuhrt, oder sagen wir zuruckfuhren will, denn ihr Ideal ist immer recht weit von der Erfullung entfernt geblieben, und weil Druck und StoB Vorgange sind, bei denen der Elastizitat die Hauptrolle zukommt, wollen 14* 212 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. wir diese Auffassung als kinetisch-elastische bezeichnen. Die auf der Elektronentheorie basierende Hypothese nennen wir, weil bei ihr elektrische Krafte die bewegenden sind an Stelle der elastischen, kinetisch-elektrisch. Wir batten an fruherer Stelle erwahnt, daB die mechanisehen oder kinetischen Hypothesen in ihrer Gesamtheit eine Struktur der Materie voraussetzen, an der sich die anzunehmenden Be- wegungen abspielen kOnnen. Die Struktur der Materie, wie sie Molekular-, Atom- und Elektronentheorie lehren, ist nun in der Tat zusammengesetzt genug. Sie ermOglicht eine solche Mannig- faltigkeit von Bewegungen, daB alle phpsikalischen und chemischen Vorgange, die sich an der greifbaren Materie abspielen, kinetisch erklart werden kftnnen. Soweit sie lediglich durch die Annahmen der Molekular- und Atomtheorie erklarbar sind, haben wir die Vorgange der chemischen Verbindung und Zerlegung schon vom Standpunkte der kinetischen Auffassung betrachtet. Sie beruhen auf einem raumlichen Zusammentreten und Auseinandergehen der Atome. Durch die Elektronentheorie wird diese Erklarung dahin erganzt, dafi das Bindende und AuseinanderreiBende stets die Elektronen sind. Die sogenannten chemischen Affinitaten sind elektrische Krafte, ausgeiibt von Elektronen. Ober die Zuriickfiihrung der Gravitation auf elektrische Krafte, ausgeiibt von den Elektronen, sprachen wir schon. Audi die molekularen Anziehungen und AbstoBungen, die sich als Elastizitat, Adhasion, Kohasion, usw. kundtun, sind auf die elementaren Wirkungen der Elektronen zuriickzufiihren. Die kinetische Auffassung der akustischen Erscheinungen wurde schon ero'rtert, da sie ja unabhangig ist von den Hypo- thesen iiber eine etwaige Struktur der ponderablen Materie. Es bleiben die Phanomene dreier groBer physikalischer Wissensgebiete auf die Anordnung der Elektronen und ihre Be- wegungen zuriickzufuhren; es handelt sich um die Erklarung der Warme-, Licht- und elektrisch-magnetischen Erscheinungen. Die Warmelehre bedarf zu ihren Erklarungen der Elektronen- theorie nur in wenigen Teilgebieten, wie in der Lehre von der Warmestrahlung und bei der Erorterung der konstanten Warme- abgabe radioaktiver Substanzen. Im ubrigen kommt sie mit der IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 213 Molekular- und Atomtheorie aus. Das Wesen der Warme be- steht in Bewegungen der Molekiile und der Atome, seien diese nun mehr oder weniger unregelma'Big schwingend, wie bei festen oder flussigen KOrpern, seien sie translatorisch, wie bei Gasen. Die mechanische Wa'rmetheorie verdankt ihre Entstehung in erster Linie der Beobachtung, dafi beim Verschwinden mechanischer Arbeit ein ihrer GroBe proportionates Quantum Warme entsteht und umgekehrt, beim Verschwinden dieser Warmemenge entsteht wieder das zu ihrer Erzeugung verbrauchte MaB mechanischer Arbeit. Diese Aquivalenz von Arbeit und Warme bringt der erste Satz der mechanischen Wa'rmetheorie zum Ausdruck. Die mechanische Auffassung erkla'rt die Um- wandlungsmoglichkeit, indem sie annimmt, die Warme sei nichts anderes, als kinetische Energie der Molekular- und Atom- bewegung. Die Verwandlung mechanischer Energie in Warme ist demnach nichts anderes, als die Obertragung in kinetisch- mechanische Energie der unsichtbar kleinen Molekiile und Atome. Geht aber Warme in mechanische Energie tiber, so handelt es sich urn einen Transport der Bewegungsenergie der Atome und Molekel auf sichtbar groBe Massen. Voraussetzungen fur die MOglichkeit der mechanischen Wa'rmetheorie sind einerseits die Existenz kleiner Teilchen, an denen die angenommenen Bewegungen sich abspielen ktfnnen, andererseits die Hervorbringung einer besonderen Sinnesqualitat durch unsichtbar kleine Bewegungen. Die erste Voraussetzung wird durch Molekular- und Atomhppothese geliefert, die zweite ist durch unsere Ausfiihrungen iiber die mechanische Theorie des Schalles als mOglich erwiesen. Die kinetische Auffassung der Warme erklart die Gesamtheit der Wa'rmeerscheinungen in befriedigender Weise. Die Aus- dehnung durch die Warme, das Verhalten beim Ubergang in andere Aggregatszustande, die thermochemischen Erscheinungen usw., ferner die Produktion von Warme- und Lichtstrahlen durch Er- hitzung finden ihre einfache Begriindung in der Hppothese. Da prinzipiell Neues bei einer weiteren ErOrterung der kinetischen Warmeauffassung sich nicht ergeben wiirde, kann auf die physikalischen Lehrbiicher verwiesen werden. Es ist nur wieder zu betonen, daB die mechanische Wa'rmetheorie 214 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. zahlreiche Verifikationen zulaBt, ja vielleicht eines direkten Be- weises fahig zu erachten ist. Man denke an die Brown sche Molekularbewegung. In einer Fliissigkeit zeigen sich die feinsten Suspensionen unter dem Mikroskop stets in lebhaftester Bewegung, wahrend etwas groBere Partikelchen in Rune bleiben. Das kann nur daher riihren, daB in der Fliissigkeit uberall unsichtbar kleine Be- wegungen bestehen, die sich in ihrer Wirkung auf grofiere Teilchen nach dem Gesetz der groBen Zahlen aufheben, so daB diese nicht zu merklicher Bewegung kommen, bei ganz feinen Teilchen aber recht lebhafte Bewegungen hervorrufen. Die GrCBe der die Brownschen Bewegungen ausfiihrenden Teilchen kann unter Umstanden bestimmt werden, und das Er- gebnis ist gut vertraglich mit der Auffassung, daB diese Teilchen ihre kinetische Energie von den Molekeln erhalten, daB diese also in bestandiger Bewegung sind. Jedenfalls beweist die Brown sche Molekularbewegung die Existenz ultramikroskopisch kleiner Bewegungen. Einen Teil der kinetischen Warmetheorie von hervorragender Wichtigkeit bildet die kinetische Gastheorie, welche freilich nicht nur in die Warmelehre, sondern auch in die Mechanik gehort. Wir erwahnen diese Theorie hier, um einen philosophischen Einwand gegen sie zu entkraften, der z. B. von Stallo1) er- hoben wird. Die kinetische Gastheorie sagt aus, daB in einem Case die weit getrennten Molekel geradlinige Bewegungen in alien mog- lichen Richtungen ausfiihren, bis sie entweder die GefaBwand oder andere Gasmolekel treffen. Dann prallen sie wie elastische KOrper ab und beginnen von neuem eine geradlinige Bahn. Je warmer ein Gas ist, um so schneller erfolgen jene Bewegungen, um so zahlreicher sind natiirlich auch die StoBe an GefaBwand und andere Gasmolekel. Der Druck eines Gases auf die Wande, die es umschlieBen, wird als Gesamtwirkung der Sto'Be der Molekel aufgefaBt. So versteht sich von selbst, daB der Druck eines Gases steigt mit der Temperatur, wenn das Gas in dem- selben GefaB eingeschlossen bleibt. Aber es ist auch erklarlich, ') a. a. O., S. 114f. IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 215 dafi der Druck steigt in dem Mafie, in dem der das Gasquantum einschliefiende Raum verkleinert wird. Denn in dem kleineren Raum haben die Molekel fruher die Wandungen erreicht: die Stofie werden daher zahlreicher. Damit 1st aber das Verhalten des Gasvolums gegen Druckanderungen, sein elastisches Ver- halten, erklart. An dieser Stelle setzt der Einwand gegen die Hypothese ein. Zur Erklarung der Elastizitat der Case wird angenommen, dafi sich die Gasmolekel beim Anprall verhalten wie vollkommen elastische feste Ko'rper. Die Elastizitat der Case wird also, sagt man, zuruckgefuhrt auf die der festen Ko'rper. Nun ist aber das durch Boyle-Mariottes Gesetz bestimmte elastische Verhalten der Case weit einfacher, als das elastische Verhalten fester Korper. Indem also die kinetische Gastheorie die Elastizitat der Case auf die Stofie der festelastischen Gasmolekel zuriick- fiihrt, wird zur Erklarung von etwas Einfachem etwasKompliziertes herangezogen. Es ware eher anga'ngig, die Elastizitat der festen und fliissigen Korper auf die einfachere der Case zuriick- fiihren zu wollen, als umgekehrt. Eine Hypothese, die zur Erklarung einfacher Verhaltnisse kompliziertere einfiihrt, ist aber nach der Ansicht der Gegner der kinetischen Gastheorie zwecklos. Soweit der Einwand sich auf allgemeine Auffassungen iiber den Wert von Hypothesenbildungen stiitzt, kOnnen wir ihm gegenuber auf friiheres verweisen; die Wahrscheinlichkeit bleibt fur uns der endgiiltige Mafistab fiir den Wert derselben. Es ist aber gar nicht richtig, scheint uns, wenn behauptet wird, die kinetische Gastheorie fiihre die einfachere Elastizitat der Case auf die kompliziertere der Gasmolekel zuruck, die sich beim Anprall wie feste elastische KGrper verhalten. Die kinetische Gastheorie setzt vielmehr nur voraus, dafi bei den StOfien der Molekel an die Gefafiwand dieselben Krafte wirken, auf denen auch die Elastizitat der festen und fliissigen KOrper beruht. VermOge dieser Krafte wird allerdings ein Gasmolekel in derselben Weise von der Gefafiwand zuruckgeschleudert, wie ein absolut elastischer fester K6rper. Die Sache liegt also so, dafi zur Erklarung der Elastizitat fester, flussiger und gasformiger Stoffe bestimmte Molekularkrafte anzunehmen sind, die den Molekiilen in alien 216 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. Aggregatszustanden zukommen. Es versteht sich von selbst, dafi die kinetische Gastheorie auf dieselben Molekularkrafte zuruckgreifen mufi, deren es zur Erklarung der Elastizitat, wie auch der Kohasion fester und flussiger Korper bedarf, da es ja dieselben Molekiile sind, die einen Stoff in den verschiedenen Agg'regatszustanden bilden. Die kinetische Gastheorie fiihrt nicht Einf aches auf weniger Einf aches zuriick, sondern sie be- dient sich einer Voraussetzung, die auch andere und zahlreiche Erscheinungen erklart. Cberdies ist das elastische Verhalten der Case ja bei ge- nauerer Betrachtung durchaus nicht so einfach. Bei hoheren Drucken verliert das Boyle-Mariottesche Gesetz seine Gtiltig- keit vollstandig, ebenso wie das Gap-Lussacsche Gesetz der Ausdehnung der Case bei Erwarmung nicht streng gtiltig ist und bei hinreichend niedrigen Temperaturen recht ungenau wird. Aber auch die Abweichungen von den einfachen Gasgesetzen, die zu komplizierteren Formeln iiber das Verhalten der Gase gegen Druck und Temperatur fuhren, finden durch die kinetische Gastheorie eine befriedigende Erklarung. Diese schliefit sich iiberhaupt den verschiedenen physikalischen und chemischen Auffassungen so harmonisch an, dafi ihr unserer Ansicht nach ein hoher Wert zugesprochen werden mufi. Ein erhitzter KOrper sendet Warme- und, wenn seine Tem- peratur hoch genug ist, auch Licht- und ultraviolette Strahlen aus. Schon die Erzeugung von Licht durch Warme macht es wahrscheinlich, dafi das Leuchten eines Korpers auf schnellen Bewegungen kleiner Teilchen desselben beruht. Die deutlichsten Hinweise auf diese Hypothese des Lichtes liefern aber die iiber- aus zahlreichen Analogien, die zwischen optischen und akusti- schen Erscheinungen bestehen. Diese Analogien gehen durch fast alle Gebiete von Optik und Akustik, durch die Lehren von der Reflexion, der Refraktion, der Interferenz und der Beugung. Alle diese optischen Erscheinungen sind auch auf akustischem Gebiete feststellbar, und den Phanomenen der Phosphoreszenz und Fluoreszenz entsprechen mehr oder weniger die akustischen der Resonanz und des Mitschwingens. Als schwingende Teilchen fafite man friiher die Atome und Molekel ins Auge. Seit der Schb'pfung der elektromagnetischen IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 217 Lichttheorie mufi man elektrische Ladungen als das Schwingende betrachten. Diese Theorie wird namlich durch Beobachtungen gestutzt, die eine vollstandige Analogic zwischen Schwingungen elektrischer Ladungen und Licht ergaben. Nicht nur die Er- scheinungen der Reflexion, Refraktion, Interferenz, Beugung und Absorption sind durch elektrische Schwingungen nachahm- bar; es gelingt auch den Polarisationserscheinungen des Lichtes Entsprechendes zur Seite zu stellen, was die Akustik nicht ver- mag. Man kann dem Turmalin entsprechend wirkende Modelle (Hertzsches Gitter) fur elektromagnetische Schwingungen konstruieren; selbst das dunkle Kreuz, wie es optisch einachsige Kristalle im Polarisationsapparat bei konvergentem Lichte zeigen, und die Drehung der Polarisationsebene wurden nachgeahmt. Diese weitgehende Analogic zwischen einem leuchtenden Ko'rper und einem Erreger elektromagnetischer Schwingungen macht die Annahme wahrscheinlich, dafi auch im leuchtenden Korperkleine elektrische Schwingungen in denMolekeln stattfinden. Die schwingenden Ladungen kftnnen aber nichts anderes sein als Elektronen, und wahrscheinlich werden es die vom Atom, dem Elektronenkomplex, leichter abtrennbaren, mit ihm loser verbundenen negativen Elektronen sein, da abgetrennte positive Elektronen bisher nirgendwo festgestellt werden konnten. Diese Auffassung, nach der das Schwingende im leuchtenden Kb'rper die mit den Atomen lockerer verbundenen oder sagen wir in ihnen lockerer gebundenen negativen Elektronen sind, hat eine glanzende Bestatigung gefunden. Die schwingenden Elektronen mussen unter dem Einflufi magnetischer Krafte anders pendeln, und diese Anderung der Schwingung mufi sich in einer Anderung der entsprechenden Spektrallinie kundtun. Zeeman gelang es, den Einflufi magnetischer Krafte auf leuchtende Stoffe im Spektrum in der von der Theorie zu fordernden Weise auf- zuzeigen; es handelt sich um die Zerlegung von Spektrallinien in kleine Liniengruppen. Aber die Bestatigung der Hypothese ging noch weiter. Wie schon an anderer Stelle erwahnt wurde, konnte Zeeman aus der messenden Untersuchung des Pha'no- mens die GrOfie des Verhaltnisses von Ladung und Masse bei den schwingenden Teilchen bestimmen. Das Resultat stimmte mit den Ergebnissen der anderen Bestimmungsmethoden fur ne- 218 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. gative Elektronen, deren Geschwindigkeit weit genug hinter der Lichtgeschwindigkeit zuriickbleibt, in iiberraschender Weise iiberein. Durch diese und andere Erfahrungen wird die Hypothese wahrscheinlich gemacht, dafi das Leuchten eines Kb'rpers durch Schwingungen negativer Elektronen bedingt ist, die sich am Atom und Molekiil mit einiger Freiheit bewegen kOnnen. Man erkennt leicht, wie sich diese Auffassung den optischen Erscheinungen anpafit. Durch die elektromagnetische Theorie des Lichtes wird die Optik zu einem Teil der Elektrizitatslehre, eigentlich zu ihrem letzten Teile. Wir wollen namlich die Elektrizitatslehre in drei Teilgebiete zerlegen, je nachdem es sich bei den zu besprechen- den Erscheinungen um solche handelt, die von ruhenden, oder von gleichfbrmig sich bewegenden, oder schliefilich von ungleich- fb'rmig sich bewengenden Elektronen hervorgebracht werden. Zu dem letzten Teilgebiete gehb'rt die Lehre von den optischen Erscheinungen, weil es sich bei diesen in der Tat um ungleich- formig bewegte, in diesem Falle periodisch schwingende Elek- tronen handelt. Obwohl die Elektronentheorie an sich eine dualistische Elek- trizitatslehre darstellt, nahert sie sich bei der Betrachtung der elektrischen Erscheinungen doch mehr der Franklinschen uni- tarischen Darstellung. Das kommt daher, weil nur die eine Art von Elektronen frei existiert und von den Atomen getrennt sich bewegen kann. Wie schon erwahnt wurde, sind nach alien bis- herigen Erfahrungen nur die negativen Elektronen dazu imstande. Den ersten Teil der Elektrizitatslehre bildet die Elektrostatik. Die elektrostatischen Erscheinungen werden durch angesammelte ruhende Elektronen hervorgebracht. Negativ elektrisch ist ein KOrper, wenn er eine Menge uberschiissiger, freier, negativer Elektronen enthalt, positiv geladen, wenn ihm negative Elektronen entzogen wurden. Hiernach versteht sich die Verwandtschaft dieser Hypothese mit der alten unitarischen Auffassung, nach der es nur eine Art Elektrizitat gab, von selbst. Auch bei dieser Auffassung war die eine Ladung ein Uberschufi, die andere ein Mangel an Elektrizitat. Die elektrostatischen Fernwirkungen sind nichts anderes, als IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 219 die Resultanten der Wirkungen der einzelnen Elektronen. Die Influenz oder elektrostatische Induktion beruht darauf, dafi in einem neutralen KOrper unter dem Einflufi einer in der Nahe befindlichen Ladung die beweglichen negativen Elektronen sich im dieser Ladung nachsten oder entferntesten Ko'rperteile ansammeln, je nachdem die induzierende Ladung positiv oder negativ ist. Der elektronenarme Teil des Korpers erscheint dann positiv, der elektronenreiche negativ elektrisch. Damit sind im Prinzip die elektrostatischen Erscheinungen erschopft. Was weiter in dieser Disziplin behandelt zu werden pflegt, sind teils Komplikationen der erwahnten einfachen Wir- kungen, teils Erscheinungen, die eigentlich schon in die Lehre von der Elektrizitatsbewegung geho"ren und aus Zweckmafiig- keitsriicksichten in die Elektrostatik hereingenommen werden. So z. B. der elektrische Funke, der einen Obergang negativer Elektronen durch hinreichend dichte Case unter Licht-, Warme- und Schallwirkungen darstellt. Elektronen, die sich mit gleichformiger Geschwindigkeit be- wegen, rufen die Erscheinungen des galvanischen Stromes und der Magnetostatik hervor. Wie schon aus dem elektrochemischen Verhalten der Metalle zu erschliefien ist, geben die Metallatome leichter als andere negative Elektronen frei. Ferner ist anzu- nehmen, dafi innerhalb der Metalle solche negativen Elektronen relativ frei beweglich sind. Darauf beruht die gute Leitfahig- keit der Metalle, ihr geringer elektrischer Widerstand. Denn der elektrische Strom kann nach der dargelegten Auffassung nichts anderes sein, als die Bewegung einer grofien Zahl von negativen Elektronen durch den Leiter hindurch. In den Leitern erster Klasse, den Metallen vor allem, sind es freie negative Elektronen, die den Strom bilden. Man erkennt wieder die Annaherung der Hypothese an die unitarische Dar- stellungsweise; nur existiert in Metallen nicht der konventionell angenommene positive Strom, sondern ein negativer. Anders verhalt sich die Sache bei den Leitern zweiter Klasse, den Elektrolyten. Dort wird der Strom nicht durch freie nega- tive Elektronen, sondern durch positive und negative lonen ge- bildet. Diese lonen sind Atome oder Atomgruppen, die ein oder mehrere negative Elektronen zu viel oder zu wenig haben, je 220 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. nachdem sie ein oder mehrwertig sind. So geben die Metall- atome positive lonen, weil sie leicht negative Elektronen loslassen, Sauerstoffatome werden zu zweiwertigen negativen lonen, weil sie in neutralem Zustande noch zwei negative Elektronen an sich zu fesseln vermogen. Nach der wohlbegrundeten Auf- fassung der Dissoziationstheorie von Clausius, Arrhenius und anderen bewegen sich in einem Elektrolyten vor dem Schlufi eines Stromes durch denselben die lonen in alien mb'glichen Rich- tungen durcheinander; bald vereinigen sich lonen zu neutralen Molekeln bei zufalligen ZusammenstSBen, bald zerfallen neutrale Molekule in lonenpaare. Geht aber ein Strom durch den Elektro- Ipten, so kommt Ordnung und Richtung in das Bewegungsgewirr der lonen; die positiven, wie Metall- und Wasserstoffionen, gehen zur Kathode, die negativen, wie Sauerstoff und Saurereste, gehen zum positiven Pol. Dort liefern die letzteren ihre uber- schiissigen negativen Elektronen ab und werden so zu neutralen Atomen und Atomgruppen, die sich auf der Anode ablagern, als Gas aufsteigen, in der Fliissigkeit als solche oder nach weiteren rein chemischen Prozessen verbleiben, je nach der Natur des Elektrolyten und der Elektroden. Die positiven lonen, denen es an negativen Elektronen mangelt, entnehmen diese der Kathode und werden dadurch neutral. Auch die Leitung der Elektrizitat durch Case setzt eine lonisation derselben voraus. Diese kann durch die Einwirkung des Lichtes, radioaktiver Substanzen usw. zustande kommen. So spielen auch bei den Erscheinungen der atmospharischen Elektrizitat die Elektronen eine wichtige Rolle, welche namentlich von Elster und Geitel eingehend untersucht worden ist. Fur die Entstehung der atmospharischen Elektrizitat kommen wahr- scheinlich verschiedene Einfliisse in Betracht, wie der des Sonnen- lichtes und die lonisation der Bodenluft durch die radioaktiven Substanzen der Erde. Die Elektrizitatsbewegung in den stark verdiinnten Gasen der Kathodenstrahlenro'hren besteht in einem Doppelstrome, wie bei den Elektrolyten. Der negative Strom wird von den aus schnell bewegten negativen Elektronen bestehenden Kathoden- strahlen gebildet, der positive von den Kanalstrahlen, die weniger rapide fliegende positiv geladene Atome oder Atomgruppen darstellen. IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 221 Die Warmewirkungen des galvanischen Stromes beruhen auf dem bewegenden EinfluB, den die flieBenden kleinen Ladungen auf die Molekiile und Atome des Leiters ausiiben. Die elektrodynamischen Wechselwirkungen konstanter Strome sind Summationswirkungen der einzelnen, diese Strome bilden- den Elektronen. Die Wechselwirkungen von StrOmen und Mag- neten sind nichts anderes; denn der Magnetismus ist entsprechend den Hypothesen der Molekularmagnete und der Ampereschen Molekularstrome aufzufassen. Nur sind natiirlich die kleinen gleichgerichteten Kreisstrome im Magneten, die dessen magne- tische Eigenschaften hervorrufen, nichts als in Kreisen in den Molekeln schwingende Elektronen. Die Erscheinungen der Mag- netostatik, die magnetischen Fern- und Wechselwirkungen, sind Summationseffekte der Wirkungen der in Cyklen schwingenden Elektronen. Andert sich in einem Stromkreise die Stromstarke, so muB entweder die Zahl oder die Geschwindigkeit der sich bewegen- den Elektronen eine andere werden. Solche Anderungen der Stromstarke rufen sowohl im Stromkreise selbst als in benach- barten Leitern Induktionserscheinungen hervor, die sich wieder als Summationswirkungen der ungleichfo"rmig flieBenden Elek- tronen auf sich selbst oder auf die anderer Leiter darstellen. Im ersteren Falle haben wir die Erscheinung der Selbstinduktion oder des Extrastromes, im letzteren die der Induktion in benach- barten Leitern. Ist die ungleichfo'rmige Elektronenbewegung eine periodisch schwingende, so treten optische Erscheinungen oder diesen analoge Phanomene auf. Die Stromstarke eines Flusses von Elektronen ist natiirlich sowohl proportional der Zahl der strOmenden Elektronen als auch ihrer Geschwindigkeit. Wird der Strom durch ein einziges sich bewegendes Elektron dargestellt, so ist die Stromstarke einfach der Geschwindigkeit proportional. Beschleunigen wir die Bewegung, so nimmt die Stromstarke zu. Bei zunehmender Stromstarke mufi aber ein Extrastrom entstehen, der verhindert, dafi die Stromstarke plo'tzlich, unstetig, mit einem Ruck zunimmt. Wenn aber infolge des Extrastromes die Stromstarke nur stetig zunehmen kann, so heifit das nichts anderes, als daB die Ge- schwindigkeit des Elektrons nur stetig zunehmen kann, daB das 222 IX- Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. Elektron sich verhalt wie ein trager Ko'rper. Denn als Tragheit bezeichnen wir die Eigenschaft von KOrpern, unter beschleunigen- den Einwirkungen nur stetig an Geschwindigkeit zu gewinnen. Wir kftnnen den Sachverhalt anders ausdriicken. Andert ein Elektron seine Geschwindigkeit, so wirkt diese Geschwindig- keitsanderung beschleunigend oder verzOgernd auf andere Elek- tronen. Aber auch das Elektron selbst unterliegt diesem Ein- fluB. Die Wirkung auf andere Elektronen stellt sich, durch Haufung der gleichen Erscheinung verstarkt, uns als Induktion dar, die Beeinflussung der eigenen Bewegung als Selbstinduktion. Und zwar muB nach den einfachen Induktionsgesetzen eine Be- schleunigung des Elektrons induktiv eine Kraft erzeugen, die dieser Beschleunigung entgegenwirkt, eine Verzogerung aber eine Kraft, welche dieser sich widersetzt. Diese durch elektrische Induktion entstehenden Krafte, die sich jeder Bewegungsanderung widersetzen, rufen dadurch die Erscheinung der Tragheit der Elektronen hervor. Man darf daher die Behauptung von der nur scheinbaren Tragheit der Elektronen nicht mifiverstehen. Die Elektronen sind tatsachlich trage, setzen jeder Anderung ihrer Bewegung einen Widerstand entgegen; aber diese Tragheit offenbart sich, und das ist das Neue gegenuber der alten Tragheit der Materie, als subsumierbar unter den Begriff der elektrischen Induktion. Tragheit und Induktion sind ein und dieselbe Sache, gehorchen den gleichen Gesetzen; es handelt sich um die gleichen Kra'fte, nur manifestieren sie sich als Tragheit bei der Wirkung eines Elektrons auf sich selbst, als Induktion bei der Wirkung des Elektrons auf andere. Die Erkenntnis, dafi sich die Tragheit der Elektronen als ein Spezialfall der Induktion, als Selbstinduktion auffassen la'Bt, macht die Variabilitat derselben mit der Geschwindigkeit erklar- lich. In der Tat ergibt sich diese Inkonstanz, wenn man beriick- sichtigt, dafi sich die elektromagnetischen Wirkungen nicht zeitlos, sondern mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum fortpflanzen. Unter Beriicksichtigung dieser Tatsachen hat Abraham einen Ausdruck fur die Tragheit des Elektrons ausgerechnet, der sich als eine Potenzreihe darstellt. Diese schreitet nach den Qua- draten des Verhaltnisses von Elektronengeschwindigkeit und Licht- IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 223 geschwindigkeit fort und alle ihre Koeffizienten sind positiv und kleiner als eins. Daraus ergibt sich, dafi die Tragheit der Elek- tronen ziemlich konstant bleibt, solange die Elektronengeschwindig- keit recht weit hinter der Lichtgeschwindigkeit zuriickbleibt. Nahert sich aber erstere der letzteren, so nimmt die Tragheit immer rapider zu. Die Ubereinstimmung zwischen den Kaufmannschen Mes- sungen, die dieses Wachstum der tragen Masse der Elektronen bei steigender Geschwindigkeit erschliefien liefien, und den theo- retischen Resultaten, die in Abrahams Formel liegen, bildet eine wesentliche Stiitze der kinetisch-elektrischen Naturanschauung gegenuber der kinetisch-elastischen. Letztere hat als Grund- prinzipien zur Erklarung aller Naturerscheinungen einerseits die Tragheit der Massen, andererseits Druck und StoB. Die kine- tisch-elektrische Naturauffassung hat nur ein einziges Grund- prinzip: es besteht in den Wirkungsweisen der Elektronen, die diese zu elektrischen Ladungen stempeln. Die Erscheinung der Tragheit ergibt sich aus dem Charakter der Elektronen als Elektrizitatsquanten, und zwar ergibt sich hieraus gleichzeitig die experimentell gefundene Variabilitat der Tragheit mit der Geschwindigkeit. Die kinetisch-elektrische Theorie hat gegenuber der kine- tisch-elastischen den Vorzug einer grftfieren Einheitlichkeit. Fur erstere ist die Tragheit kein besonderes Grundprinzip, sondern eine Konsequenz ihres einzigen Grundprinzipes: die Elemente der materiellen Welt sind elektrische Ladungen. Beide Natur- auffassungen haben das gemein, dafi sie alle Bewegungen durch zweierlei bestimmt sich vorstellen. Erstens durch etwas, das dem Bewegten sofort unendliche Geschwindigkeit erteilen wtirde, wenn nicht zweitens das Bewegte etwas hatte, vermOge dessen die Geschwindigkeit sich nur allmahlich und stetig verandern kann. Mit anderen Worten, die beiden kinetischen Naturan- schauungen beschreiben alle Bewegungen mit Hilfe des Begriffs- paares Kraft und Tragheit. Die Kraft wurde jedem Teilchen sofort unendliche Geschwindigkeit geben, die Tragheit wider- setzt sich dem, so dafi nur stetige Anderungen der Geschwindig- keit mOglich sind. Die Krafte sind nach der kinetisch-elektrischen Auffassung uberall elektrische, aber auch die Tragheit ist nichts 224 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. anderes als eine Wirkung derselben elektrischen Krafte; diese Krafte suchen eben zum Teil dem Elektron im Momenta unend- liche Geschwindigkeit zu verleihen, zum Teil widersetzen sie sich diesem Bestreben, und es resultieren endliche Beschleuni- gungen. Das Begriffspaar der Kraft und der Tragheit wird demnach auf den einen Begriff der elektrischen Kraft reduziert, diese elektrischen Krafte wirken teils Bewegung andernd, teils sich der Bewegungsanderung widersetzend. Dabei bleibt eins zu beachten. Als das Wirkliche haben wir stets die bewegten Elektronen, in letzter Linie also bewegte Qualitaten zu betrachten. Die Bewegungen werden durch die Konstellation der Elektronen nach bestimmten Gesetzen bestimmt, die mathematisch sich als Differentialgleichungen darstellen. Fur bestimmte GroBen in diesen Gesetzen hat man die Bezeichnung Krafte eingefiihrt. Andere Faktoren nennt man Massen, ev. schein- bare Massen. Diese Namengebungen schliefien sich an einfache alltagliche Erfahrungen an. So zeigt sich, dafi bei durch unsere Muskeln an Korpern, Elektronenkomplexen, erzeugten Bewegungen unsere subjektive Wahrnehmung einer Kraftanstrengung mit jener mathematischen Grofie wachst, in etwa durch sie ausgedriickt wird. Ebenso wachst die Wahrnehmung eines Widerstrebens gegen die Bewegung mit jenem Faktor, den man als Beharrungs- vermo'gen oder Massentragheit bezeichnet. Daher sprechen wir auch von Kraften, von tragen Massen, wo diese Wahrnehmungen fehlen, wenn nur die betreffenden mathematischen Ausdriicke in den einen Vorgang darstellenden Gesetzen sich finden. Mit anderen Worten, eine Bewegung kann durch physio- logische Konstellationen zustande kommen, die mit dem Be- wuBtseinsinhalte einer Kraftwahrnehmung verbunden sind. Wir iibertragen diese Erfahrung auf alle Falle, wo Bewegungen er- zeugt werden, und sprechen so von bewegenden Kraften auch da, wo ein Kraftbewufitsein fehlt. Ob in alien Fallen, wo Bewegungsanderungen vorkommen, neben den diese Anderungen bestimmenden Konstellationen, sagen wir von Elektronen, noch in der Aufienwelt Realitaten sich finden, die als Krafte zu bezeichnen wa'ren, mufi von uns dahingestellt bleiben. Diese Krafte miiBten nach unseren Annahmen als etwas IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 225 Seiendes im Grunde Qualitaten sein. Wir batten also neben jenen Qualitaten, die die Elektronen ausmachen, in den Augen- blicken der Wirksamkeit noch besondere wandelbare Qualitaten, die die wirkenden Krafte der Elektronen ausmachen wiirden. Zur Beantwortung dieser Frage miifite man versuchen, Analogien zu finden in dem Gebiete unseres Wissens, wo wir einen Einblick haben in das Spiel der Qualitaten. Man miifite psychologische Erfahrungen heranziehen und untersuchen, ob dort beim Wirken gewisser Konstellationen wahrend des Wirkens neue Qualitaten sich zeigen, die recht eigentlich als das den Kausalzusammenhang Bildende, als Krafte aufzufassen wa'ren. Der Naturwissenschaftler kann von solchen Untersuchungen, deren Resultat immer nicht gerade von zwingender Uberzeugungs- kraft sein wird, absehen. Er nimmt nur dort Realitaten an, wo die Regelmafiigkeitsvoraussetzung bei Betrachtung der Aufien- weltsvorgange sie fordert. Mag die Entscheidung obiger Frage ausfallen, wie sie wolle, so scheint uns doch immer sicher, dafi die Regelmafiigkeitsvoraussetzung ohne die Annahme von Kraften vollauf befriedigt wird. Die Hinzunahme der Krafte scheint uns daher fur den Naturwissenschaftler iiberfliissig, ja unnOtige Kom- plikationen hervorrufend, wenn sie mehr sein soil, als eine kurze Bezeichnung. Jede rein kinetische Naturauffassung kennt nichts als eine Zahl bewegter Dinge, mo' gen diese Elektronen heifien oder wie auch immer; der Bewegungszustand dieser Dinge im folgenden Zeitteilchen ist durch den Lage- und Bewegungszu- stand im vorhergehenden Zeitteilchen vollstandig gesetzmafiig bestimmt. Es mufi daher iiberflussig erscheinen, wenn der Natur- wissenschaftler von seinem Standpunkte aus zur Vermittlung dieses gesetzmafiig bestimmten Zusammenhanges noch weitere Realitaten, Krafte, einschieben will. Denn nach der Einfiihrung der Krafte ware die Situation nur komplizierter, nicht aber wesentlich verandert. Die Krafte miissen ja nach unserer Voraussetzung als Realitaten Qualitaten sein, ebenso wie die in Zusammenhang zu bringenden anderen Reali- taten, Elektronen etwa. Durch die Hinzufiigung der Krafte wiirden also nur zwischen die in gesetzmafiigen Zusammenhangen irgend- welcher Art stehenden Qualitaten neue eingeschoben. Die Sache Becher, PhJIosoph. Voraussetzungen. 15 226 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. bliebe dieselbe, nur daB jetzt der gesetzliche Zusammenhang zwischen einer gro'Beren Zahl von Qualitaten bestande. Es scheint uns aus alledem zu folgen, daB die Naturwissen- schaft die Krafte als reale Existenzen entbehren kann und entbehren sollte. Sie kennt nur die letzten bewegten Elemente, die Elek- tronen etwa, und ihre Bewegungen, die aus der Lage der Ele- mente und ihrem Bewegungszustande folgen. Aber noch einmal sei betont, daB die Mo'glichkeit offen bleibt, daB etwa neue Quali- ta'ten beim Wirken auftreten, die die Bezeichnung Krafte an- nehmen konnten, oder daB sich die die Elektronen bildenden Qualitaten je nach den Umstanden wandeln. Nach diesen Erorterungen iiber den Kraftbegriff ergibt sich uns die Stellungnahme in einer weiteren Frage von selbst, die wir bis zu dieser Stelle zuriickgeschoben haben. Wir denken an die vielumstrittenen Fernwirkungen. Da versteht es sich denn von selbst, daB die Annahme von Fernwirkungen mit der RegelmaBigkeitsvoraussetzung durchaus vertr&glich ist, sich als ganz geeignet erweist, die letztere zu befriedigen. Es ist fiir diese grundlegende Voraussetzung alles induktiven Denkens ganz gleichgiiltig, ob die in gesetzlichem Zusammenhang stehenden Existenzen sich raumlich beruhren. DaB der RegelmaBigkeitsvoraussetzung Geniige geschehen kann durch die Annahme von Fernkraften, zeigen die Fassungen des Gravitationsgesetzes sowie der elektrischen Gesetze, die auf jener Annahme beruhen. Der Physiker tut, als ob Gravitation und Elektrizitat durch den leeren Raum hindurch in die Feme wirkten, und ist so imstande, die gesetzlichen Zusammenhange festzulegen. Ist von diesem Standpunkte nichts gegen die Fernwirkungen einzuwenden, so dra'ngt sich die Frage auf, woher die Ab- neigung gegen diese Wirkungen und die nicht zu leugnende ent- schiedene Bevorzugung der entgegengesetzten Annahme stammt. Die Antwort lautet: es ist der Zwang zahlreicher einfacher und alter Erfahrungen, der diese Wertung bedingt. Oberall dra'ngt es sich dem naiven Menschen auf, daB die Dinge dort wirken, wo sie sind. Vermag doch der Mensch selbst nur zu wirken, wo er steht, wo seine Ha'nde zufassen. Seine Instrumente iiben ihre Wirkungen nur bei der Beriihrung aus. Die Flamme ziindet IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 227 fiir den naiven Menschen nur das, was sie erreichen kann, der Blitz zerstOrt nur, was er trifft. Demgegeniiber fallen diejenigen Erscheinungen, die sich wenigstens zunachst als Fernwirkungen darstellen, weniger auf, weil sie dem einfachen Menschen zu selbstverstandlich sind. Er denkt beim Fallen der Steine iiber- haupt nicht an eine Wirkung der Erde auf diese. Und andere Fernwirkungen spielen in seinem Leben iiberhaupt keine Rolle, wie die elektrischen und magnetischen Anziehungen und Ab- stoBungen. Es ist nach diesen Betrachtungen nicht weiter auffallig, weshalb uns alien die Wirkungen bei rSumlichem Zusammensein erklarlicher , weniger sonderbar erscheinen als Fernwirkungen. Die Menscheit, wir alle sind von der ersten Kindheit an an Be- ruhrungswirkungen gewOhnt, keineswegs aber an die Auffassung von Fernwirkungen. Erstere sind uns daher vertraut und er- scheinen uns verstandlich, letztere sind uns ungewohnt, fallen uns als etwas Besonderes auf und erheischen wie alles Besondere, Auffallige, eine Erklarung. Etwas anderes kommt hinzu. Die wenigstens scheinbaren Fernwirkungen nehmen alle mit der Entfernung schnell ab, sind aber am starksten bei unmittelbarer Beriihrung. Der Magnet halt bei Beriihrung Eisen fest mit unter Umstanden betrSchtlicher Kraft. Demgegeniiber ist die Anziehung auf Entfernung viel schwa"cher, weniger in die Augen fallend. Es versteht sich von selbst, dafi jener gegen die Fern- wirkungen sich auflehnende psychische Zwang unsere Ent- scheidung iiber ihr Vorhandensein nicht beeinflussen darf. Das hiefie, die durch den Zufall beherrschten rohen Erfahrungen des taglichen Lebens zum Richter in einer Streitfrage machen, fiir deren LOsung von beiden einander gegeniiberstehenden Seiten denn doch auch wissenschaftlich verfeinerte Erfahrungen bei- gebracht werden kOnnen. Oft hat ein solcher psychischer Zwang der Anerkennung unzweifelhafter Wahrheiten lebhaften Widerstand geleistet; so in der Frage nach der Existenz von Antipoden, nach der Bewegung der Erde und in vielen anderen. In diesen Fallen war der psychische Zwang nicht minder stark, wie in dem unsrigen, und wie in unserem Falle verdankte auch bei jenen Fragen der irrefuhrende psychische Zwang seine 15* 228 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. Entstehung rohen, zu wenig prazisierten Erfahrungen; ferner der Unkenntnis anderer Erfahrungen, die zu wenig in die Augen fielen. Aus alledem ergibt sich, dafi wir uns von diesem psychischen Zwange nach Moglichkeit freimachen miissen, wenn wir zu einer gerechten Beurteilung der Fernwirkungsfrage gelangen wollen. Befreiend wirkt in dieser Hinsicht die Erinnerung daran, dafi der wahrgenommene Raum subjektiv ist, und dafi das, was wir als Aufienweltsraum bezeichnet haben, von diesem Raume recht verschieden sein mag. Was sich also in den Sinnesraumen als ein voneinander raumlich Getrenntsein darstellt, mag im Aufien- weltsraum ein Unterschied, ein Getrenntsein ganz anderen Charakters sein. Und wenn uns eingewurzelte, aber unscharfe und luckenhafte Erfahrungen das Oberspringen von Entfernungen im Wahrnehmungsraume unbegreiflich und damit schliefilich un- glaublich erscheinen lassen, so verschwindet der sich hierin aussprechende pspchische Zwang bei der Vorstellung, dafi die wahrgenommenen Entfernungen subjektiv sind und daB ihnen objektiv Unterschiede ganz anderer Art entsprechen konnen. Durch diese fAusfuhrungen soil nichts geschehen, als ein Vorurteil beseitigt werden. Die Entscheidung iiber die Frage nach der Existenz von Fernwirkungen ist nun unter Beruck- sichtigung aller erreichbaren und hinreichend scharfen Erfahrungen zu versuchen. Und es scheint zunachst die Sache der Ver- teidiger der Fernwirkungen gunstig zu stehen. Denn die Gravitation tritt uns als eine Fernwirkung grofiten Stiles entgegen. Seit New tons Tagen bis heute sind keine Erfahrungen beigebracht worden, die den Charakter der Gravitation als einer Fernwirkung im mindesten auch nur hatten erschiittern kOnnen. Alle Angriffe auf sie haben nicht den schwachsten Ruckhalt an exaktem Be- obachten; sie stellen sich als Hypothesenbildungen dar, die lediglich jenem psychischen Zwang entsprungen sind, der wissenschaftlich so wenig zu bedeuten hat. Von diesem Vor- wurf kann man nur bedingungsweise die schon angedeutete elektrische Theorie der Gravitation freisprechen. Bei dieser kommen in der Tat auch andere Griinde in Betracht. Newtons ForschergrGfie bewahrte sich in der Vorsicht, mit der er die Frage nach dem Fernwirkungscharakter der IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 229 Gravitation unentschieden lieB. Seine Zeitgenossen und Nach- folger waren schneller mit ihrer Stellungnahme fertig. Es blieb bei der Verwerfung der Fernwirkungen, bei der Zurtickfuhrung alles Wirkens auf Druck und StoB. Diese Zuriickfuhrung blieb wenigstens als Ideal, obwohl dies stets recht weit von der Er- fiillung entfernt bleiben muBte. Betrachten wir das Ideal dieser mechanischen Naturauffassung einmal naher, so haben wir zu untersuchen, was Druck und StoB eigentlich sind. Freilich stellen sich beide zunachst als Vorgange dar, die sich unter Beriihrung abspielen. Wenn ein Ko'rper einen zweiten stOBt, so bewegt er sich auf ihn zu, beruhrt inn, und dann bewegen sich entweder beide Korper oder nur einer von ihnen. Dabei bleibt die Beruhrung bestehen, wenn es sich um den StoB unelastischer Korper handelt; sie geht verloren beim StoBe elastischer KOrper. Wie geht nun die Bewegungsuber- tragung beim StoB vor sich? Die beiden einander treffenden Ko'rper werden deformiert. Diese Deformation bedeutet eine Verschiebung der Molekel aus ihrer fruheren Gleichgewichts- lage. Beim elastischen StoB kehren die Molekel wieder in diese Gleichgewichtslage zurtick, beim un elastischen nicht. Indessen gibt es keine vollkommen unelastischen Ko'rper. Auch miiBten, wenn alle Bewegungsubertragungen im Grunde durch un- elastischen StoB, durch Schieben zustande kamen, schlieBlich alle Massenteilchen sich zu einem Ganzen zusammenballen. Be- trachten wir also eine Deformation, die innerhalb der Elastizitats- grenze bleibt. Diese kann nach den Voraussetzungen der Molekulartheorie nur in einer Verschiebung, zum grOBeren Teil beim StoB aber nur in einer AnnSherung der Molekel bestehen. Dieser Deformation, dieser Verschiebung und Annaherung der Molekule widersetzt sich eine Kraft, die nach dem StoB die Deformation ruckgangig macht. Damit eine Annaherung der Teilchen mOglich war, muBten diese voneinander entfernt sein. Die Kraft, die sich der Annaherung der Molekel widersetzte, muBte demnach eine Fernkraft sein und zwar eine abstoBende. Betrachten wir aber die Molekel, die durch die Deformation voneinander entfernt, etwa durch den StoB zur Seite gequetscht wurden, so ergibt sich, daB sie wahrend der Deformation von- einander entfernt waren, selbst wenn sie vorher einander beruhrt 230 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. batten. Die Wirkung, die an diesen Stellen der Deformation entgegenstrebt, sie riickgangig macht, ist also hier eine Anziehung auf Entfernung. Allgemeiner ausgedruckt fiihrt die Molekularmechanik die Erscheinungen bei Druck und StoB zuriick auf anziehende und abstoBende Krafte, die zwischen. den Molekeln iiber die diese trennende Entfernung hinweg wirken. DaB aber zwischen den Molekulen Entfernungen bestehen, geht daraus hervor, daB derselbe Kb'rper je nach dem Druck, der auf ihn wirkt, je nach seiner Temperatur usw. gro'Ber und kleiner wird, obgleich seine Molekel, in anderen Fallen wenigstens seine Atome, stets das gleiche Volum behalten. Nach der wohlbegrundeten Auffassung der Physik sind also die Grundwirkungen der alten mechanischen Naturauffassung, Druck und StoB, Vorgange, welche auf Anziehungen und Ab- stoBungen beruhen, die sich zum mindesten vorlaufig als Fern- wirkungen ergeben. Wenn also z. B. Le Sage die Gravitation auf den StoB seiner ,,ultramundanen" Korperchen zuruckfuhrte, die durch den Weltraum schwirrten und die einander zugekehrten Seiten zweier Weltkb'rper weniger trafen, weil diese sich gegen- seitig schiitzten, so war damit nur die Wirkung auf groBe Ent- fernungen durch die iiber kleinere Abstande hinweg ersetzt. Damit ist im Prinzip wenig gewonnen. Denn wenn die Fernwirkung an sich unglaublich ware, so mtiBte es belanglos sein, ob es sich urn groBe oder kleine Entfernungen handelt. Die kinetisch - elastische Weltauffassung muBte nach dem Erorterten wenig Gliick haben mit ihrem Ideal einer Beseitigung aller Fernwirkungen. Es gelang ihr hOchstens, die Fernwirkungen auf groBe Distanzen durch solche auf sehr kleine Abstande zu ersetzen. Und selbst die einfachsten Wirkungen, die scheinbar direkte Beriihrung erforderten, lOsten sich bei genauer Be- trachtung in Fernwirkungen auf molekulare Abstande hin auf. Sprach alles dies sehr zugunsten der Fernwirkungen, so zeugte mehr zu ihren Ungunsten die Entdeckung, daB sich die elektrisch - magnetischen Wirkungen nicht zeitlos, sondern mit einer endlichen, wenn auch groBen Geschwindigkeit, mit 300000 km in der Sekunde, durch den von aller greifbaren Materie entleerten Raum fortpflanzen. Die elektrisch-magnetischen IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 231 Wirkungen stellten sich neben den Erscheinungen der Gravitation zunachst als Fernwirkungen par excellence dar. Nun wurde gezeigt, dafi die scheinbaren Fernwirkungen eineEigenschafthaben, die man bisher nur bei durch materiellen Kontakt vermittelten Wirkungen kannte, dafi sie sich zeitlich fortpflanzen, wie der Schall in Gasen, fliissigen und festen KOrpern. Da man an- genommen hatte, die Fernwirkungen erforderten keine Zeit zum Uberspringen der Distanzen, mufite die Entdeckung befreiend alien denen erscheinen, die die Fernwirkungen als etwas Mpsterioses, aus der Wissenschaft zu Eliminierendes ansahen. Wir haben schon den Versuch einer elektrischen Erklarung der Gravitation mehrfach erwahnt und ausgefuhrt, dafi eine Zuriickfiihrung der allgemeinen Massenanziehung auf elektrische Kra'fte eine Ausbreitung derselben mit endlicher Geschwindigkeit voraussetzt. Der Nachweis dieser zeitlichen Fortpflanzung von Gravitationswirkungen wiirde eine glanzende Verifikation der kinetisch- elektrischen Naturauffassung sein. Bisher ist er aller- dings noch nicht gelungen. Wiirde er aber gelingen, so ware damit fur die scheinbar so schlagenden Falle von groBen Fern- wirkungen der Beweis der zeitlichen Ausbreitung erbracht. Und auch alle die kleinen scheinbaren Fernwirkungen zwischen Molekulen, Atomen und Elektronen miissen sich zeitlich fort- pflanzen, wenn jene Hppothese zutrifft, nach der alle Kra'fte im Grunde elektrische sind, von den Elektronen als den Bausteinen der Materie ausgeiibt werden. Nun ist aber zu betonen, dafi mit dem Nachweis der zeit- lichen Ausbreitung der Fernwirkungscharakter einer Naturer- scheinung durchaus nicht als widerlegt anzusehen ist. Die zeitlose Fortpflanzung wurde zwar sehr gegen die Annahme der materiellen Vermittlung einer scheinbaren Fernkraft sprechen, weil wir iiberall sehen, dafi solche Vermittlungen Zeit erfordern oder, wie wir auch sagen kftnnen, weil wir keine inkompressiblen Ko'rper kennen. Aber umgekehrt spricht der Nachweis der zeit- lichen Ausbreitung nicht so sehr gegen den Fernwirkungscharakter, denn es ist durchaus nicht unverstandlich, dafi eine Wirkung zum Oberschreiten eines wenn auch leeren Raumes eine entspechende Zeit gebraucht. Der Sachverhalt ist also der, dafi eine zeitlose Ausbreitung sehr fiir eine Fernwirkung sprechen wiirde, dafi der 232 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. Nachweis einer zeitlichen Ausbreitung zwar die Annahme einer echten Fernwirkung einer starken Stiitze beraubt und die einer materiellen Vermittlung moglich macht; aber eine Entscheidung wird durch diesen Nachweis noch nicht herbeigefiihrt. Vielmehr bleibt die MOglichkeit zu beriicksichtigen, daB auch echte Fern- wirkungen sich zeitlich, mit endlicher Geschwindigkeit fortpflanzen. Wenn wir weiteres Material zur Untersuchung der Fern- wirkungsfrage beibringen wollen, so liegt es nahe, nach dem Etwas zu suchen, das die materielle Vermittlung der scheinbaren Distanzwirkungen, sagen wir der Elektronen, ubernehmen konnte. Die Luft oder ein anderer chemisch bekannter Stoff kann nicht der Ubertrager dieser Wirkungen sein; denn diese gehen auch im luftleeren Raume vor sich. Es ist bekannt, dafi die materielle Vermittlung der elektrischen Wirkungen einer wesentlich von alien anderen bekannten Stoff en verschiedenen Substanz, dem so- genannten Weltather, aufgebiirdet wird. Die Frage nach der Vermittlung der scheinbaren Fernwirkungen ha'ngt aufs engste mit der Atherfrage zusammen. Gibt es von weiteren Erfahrungen ableitbare Griinde, die fur die Existenz des Weltathers sprechen, so ist damit die Moglich- keit einer Vermittlung der Fernwirkungen wieder etwas wahr- scheinlicher geworden, wenn auch die Existenz des Athers noch keine vollstandige Entscheidung geben wiirde. Nun scheint es aber leicht, zu zeigen, daB es keine anderen Griinde fiir die Annahme eines Athers geben kann, als die, welche ihn zur Vermittlung der scheinbaren Fernwirkungen fordern. Denn nach der von uns besprochenen Hypothese des Aufbaues der greif- baren Materie aus Elektronen gibt es iiberhaupt keine anderen Wirkungen als die zum mindesten scheinbaren Fernwirkungen zwischen diesen winzigen Elektrizitatsquanten. Auf die Wir- kungen elektrisch-magnetischen Charakters sind demnach fiir den Anhanger der kinetisch-elektrischen Naturauffassung alle anderen Erscheinungen zuriickzufiihren. Fordern diese elektrisch-mag- netischen Wirkungen nicht den Ather als vermittelndes Medium, so bleibt nichts iibrig, aus dem er erschlossen werden konnte, da es ja fur den Blick des Forschers nichts anderes gibt, als die Elektronen mit diesen einzigen Wirkungen. Ubrigens findet auch jene Naturauffassung, die beim Atom IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 233 stehen bleibt, fiir die Annahme des Athers keine weitere Stiitze. Auch sie fordert den Ather nur deshalb, weil sie die Fernwirkungen verwirft. Er muB auch nach dieser Auffassung die Wirkungen zwischen den Elementen der greifbaren Materie vermitteln. Es zeigt sich namlich, daB dem Ather Eigenschaften zu- geschrieben werden miissen, die andere Wirkungen unmo'glich machen. Der Ather erweist sich als ungreifbar, als vOllig durch- dringlich fiir die ponderable Materie. Man kann nicht den ge- ringsten Widerstand bei der Bewegung der Materie durch den Ather hindurch konstatieren. Die Bewegung durch den Ather geschieht ohne Reibung. Aber bewegte Materie, oder, wenn man will, bewegte Elektronen rufen auch keine nachweisbare Bewegung oder StrOmung des Athers hervor. Wurde der Ather durch die durch ihn hindurcheilenden Teilchen verdrangt, so miiBten dabei Strftmungen entstehen, wie dies in Wasser oder Luft der Fall ist. Durch solche StrOmungen miiBten die vom Ather vermittelten Wirkungen, wie das Licht, in ihrer Ausbreitung beschleunigt oder verzo'gert werden; wir sehen ja, wie in ent- sprechender Weise LuftstrSmungen die Fortpflanzungsgeschwin- digkeit des Schalles vera'ndern. MiBt man aber die Lichtgeschwin- digkeit in der Na'he schnell bewegter Massen, so zeigt sie sich auch bei den feinsten Beobachtungsmethoden vOllig unverandert. Auch auf keinem anderen Wege gelingt es, feststellbare Be- wegungen des Athers zu erzeugen. Die Korper gehen eben durch den Ather hindurch, wie durch einen vOllig substanzlosen Raum. Der Ather erweist sich dabei als unbeweglich. Er unter- scheidet sich in dieser Hinsicht nicht vom absoluten Nichts. Die Unbeweglichkeit des Athers ist verstandlich nur unter zwei Voraussetzungen. Entweder sind die letzten Elemente der greifbaren ausgedehnten Materie selbst ohne Ausdehnung, d. h. mathematische Punkte. (Sie ko'nnten auch noch allenfalls mathe- matische Linien sein.) Dann versteht sich yon selbst, daB Bewegungen dieser Punkte nicht unbedingt Atherbewegungen zur Folge zu haben brauchen. Oder die letzten Elemente sind zwar ausgedehnt, aber in ihrem Innern existiert der Ather in derselben Weise und Beschaffenheit, wie auBerhalb. Die letzten Teilchen der greifbaren Substanzen sind ganz von Ather durch- setzt und fiir ihn vollig durchdringlich. Sie gehen durch den 234 IX- Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. Ather oder der Ather durch sie hindurch, wie durch absolute Leere. Indessen ist die Vorstellung der Durchdringung der Elemente der Materie durch den Ather dem an die Undurchdringlichkeit der chemischen Stoffe gewo'hnten Naturwissenschaftler nicht gerade leicht. Wir miissen allerdings die prinzipielle Zulassig- keit der Annahme zugeben, dafi jene Qualitaten, die den Ather bilden, und jene anderen, die die Strukturelemente der greifbaren Materie bilden, denselben Raum erfiillen. Aber es ist leicht verstandlich, daft der Phpsiker die offene Anerkennung der Durchdringlichkeit zu umgehen sucht. Und das geschieht etwa in der Weise, dafi man die Strukturelemente der greifbaren Stoffe als modifizierte Stellen im Ather auffafit — seien diese Stellen nun ausgedehnt oder mathematisch punktformig. Diese modifizierten Stellen im Ather sind dann als unzerstorbare In- dividuen zu betrachten. Die Modifikation des Athers konnte entweder eine Anderung seiner Struktur oder aber seiner Qua- lita't sein. Die von der Wissenschaft verarbeiteten Erfahrungen lassen keine Entscheidung zwischen alien diesen Mb'glichkeiten zu. Vielleicht wird eine Beantwortung solcher Fragen nie mo'glich sein. Deshalb erscheint uns eine gelegentliche Vergegenwarti- gung der MOglichkeiten doch nicht ganz zwecklos, wenn wir auch weit entfernt sind, sie zu iiberschatzen. Auch in diesem Falle ist es die Ansicht des Verfassers, dafi sich das wissen- schaftliche Denken verhalten sollte wie das des taglichen Lebens. Wo es im Leben nicht gelingt, eine Wahrscheinlichkeit zu ge- winnen, da uberlegen wir alle wenigstens die Moglichkeiten, und wir richten unser Verhalten nach diesen ein, soweit es angemv Die Wissenschaft sollte es nicht anders machen, hat es auch stets ebenso gemacht. Auch eine vollstandige Aufstellung der mftglichen Antworten auf eine Frage gewahrt schon eine intellek- tuelle Befriedigung, wo eine Entscheidung iiber die Wahrschein- lichkeit nicht erreichbar ist. Wie dem auch sein mag, jedenfalls entzieht sich uns der Ather durch seine Unbeweglichkeit, Durchdringlichkeit, Ungreif- barkeit vollig, soweit er nicht die Vermittlung der scheinbaren Fernwirkungen iibernimmt. Wir hatten also dabed zu bleiben> IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 235 dafi die einzige schwache Stiitze des Athers in der zeitlichen Fortpflanzung der unbeliebten Fernwirkungen bestehf. An die Unbeweglichkeit des Athers haben wir noch eine weitere Betrachtung anzukniipfen. Sollte diese eine absolute sein, so wiirde sich daraus ergeben, dafi die vom Ather fortge- pflanzten Wirkungen in ihm nicht in Bewegungen, Ortsanderungen bestehen ko'nnen. Sie kOnnten demnach nur in Qualitatsande- rungen bestehen, die sich durch den Ather fortpflanzten. Da- mit ware die kinetische Naturauffassung an dieser Stelle durch- brochen. Nun erscheint uns allerdings die kinetische Naturauffassung nicht als ein notwendiges Postulat unseres Geistes. Wir halten auf Grund der Selbstbeobachtung Anderungen der die Aufien- welt bildenden Qualitaten fur sehr wohl mOglich, ja sogar fiir wahrscheinlich. Indessen zeigten sich uns auf der Grundlage der Erfahrung bisher alle Naturvorgange als Bewegungen, als Orts- veranderungen, wobei allerdings die MOglichkeit von mit diesen verbundenen Qualitatsveranderungen offen blieb. Nur konnten wir die letzteren vermoge der Natur des Erkenntnisprozesses nicht feststellen. Die kinetische Naturauffassung ist uns eine durchaus der Erfahrung entnommene Hppothese, freilich, oder sagen wir natiirlich aber auch mitbedingt durch das Wesen unseres Erkennens der die Erfahrung bildenden Vorgange. Viel- leicht wa'ren nun in der Tat im Ather Qualitatsanderungen, nicht aber Bewegungsanderungen feststellbar. Es bleibt indessen auch die MOglichkeit von Bewegungen im Ather bestehen, die die Fernwirkungen fortpflanzen. Die oben angefiihrten Beobach- tungsresultate sprechen nur gegen Bewegungen des Athers iiber groBere Strecken hin, wie sie entstehen mufiten, wenn bewegte greifbare Materie und Ather undurchdringlich fiireinander waren. Sehr kleine, etwa rotatorische Bewegungen im Ather sind durch jene experimentellen Ergebnisse durchaus nicht ausgeschlossen. Und wenn man einmal den vermittelnden Ather anerkennen will, so wird man doch geneigt sein, seine Vermittlung als einen Bewe- gungsvorgang aufzufassen, da ja doch am Anfang und am Ende der Vermittlung Bewegungen stehen. Ist ja doch das Wirkende und das in der Feme Bewirkte eine Bewegung. Man wird da- her auch den Vermittlungsvorgang im Ather eher als einen Be- 236 IX- Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. wegungsvorgang auffassen, als an dieser Stelle die kinetische Naturauffassung durchbrechen wollen. Sehen wir doch uberall, wie Bewegungsvorgange die Obermittler von Bewegungswir- kungen sind. Die Vermittlung von Bewegungen solcher Art, wie sie durch die elektrisch-magnetischen Fernwirkungen gefordert werden, ist nun nicht ganz einfach. Bei der Annahme eines ganz homo- genen, strukturlosen Athers steht man der Frage nach der Art der Bewegungen im Ather ziemlich ratios gegeniiber. Aber diese Auffassung mufi auch so als fernerliegend angesehen werden, da sich alle greifbaren Stoffe als durchaus unhomogen erweisen. Greift man daher zur Annahme, daB der Ather eine Struktur hat, so handelt es sich darum, eine solche ausfindig zu machen, die den Ather als Trager der elektrisch-magnetischen Wirkungen geeignet erscheinen lafit. Das Problem der Atherstruktur ist aber als ungelb'st zu bezeichnen. Wohl gibt es Modelle, die diese oder jene Eigenschaft des Athers in stark vereinfachter Weise, unter den geringsten Komplikationen, nachahmen. Anderen Eigenschaften und den weniger einfachen Verhaltnissen der Wirklichkeit gegeniiber versagen diese Modelle aber vollstandig. Sie ko'nnen daher nicht Grundlagen zu wahrscheinlichen Hypo- thesen abgeben, so instruktiv ihre Betrachtung sein mag. Auch greifen sie zu vOllig unmo'glichen Annahmen, wie starren und elastischen Kugeln im Ather. Vollkommen starre Korper kennt die Physik iiberhaupt nicht. Die Elastizitat aber setzt, wie schon auseinandergesetzt wurde, Strukturelemente und Fern- krafte zwischen diesen voraus. Wenn also femand solchen Mo- dellen auch nur eine ganz entfernte Ahnlichkeit mit einer wirk- lichen Atherstruktur zuschreiben wollte, so gelangte er wieder von den Fernkraften auf grofie Abstande zu denen, die nur tiber kleinste Distanzen hinaus wirken. Wie eine prinzipielle Be- seitigung der Fernwirkungen mftglich sein soil, ist auch hier nicht zu ersehen. Indessen legt vorderhand wohl niemand solchen Ather- modellen einen anderen als rein fiktiven Wert bei. Erwahnung yerdient noch jene Ofters aufgetretene Auffassung, nach der der Ather aus Elektronenpaaren aufgebaut ware. Verbindungen eines IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 237 negativen und eines positiven Elektrons bilden gleichsam die Molekiile des Athers. Wir gedachten schon jenes hypothetischen Versuches, aus einem Meer bewegter Elektronenpaare die greif- bar materielle Welt mit alien ihren Stoffen entstehen zu lassen. Aber auch hier ist nicht einzusehen, wie die kleinen Fern- wirkungen von Elektronenpaar zu Paar entbehrt, auf Kontakt- wirkungen reduziert werden kOnnten. Vielmehr bleiben die ersteren auch hier anzunehmen. Der Ather erweist sich demnach vorlaufig nicht als geeignet, die Fernwirkungen zu beseitigen. Seine Anerkennung vermag hftchstens eine Zuruckfiihrung der grofien Fernwirkungen auf jene kleinsten zu leisten, die sich in der noch vOllig dunklen Struktur des Athers abzuspielen hatten. Wie aber diese Zurtick- fuhrung zustande kommen soil, davon ist bisher nichts bekannt, davon vermogen nur grobe Modelle eine schwache Ahnung zu geben. Vielleicht wird aber manchem unter den waltenden Um- standen jene Zuruckfiihrung iiberhaupt iiberflussig erscheinen. Wenn es doch einmal Fernkrafte geben muB, warum sollen sie da nicht auf grofie Abstande wirken? Die Bereehtigung dieses Standpunktes soil nicht bestritten werden. Die Atherannahme fallt. Es bleiben die Elektronen mit ihren Fernwirkungen1). Vielfach heben sich die Wirkungen auf grofiere Entfernungen hin auf. Wo sie sich aber in geeigneter Weise summieren, treten die grofien Fernwirkungserscheinungen der Elektrizitat, des Magnetismus, der Gravitation, wir diirfen hinzu- fiigen des Lichtes und der strahlenden Warme usw. auf. Denn auch das Licht ist von diesem Standpunkte aus sehr gut als Fernwirkung aufzufassen. Die schwingenden Elektronen des leuchtenden KCrpers wirken auf die des beleuchteten in die Feme, rufen so Fluoreszenz, Phosphoreszenz, chemische oder physio- logische Wirkungen usw. hervor. Wird der Lichtstrahl beim J) Der Standpunkt erinnert an die Helmholtzsche Auffassung: ,,E& bestimmt sich also endlich die Aufgabe der physikalischen Naturwissen- schaften dahin, die Naturerscheinungen zuruckzufiihren auf unvera'nderliche anziehende und abstoBende Kra'fte, deren IntensitSt von der Entfernung ab- hangt. Die Losung dieser Aufgabe ist zugleich die Bedingung der voll- standigen Begreiflichkeit der Natur." Erhaltung der Kraft. Berlin 1847, S. 6. 238 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. Durchgang durch einen Ko'rper irgendwie beeinflufit, so heifit das nichts anderes, als dafi zu der Wirkung des leuchtenden Korpers die der Elektronen des neuen Ko'rpers modifizierend hinzutritt. Wo aber keine greifbare Materie ist, da existiert auch kein Licht; der Lichtstrahl im leeren Raum ist eine mathematische Fiktion, ohne Realitat in der Aufienwelt. Man wende nicht ein, der Strahl sei ja doch uberall nachweisbar; man brauche nur das Auge oder irgendeinen auf Licht chemisch oder sonstwie reagierenden Ko'rper in den Weg des Strahles zu bringen. Dann beweise er sofort seine Existenz durch seine Wirkungen. Nein, wenn wir einen irgendwie auf Licht reagierenden Ko'rper in den Lichtstrahl bringen, so heifit das nichts anderes, als dafi wir diesen Ko'rper unter solche Bedingungen, in eine solche Lage zu dem leuchtenden Ko'rper bringen, dafi dieser auf ihn seine Licht zu nennende Fernwirkung ungesto'rt ausiiben kann. Eben- sowenig, wie es reale Lichtstrahlen gibt, gibt es reale Rontgen- strahlen; wohl aber gibt es reale Ro'ntgenwirkungen, und dies sind die Fernwirkungen, die von plo'tzlich stark ihre Gesehwindig- keit andernden Elektronen herriihren. Vielleicht wird man meinen, die reale Existenz der verschiedenen Strahlenwellen werde durch die Erfahrung bewiesen, dafi diese Strahlen sich abblenden lassen, dafi ihnen der Weg gesperrt werden kann. Denn die Fern- wirkung brauche sich nicht um Hindernisse auf ihrem Wege zu kiimmern. Doch erklart sich jenes scheinbare Hindernis, die Absorption der Strahlenwellen, von dem in Frage stehenden Standpunkt leicht. Der ,,strahlende" Ko'rper ruft in dem ab- sperrenden, absorbierenden Fernwirkungen hervor. Diese sind zuletzt Elektronenbewegungen. Die ursprunglichen und die so entstandenen Elektronenbewegungen wirken zusammen auf jenen Kb'rper, Elektronenkomplex, der vor der ,,Strahlung" durch den absorbierenden Ko'rper mehr oder weniger geschutzt wird. Die Wirkungen heben sich eben teilweise oder vOllig auf. Sie inter- ferieren. Die Erscheinung des ,,Schattens", des Absperrens der ^Strahlenwellen" beruht also darauf, dafi hinter dem schatten- spendenden Korper sich die Wirkungen aufheben, die von dem strahlenden Ko'rper direkt ausgehen, und die indirekt durch Ver- mittlung des absorbierenden KOrpers von ihm erzeugt werden. Ist doch auch nach der Atherwellentheorie der Schatten nichts IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 239 anderes, als die Aufhebung jener Wellenziige durch Interferenz, die um den schattengebenden Kb'rper herumbiegen. Wir betrachten die zuletzt besprochene Auffassung des Naturgeschehens, die auch den Strahlungspha'nomenen in ein- facher Weise gerecht wird, als durchaus nicht unwahrscheinlich. Sie bleibt bei den Elektronen und ihren sich zeitlich fortpflanzen- den Fernwirkungen stehen. Sie fafit diese Fernwirkungen nicht als scheinbar, sondern als echt auf. Aber es bleibt auch die entgegenstehende Hypothese mo'g- lich, die einen Ather als Vermittler der Fernwirkungen annimmt. Dafi auf diesem Wege nur die Fernwirkungen auf grofie Strecken durch solche auf kleine Abstande ersetzt und erklart werden, spricht nicht unbedingt gegen die Atherannahme. Wie die sicht- bar grofien K5rper eine feinere und feinere Struktur aufwiesen, so erweisen sich vielleicht dereinst die sichtbar grofien Fern- wirkungen auch zusammengesetzt, als Resultat immer feinerer Fernwirkungen. Und wie vielleicht die erreichbar kleinsten Teilchen beim Fortschritt der Wissenschaft wieder in weit winzigere Elemente zerfallen, so nimmt mOglicherweise auch der Reduktions- prozefi der Fernwirkungen auf immer kleinere, weniger weit wirkende Fernwirkungen kein Ende. Vielleicht werden unsere elementarsten Fernwirkungen, die der einzelnen Elektronen auf- einander, dereinst zuruckgefiihrt auf, und erkla*rt durch noch weiter zuriickliegende Wirkungen weit kleinerer Teilchen. Alles das sind MOglichkeiten, die wohl verdienen, einmal betrachtet zu werden, bei denen jedoch der exakte Forscher nicht zu lange verweilen wird. Denn das von der Wissenschaft gewonnene Erfahrungsmaterial gestattet keine Entscheidung zwischen ihnen. Es scheint dem Verfasser, als ob die Chancen der Ather- hypothese einst giinstiger gestanden hatten als heute. Wir meinen, dafi der Nachweis der wesentlichen Identitat von elektrischen und optischen Erscheinungen und der zeitlichen Fortpflanzung der elektrisch-magnetischen Wirkungen die Annahme eines Athers nicht gestiitzt, sondern eher erschuttert hat. Als die Undulations- theorie des Lichtes geschaffen wurde, ergab sich die Ather- hypothese in ganz natiirlicher Weise. Das Licht zeigte mit dem Schalle vo"llig verwandte Erscheinungen. Licht und Schall werden reflektiert, gebrochen, ergeben Interferenzerscheinungen. Daher 240 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. lag nichts naher, als das Licht als eine Strahlung longitudinaler Wellen aufzufassen. Besonders die Interferenzerscheinungen konnten von den Gegnern der Wellentheorie nur in gezwungener Weise durch Haufung von Annahmen erklart werden. Newtons Genie gehorte dazu, die Emissionstheorie auch auf diesem Ge- biete durchzufiihren. Als die durch Newtons Namen ge- schaffene Suggestion nachlieB, muBte die naturlichere Schwingungs- theorie zum Siege kommen. Sie gewann Anerkennung zunachst in der Form, die am nachsten lag, die ihr Hugghens gegeben hatte. Wenn das Licht wie der Schall eine longitudinale Wellen- bewegung ist, so erfordert es wie dieser ein Medium zur Fort- pflanzung in alien den Raumen, durch die es strahlt. Daraus ergibt sich, daB dies Medium nicht die Luft sein kann. Denn das Licht geht ebenso durch luftleere, wie lufterfiillte Raume. Aber es lag doch nahe, das Medium, den Ather als etwas Gas- ahnliches, nur von bedeutend feinerer Beschaffenheit als die be- kannten Case, aufzufassen. Der so unendlich feine Ather mochte den Bewegungen der groben Materie keinen merklichen Wider- stand entgegensetzen. Er konnte durch die Poren auch der dichtesten Stoffe ohne Schwierigkeit hindurchdringen, so dafi er in jeden Raum gelangte, aus keinem entleert werden konnte. Wegen seiner Feinheit entzog er sich der Gravitation ganz oder fast vGllig, so daB er nicht als Atmosphare an die groBen Welt- korper gebunden war. Eine Schwierigkeit bestand in der hohen Fortpflanzungs- geschwindigkeit des Lichtes, die ganz andere Elastizitatsverhalt- nisse voraussetzte, als die bei Gasen beobachteten. Die Entdeckung der Polarisationserscheinungen veranlaBte eine Modifikation der Lichthypothese. Die Polarisationserschei- nungen beweisen, dafi nicht alle durch einen Lichtstrahl gelegten Ebenen das gleiche Verhalten darbieten. Das muB aber bei einer longitudinalen Wellenbewegung der Fall sein. Das Licht kann demnach nicht aus Longitudinal-, sondern nur aus Transversal- wellen bestehen. Die Schwingungen erfolgen nicht in der Rich- tung des Strahles, wie beim Schall, sondern senkrecht dazu. Die Entdeckung der Polarisation des Lichtes gab der Analogic zwischen Licht und Schall einen starken StoB. Ins- besondere verier die Analogic in Bezug auf die fortpflanzenden IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 241 Medien sehr an Strenge. Das Medium des Schalles war in erster Linie die Luft. Transversale Elastizitatswellen setzten aber als fortpflanzende Medien KOrper mit Formelastizita't vor- aus, d. h. feste Korper. Harter Stahl mit seiner bedeutenden Formelastizita't pflanzt Transversalwellen mit groBer Ge- schwindigkeit fort. Nun kann sich allerdings auch der Schall als Transversalwelle in festen KOrpern fortpflanzen. Aber die durch die enorme Lichtgeschwindigkeit bedingten Annahmen machten die Analogic bedenklich. Der Ather mufite Form- elastizita't und zwar ungemein hohe haben, sich wie ein iiberaus fester Korper verhalten. Dabei sollte aber derselbe Ather die ponderablen Korper viel leichter durchlassen und selbst durch die intramolekularen Zwischenra'ume weit bequemer dringen, als das feinste Gas. Durch die Vereinigung von in der Erfahrung so unvereinbaren Eigenschaften erhielt die Atherhypothese etwas Paradoxes, daB man durch schwache Analogien wohl zu ver- ringern suchte. So wies man hin auf das Verhalten von gelatinQsen Substanzen; diese lassen feste grSfiere Ko'rper von genugender Geschwindigkeit durch ihre Masse hindurchdringen. Kleinen, etwa schwingenden Bewegungen gegenuber erweisen sie aber ihre Formelastizita't und pflanzen sie unter Umstanden als Transversalwellen fort. Doch erlautert die Analogic wenig. Solche Substanzen stehen eben zwischen festen und fliissigen KOrpern, und es ist selbstverstandlich, daB ihre Eigenschaften nach beiden Seiten hin vermitteln, daB sie sich in dieser Be- ziehung eher als fliissig, in jener eher als fest erweisen. Ganz anders liegen die Verhaltnisse beim Ather der elastischen Licht- theorie. Er mufite sich in einer Hinsicht als unendlich feines Gas, in anderer Hinsicht als ungemein fester Korper verhalten, die extremsten Eigenschaften verbinden, nicht aber Obergangs- formen dieser Eigenschaften. Die elektromagnetische Lichttheorie beseitigte die Schwierig- keit. Die Schwingungen im Ather, oder sagen wir die perio- dischen Vorgange in ihm sollen nach der neuen Auffassung elektromagnetischer Natur sein. Damit fallen die Anforderungen, die vom Standpunkt der elastischen Lichttheorie an den Ather zu stellen waren. Aber es verliert auch die Analogic mit den akustischen Erscheinungen, und damit der SchluB auf die Be cher, Phllosoph. Voraussetzungen. 16 242 IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. Notwendigkeit eines vermittelnden Mediums sehr an Bedeutung. Die Schallphanomene zeigen, daB elastische Schwingungen zur Obertragung und Fortpflanzung einen Stoff erfordern. Der Schlufi, daB daher auch elektromagnetische Oszillationen eines fortpflanzenden Mediums bediirfen, wird uns nicht zwingend erscheinen. Lassen sich die elektrisch - magnetischen Fern- wirkungen in der Tat als echt auffassen, so gilt dies auch von dem speziellen Falle der elektromagnetischen Oszillationen und ihren Fernwirkungen, vom Lichte usw. Daran kann die Analogic mit den elastischen Schwingungen des Schalles kaum etwas a'ndern. Wenn auf der einen Seite die neuen Auffassungen iiber Licht und Elektrizitat der Annahme der Fernwirkungen eine Erschutterung beigebracht haben durch den Nachweis der zeit- lichen Fortpflanzung elektrisch - magnetischer Wirkungen, so haben sie andererseits auch der Atherhypothese einen argen StoB erteilt. Denn sie haben die nahe Analogic zwischen Licht und Schall, die natiirlichste Grundlage der Atherannahme, zer- stOrt. Diese Analogic schien dem Verfasser die Atherhypothese aber weit kraftiger zu stiitzen, als es der Nachweis jener zeit- lichen Ausbreitung vermag. Denn die letztere ist nach der er- Orterten Auffassung durchaus kein Beweis einer materiellen Vermittlung der Fernwirkungen. Der Vollstandigkeit zu Liebe mogen noch die Versuche er- wahnt werden, den Ather im periodischen System unterzu- bringen, bezw. aus diesem System ihn zu erschliefien und Auf- klarungen iiber seine Eigenschaften zu gewinnen. Leider sind diese bisher wenig entwickelt worden, auch in hohem Grade hypothetisch. Sie bleiben aber sehr interessant. Abschliefiend glauben wir sagen zu miissen, daB heute die Atherhypothese nur als eine MOglichkeit erscheint, der keine allzu hohe Wahrscheinliehkeit zukommt. Daneben scheint uns die MOglichkeit von zeitlich sich fortpflanzenden Fernkraften, ohne die Annahme eines vermittelnden Athers, durchaus be- achtenswert. Mit dieser Nebeneinanderstellung von Moglichkeiten wollen wir schlieBen, eingedenk unserer Maxime, dort, wo Wahrheit unerreichbar ist, Wahrscheinliehkeit zu erstreben, wo diese aber IX. Kinetisch-elastische und kinetisch-elektrische Auffassung usw. 243 nicht einmal gewonnen warden kann, geistige Befriedigung in der Betrachtung der Mo'glichkeiten zu suchen. Ober die auf diesen Seiten dargestellten Hppothesen mag die Naturwissen- schaft der Zukunft entscheiden; der Gegenwart aber soil das umstrittene Recht erhalten bleiben, iiber die engen Grenzen der Wahrheit hinaus Betatigung und Befriedigung geistiger Krafte und Triebe im weiten Lande der Wahrscheinlichkeiten, ja der Mo'glichkeiten zu suchen. 16* Namen-Register. Abraham 197, 222, 223. Ampere 221. Aristoteles 37. Arrhenius 220. AschkinaB 171. Becher, S. 97. Berkeley 84, 115. Berzelius 192. Black 3, 132, 133. Boltzmann V, 151, 181. Bose 172. Boyle 2, 215, 216. Briot 167. Brown 178, 214. Bucherer 169. Cartesius s. Descartes. Cartesianer 2. Cauchy 166, 167,168,169. Cavendish 164. Clausius 220. Comte 5, 26, 28—34, 145. Coriolis 166. Crookes 194. Curie 201. Dalton 190, 191. Demokrit 150. Descartes 1,2,42,85,151. Des Coudres 195. Dessau 210. Dewars 201. Drude 170. Du Bois 172. Elster 220. Erdmann, B. V, 23, 39, 97, 100. Faraday 3, 194, 195, 199. Fechner 143. Fermat 1. Fichte 115. Franklin 218. Freytag V. Galilei 1, 42. Garbasso 172. Gay-Lussac 2, 216. Geitel 220. Giordano Bruno 60. Goethe 4, 5. Goldstein 199. Coup 178. Hartmann, E. v. 85. Hegel 60. Helm 7. Helmholtz V, 3, 167, 169, 170, 194, 199, 237. Hertz, H. 12, 149, 170, 171, 172, 187, 206, 217. Hermans 15, 32. Hobbes 2. Holtzmann 167. Hume 40, 41, 99, 113. Huyghens 2, 145, 146, 240. Kant 41, 65, 107,109,113. Karneades 20. Kaufmann, W. V, 169, 196, 1 97 223. Kayser, H! V, 169, 204. Ketteler 167, 169. Lampa 171. Laplace 6. Lebedew 171. Lecher 171, 172. Leibniz 2, 23, 154, 182. Lenz 198. Le Sage 230. Leukipp 150. Locke 42, 52, 122. Lorentz, H. A. 151, 169, 170. Loschmidt 178. Mach 6, 12, 37, 53, 55, 91—94, 138, 156. Mariotte 215, 216. Maskelyne 164. Maxwell 169, 170, 171, 174, 178, 206. Mayer, R. 7. Mayer 203. Mendelejeff 193. Meyer, L. 153, 193. Mie 160, 163, 169, 179,184. Mill 28, 32—34, 61, 80, 97, 99, Nernst 151. Neumann 167. Newton 2, 4,34, 160, 164, 165, 228, 240. Nichols 172. Nicolaus v. Cusa 60. Oberbeck 162. Ostwald 7, 31, 32, 138, 145, 147. Perrin 195. Plateau 161. Poincare 170. Polis 193. Prout 153, 192. Rayleigh 178, 179. Redtenbacher 167. Reinold 161. Riecke 169, 176. Righi 171, 210. Rubens 171, 172. Riicker 161. Runge 204. Savart 137. Schmidt, G. C. 169. Schopenhauer 5, 85. Sellmeier 167. Siedentopf 178. Snyder 210. Spinoza 2. Stallo V, 4, 7, 28, 153, 167, 168, 214. Stas 192. Stevin 1. Stoney 4, 198. Thomson, J. J. 153, 205, 205. Thomson, W. 161, 162, 164—168, 178, 179, 181. Topler 148. Tyndall 178. Van der Waals 180, 187. Weber 4, 193. Wheatstone 179. Wiechert 195. Zeeman 169,170, 198,199, 217. Zsigmondy 178. RETURN CIRCULATION DEPARTMENT TO— ^ 202 Main Library LOAN PERIOD 1 HOME USE 2 3 4 5 6 ALL BOOKS MAY BE RECALLED AFTER 7 DAYS DUE AS STAMPED BELOW TO DISC wi 50 UNIVERSITY OF CALIFORNIA, BERKELEY FORM NO. DD6, 60m, 1/83 BERKELEY, CA 94720 Llosophishhe voraus- '•-zungen der 20' 12 Ad sins U.C. BERKELEY LIBRARIf